KAPITEL 6

ADDY

TAG 4: DI, 10:00 UHR,

SÜDÖSTLICH VON BIRMINGHAM, ENGLAND

Addy schlug die Augen auf. Über ihr war alles grün, Sonnenstrahlen blendeten sie und Vogelgezwitscher war zu hören. Sie schützte ihre Augen mit der Hand, blinzelte und erkannte Kletterpflanzen mit Blättern wie wirres Haar und goldgelben Blütendolden, die das Gebälk eines hohen Gebäudes eingenommen hatten. Ein ganzer Schwarm Vögel schien darin heimisch zu sein, Bienen summten und Schmetterlinge flogen von Blüte zu Blüte. Das zu sehen, kam ihr unwirklich vor. Die Pflanzen waren ihr fremd und die Farben ungewöhnlich kräftig. Es war, als wäre sie in einer fremden Welt aufgewacht, in der alles vertraut und doch ganz anders war.

Ihr Körper fühlte sich schwer an und ihr Schädel brummte. Mühsam richtete sie sich auf, stöhnte und fasste sich an die Schläfen.

Was waren das bloß für Schatten gewesen? Ihr schauderte bei dem Gedanken an die düsteren Gefühle, die sie im Angesicht dieses fremden Wesens übermannt hatten. Sie hatten sich ihr tief in die Seele gefressen und ein Gefühl der Leere hinterlassen.

Addy schaute sich um. Sie saß auf dem kahlen Boden einer stillgelegten Fabrik. Der Beton war rissig und von Moos überwuchert, die hohen Fenster gesprungen und andere exotische Pflanzen hatten die Wände und das Dach eingenommen. So unwirklich das alles im ersten Moment auch auf sie gewirkt hatte, so wahrscheinlich war es doch, dass diese Fabrik noch vor wenigen Tagen in Betrieb und frei von Pflanzen gewesen war. Bevor Terra Mater ihr Werk begonnen hatte.

Nicht weit von Addy saßen Dave, Patti und Jared an einem Lagerfeuer. Sie bemerkten, dass Addy zu sich gekommen war, und beäugten sie argwöhnisch. Von Casimir war weit und breit nichts zu sehen.

Hastig sah Addy sich um und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Was war geschehen, während sie ohnmächtig gewesen war? Hatten sie ihn zurückgelassen? Oder Schlimmeres?

Die anderen flüsterten sich etwas zu und schließlich war es Patti, die aufstand und vorsichtig näher kam. In gebührendem Abstand blieb sie stehen, als wäre Addy eine Gefahr, die sie nicht einschätzen konnte.

»Geht es dir gut?«, fragte sie unterkühlt. »Du bist einfach umgekippt.«

Addy nickte. »Wo …?«

»Draußen«, würgte Patti sie ab. »Er hat uns alles erklärt. Aber glaubhaft klingt das nicht wirklich. Andererseits …« Sie sah sich in der verwahrlosten Halle um.

»Wie lange war ich weg?«, fragte Addy und stand auf. Ihre Knie fühlten sich an wie aus Pudding und noch immer dröhnte ihr der Schädel.

»Zwei Stunden vielleicht?« Patti wirkte noch immer sehr zurückhaltend. Skeptisch sah sie Addy an und deutete dann schließlich mit dem Kinn auf das Lagerfeuer. »Wir haben Fragen.«

Addy nickte und folgte ihr mit einem flauen Gefühl im Magen. Dave war wirklich sauer gewesen, und so wie er nun dasaß, im Lagerfeuer herumstocherte und nicht einmal aufsah, als sie näher kam, glaubte sie nicht, dass sich das geändert hatte.

»Die Soldaten haben wir abgehängt?«, fragte Addy, als sie saß.

Patti nickte, während die anderen schweigend ins Feuer starrten und es mieden, Addy anzusehen.

Auch ihr Blick verlor sich in den Flammen. Sie suchte nach den richtigen Worten, wollte sich entschuldigen und erklären, was sie erlebt hatte. Aber jeder Satz, der ihr in den Sinn kam, schien der falsche Anfang zu sein. Mehrmals öffnete sie den Mund, schloss ihn aber wieder, noch bevor ihr ein Ton über die Lippen kam.

»Du hättest was sagen müssen!«, zischte Dave schließlich. »Fuck, ich bin so pissig wegen dir und dieser ganzen Scheiße hier!« Er warf den Stock, mit dem er in der Asche gestochert hatte, ins Feuer. Wut funkelte in seinen Augen und es kam ihr so vor, als würden die Schatten, die sich auf seinem Gesicht abzeichneten, nicht nur von den Flammen herrühren, sondern ein Eigenleben entwickeln, mit seinen aufbrausenden Gefühlen wachsen und ihn in Dunkelheit hüllen. Sie war überzeugt, sich das einzubilden, und doch machte es ihr Angst.

»Was hätte ich denn sagen sollen?«, verteidigte Addy sich. Sie sah zu Jared, der ihren Blick mied.

Dave sprang auf und raufte sich das Haar. »Irgendwas!«, spuckte er ihr entgegen. »Und vor allem, bevor wir von Soldaten mit Maschinengewehren bedroht werden.« Er wedelte unwirsch mit der Hand.

»Eric hat sich verändert«, warf Patti ein. »Das ist uns allen aufgefallen. Aber wer rechnet schon mit einer dämonischen Besessenheit?«

»Casimir ist kein Dämon. Er ist ein Naturgeist.«

»Wie auch immer«, brummte Dave und begann, auf und ab zu laufen. »Hat er Eric getötet? Wenigstens das könntest du uns sagen. Er war immerhin in unserer Klasse. Er hat mir oft bei den Hausaufgaben geholfen.«

»Eric war bereits tot«, beteuerte sie.

Jared sah sie vorwurfsvoll an. »Wieso sollten wir dir oder ihm trauen? Wieso, nachdem ihr uns belogen habt? Und warum euch und nicht dem Militär? Die suchen doch nicht grundlos nach solchen wie ihm.«

»Weil die Meliad nicht böse sind«, erklärte Addy. »Wir Menschen sind in dieser Sache die, die auf der falschen Seite stehen. Wir sind schuld an dem, was gerade passiert.«

»Dann sollten wir vielleicht einfach zurücklaufen und uns erschießen lassen«, höhnte Dave. »Schließlich sind wir ja hier die Bösen.«

Es war genau so, wie Addy es befürchtet hatte. Niemand wollte hören, dass er Schuld an etwas trug. Deswegen hatte sie aufgegeben zu versuchen, den Menschen in Orsett zu erklären, was mit ihrer Stadt geschah. Und deswegen hatte sie sich nicht getraut, es Dave und den anderen zu sagen.

»Dave, setz dich«, forderte Patti ihn auf.

Wiederwillig folgte er ihrer Anweisung, fixierte Addy durch schmale Augen und seufzte schließlich. »Vielleicht fängst du einfach ganz von vorne an.«

Addy senkte den Blick. Sie sah zu ihren Händen, die sich langsam zu Fäusten schlossen. Allein der Gedanke an Elekreen ließ Wut in ihr auflodern.

»Wir töten sie …« Sie schüttelte den Kopf, weil sie selbst nicht fassen konnte, was sie so lange nicht gewusst hatte. Wie lange ging das schon so? Elekreen hatte Kraftwerke auf der ganzen Welt errichtet, und wenn jedes davon ein Loch in die Sphäre der Meliad schlug, musste deren Welt einem Sieb gleichen – einem Sieb, aus dem unaufhaltsam das Leben strömte.

Wie viele Male hatte Addy unbedarft ihr Handy aufgeladen und damit das Leben eines Meliad aus seiner Welt gerissen? Wie viele Leben kostete es, einen Akku zu laden, einen Film zu sehen oder die Waschmaschine laufen zu lassen? Eines oder sogar Hunderte? Sie wusste nicht, wie viele von ihnen schon sterben mussten, um den Menschen ihr Leben ein klein wenig leichter zu machen.

»Ist das so?«, warf Dave ein. Addy sah zu ihm auf. »Leben diese Dinger wirklich?«

»Lass sie ausreden«, verlangte Patti.

»Nicht so wie wir, aber ja, sie leben. Unsere Welt besteht aus mehreren Sphären. Unsere ist die der Materie. Feste Dinge, die wir anfassen und sehen können. Die Meliad sind so etwas wie Naturgeister. Sie leben parallel zu uns. Auf der Ebene der Energie. Wir können sie nicht sehen, aber sie sind da. Elekreen hat einen Weg gefunden, sie aus ihrer Existenzebene zu ziehen und in das Stromnetz einzuspeisen. Kostenlose Energie, die sie billig an uns verkaufen konnten.«

»Also besteht Strom in Wirklichkeit aus diesen Meliad?«, schlussfolgerte Jared.

»Energie, ja.«

»Super«, murrte Dave. »Dann sind sie also quasi überall, denn Energie strömt ja durch alles.«

»Und Blitze sind dann auch in Wirklichkeit Naturgeister?«, hakte Patti nach.

Addy fühlte sich überfordert. So genau wusste sie das auch nicht. Sie wusste nur, dass Dave recht hatte. Energie floss durch alles und die Meliad waren ein Teil davon.

»Nein«, sprach Casimir in ihrem Rücken.

Die anderen sahen zu ihm auf und Addy drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich und ein sanftes Lächeln zeichnete sich flüchtig auf seinen Lippen ab, bevor er wieder ernst wurde und die Fragen der anderen beantwortete. »Die Energie, die ihr messen und sehen könnt, wenn sie sich in Blitzen oder Funken entlädt, ist die Membran, die unsere Existenzebene umgibt. Ähnlich eurem Sauerstoff. Wir bewegen uns durch sie hindurch, können sie auch lenken, sind für euch aber unsichtbar. Zumindest waren wir das, bis ihr einen Weg gefunden habt, unser Leben in Strom umzuwandeln.«

»Und ihr Meliad rächt euch jetzt dafür?«, fragte Patti.

»Nein. Was mit der Natur geschieht, ist nicht unser Werk. Wie gesagt, gibt es fünf Ebenen. Eure ist die der Materie, unsere ist die Energie. Die dritte Ebene ist die des Lichts, aber verbunden wird alles durch die Mutter allen Lebens …«

»Terra Mater«, fügte Addy hinzu.

Casimir lächelte wieder und nickte, wurde aber gleich darauf ernst. »Durch das, was ihr uns antut, dadurch dass alle fünf Sphären durch euer Handeln gefährdet sind, habt ihr sie geweckt. Und sie ist bereit, dem ein Ende zu setzen und die Menschheit zu vernichten, wenn es nicht anders geht. Sie wird eine neue Welt erschaffen. Eine, die keine Bedrohung für andere darstellt.«

Schweigen legte sich über alle. Es war eine Sache zu denken, dass die Meliad der Feind waren oder Elekreen die Bösen. Aber zu wissen, dass sich die Natur selbst gegen die Menschheit auflehnte, war erdrückend. Wie sollte einer von ihnen fähig sein, das aufzuhalten?

»Und ich dachte immer, wenn uns mal jemand plattmacht, dann sind es Aliens. Unglaublich, dass sich unsere Welt in Wirklichkeit so zusammensetzt«, murmelte Jared gedankenversunken.

»Halt mal!«, warf Dave ein. »Du hast von fünf Sphären gesprochen. Die von Terra Mater, dann Materie, Energie, Licht und …«

»Schatten!«, warf Addy ein.

Mit weit aufgerissenen Augen sah sie zu Casimir auf, der abermals nickte. Das war es also, was sie gesehen hatte. Die Wesen einer weiteren Ebene. Die der Dunkelheit und allem, was damit einherging. Sie hatte es gefühlt. Es war, als wäre alles, was normalerweise im Verborgenen lag – von düsteren Gefühlen bis hin zu unterdrückten Erinnerungen –, in einer körperlosen Kreatur gebündelt gewesen. Aber warum war dieses Wesen in ihre Welt gelangt? Elekreen hatte es doch nur auf die Meliad und deren Sphäre abgesehen.

»Das ist doch Irrsinn!«, stieß Dave aus und sprang wieder auf.

»Ich find’s ziemlich cool, ehrlich gesagt«, meinte Patti.

»Cool?«, fragte Dave ungläubig. »Der Kerl hat mein Auto geschrottet! Das Militär ist uns auf den Fersen, und so wie es aussieht, verwandelt sich die ganze Welt gerade in einen Urwald, in dem wir nicht mehr willkommen sind. Danke schön, Menschheit, war ein netter Versuch von euch. Und tschüss.«

»Aber er kann Blitze schießen«, brachte Patti als Gegenargument und deutete auf Casimir.

»Hast du es nicht verstanden?«, fragte Jared. »Wenn das mit der Natur so weitergeht, gibt es bald keine Menschen mehr.«

»Deswegen muss Elekreen aufgehalten werden«, sagte Addy. »Sie müssen aufhören, die Meliad zu vernichten. Sonst wird Terra Mater uns vernichten.«

»Deswegen wolltest du nach Birmingham, oder?«, fragte Dave. »Weil hier noch ein Kraftwerk steht.«

»Ja. Soviel ich weiß, gibt es nur diese zwei in England. Und Terra Mater wird hier dasselbe tun wie in Orsett, wenn wir nicht vor ihr dafür sorgen, dass das Kraftwerk abgeschaltet wird. Alles würde dem Erdboden gleichgemacht werden, inklusive der Menschen.«

»Wir?«, fragte Jared.

»Wer sonst?« Addy sah von einem zum anderen. Keiner von ihnen wirkte motiviert, einen Kampf aufzunehmen, von dem sie nicht wussten, ob sie ihn gewinnen konnten. Sie waren genauso plötzlich und unerwartet in diese Sache hineingezogen worden wie Addy. Aber irgendjemand musste etwas tun und außer ihnen gab es niemanden, der über das, was geschah, Bescheid wusste. Es gab niemanden, der ihnen glauben oder ihnen helfen würde. Sie waren auf sich allein gestellt.

»Also, ich bin dabei«, meinte Patti schließlich.

»Bevor hier auch alle sterben …«, murmelte Jared. »Aber es wird nicht reichen, das Kraftwerk abzuschalten. Die stehen überall auf der Welt. Wir müssen versuchen, dem Konzern klarzumachen, dass alle abgeschaltet werden müssen.«

»Und offensichtlich auch dem Militär und damit auch der Regierung«, fügte Patti hinzu.

Addy nickte, auch wenn sie nicht wusste, wie sie das anstellen sollten. Sicher war Bennet längst schon in Birmingham und hatte über Orsett Bericht erstattet.

»Klingt ja nach einem Kinderspiel«, brummte Dave, schnaubte dann aber einsichtig. »Lass uns erst einmal versuchen, in die Stadt zu kommen, und dann sehen wir weiter.«

Die anderen stimmten zu und Addy war erleichtert, dass sie ihr glaubten, auch wenn sie nicht wusste, wie sie aufhalten konnte, was unaufhaltsam voranschritt.

Sie beschlossen, nicht sofort aufzubrechen. Alles, was sie aus Orsett mitgebracht hatten, war noch im Jeep gewesen. Sie besaßen nur die Kleider, die sie am Leib trugen, weder Ausweise noch Geld noch einen Happen zu essen. Ihnen allen knurrten die Mägen und die Flucht vor dem Militär, die schlaflose Nacht und die Geschehnisse in Orsett hatten ihre Spuren hinterlassen.

Es wäre das Beste gewesen zu versuchen, ein paar Stunden zu schlafen. Aber die Müdigkeit siegte bei Addy nicht über die vielen Fragen, die ihr im Kopf herumschwirrten.

Während die anderen sich aufgemacht hatten, nach etwas Essbarem und Wasser zu suchen, streifte sie durch die Natur rund um die heruntergekommene Fabrikhalle. Von Pflanzen umgeben zu sein, hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt. Und das war auch noch so, nachdem sie nun wusste, dass sich die Natur gegen die Menschen wendete.

Es war nicht zu leugnen, dass etwas Wunderbares mit der Welt geschah. Die Schönheit, die sie umgab, war unbeschreiblich. So viele Farben, prachtvolle Blumen und überall wimmelte es vor Leben. Das alles löste in Addy ein ähnliches Gefühl aus, wie man es hatte, wenn man nach langer Reise nach Hause kam. Aber die Art, wie das geschah, war auf Leichen aufgebaut, und das konnte sie nicht ausblenden. Hatte es die Menschheit denn wirklich verdient, so unterzugehen? Mussten sie alle sterben, um Platz zu schaffen für etwas Neues?

Addy trat durch einen Vorhang aus Ästen und strich mit den Fingern über eine Reihe zarter Blumen, die daran hingen wie Lampen an einer Lichterkette. Zu ihrem Erstaunen öffneten sich die Blüten unter ihrer Berührung, so wie in Orsett der Efeu vor ihr zurückgewichen war. Casimir hatte gesagt, dass etwas an ihr anders war als an anderen Menschen. Nur woher kam das und wer hätte ihr erklären können, was es war, wenn selbst er es nicht wusste?

Der süßliche Duft der Blütenpollen stieg Addy in die Nase und vermischte sich mit dem nach reiner Energie.

Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und sie drehte sich um.

»Du solltest schlafen«, sagte Casimir und durchforstete sie mit seinem Blick.

Das Leuchten in seinen Augen war hypnotisierend und so unergründlich, dass sie ihn ewig hätte anschauen und seinen Duft tief in sich aufnehmen können.

Als er die Hand hob, wuchs ihre Sehnsucht nach seiner Nähe. Sie wollte seine Berührung auf ihrer Haut spüren, doch stattdessen strich er über die Blüte, die sie noch zwischen ihren Fingern hielt.

Sofort durchströmte Addy ein warmes Gefühl. Sie spürte, wie die Energie, aus der sein wahres Wesen bestand, durch die Blüte floss und sich bis in Addys Fingerspitzen ausbreitete.

Es war mehr als nur Wärme, die auf sie überging. Darin eingebettet, lagen seine Gefühle und Gedanken und sie wusste mit einem Mal, dass er ihr alles sagen würde, wenn sie nur danach fragte, dass er keine Geheimnisse vor ihr hatte und ihr vertraute wie noch nie jemandem zuvor.

Instinktiv wollte sie ihre Hand zurückziehen. Wenn sie ihn derart spüren konnte, dann er sie sicher ebenso. Es gab Dinge von ihr, die sie so lange tief in sich begraben und vor aller Welt versteckt hatte, dass es für Addy zur Gewohnheit geworden war, sich zu verschließen. Dinge, die sie schwach und angreifbar wirken ließen. Wie ihre Angst vor Großstädten und Menschenmengen. Und schwach wollte sie nicht sein. Nicht vor ihm. Dabei spürte sie, dass er der Letzte war, der sie verurteilen würde. Er vertraute ihr auf einer Weise, die ihr bisher völlig fremd gewesen war, und sie wusste in ihrem tiefsten Innersten, dass sie ihm ebenso vertrauen konnte. Sie musste sich nicht verstecken. Nicht vor ihm.

Addy schloss die Augen, ließ sich von seiner Energie, die sie durchströmte, tragen und wurde eins mit dem Fluss des Lebens, der alles um sie herum erfüllte. Jede Pflanze und jeder Stein – alles leuchtete von purer Energie.

Diese Art, von Casimir berührt zu werden, ging viel tiefer als die von Haut an Haut. Sie machte Worte überflüssig und ließ Fragen verblassen. Er urteilte nicht über das, was sie war oder fühlte. Es gab keinen Grund, sich zu verstecken, zu verstellen oder zu schämen. Da waren nur er und sie und das, was sie ausmachte. Nicht das, was andere in Addy sahen.

Als er seine Hand wieder zurückzog und seine Energie abebbte, stürzte die raue Wirklichkeit so plötzlich auf Addy ein, dass sie schwankte.

»Du musst etwas wissen«, sagte er. »Über mich.«

Addy sah ihn fragend an. Nachdem sie gerade sein wahres Wesen gespürt hatte, hatte sie nicht das Gefühl, dass es etwas gab, was sie nicht von ihm wusste.

»Das, was ich jetzt bin oder beginne zu werden, war ich nicht, bevor ich dich kennenlernte«, erklärte er.

»Wie meinst du das?«

»Ich habe gehört, was Dave gesagt hat. Er hat infrage gestellt, ob wir Meliad wirklich lebende Wesen sind.«

»Aber du lebst.« Sie stieß ein leises Lachen aus, merkte jedoch gleich, dass Casimir es ernst meinte. Wie konnte er anzweifeln, was so offensichtlich war?

»Die Art, wie ihr denkt und fühlt, eure Einzigartigkeit, das sind alles Dinge, die in eure Welt gehören. Nicht in meine. Erst mit diesem Körper beginne ich, sie zu verstehen. Davor war ich nur ein Teil von etwas Großem.«

»Das sind wir doch alle«, erwiderte sie. »Nur haben wir Menschen das vergessen. Wir haben Angst davor, und je mehr wir begreifen, dass wir nur ein Teil von etwas sind, das wir nicht kontrollieren können, desto mehr wünschen wir uns, einzigartig zu sein.«

»Ich will nur, dass du verstehst, warum ich euch nicht verstehe. Und auch nicht das, was in mir vorgeht. Die Gefühle, die ich durch diesen Körper erlebe, sind mir bisher fremd gewesen – die Endorphine, die mich überschwemmen, wenn ich dir nahe bin, das Adrenalin, das ausgeschüttet wird, wenn wir in Gefahr geraten. All das.« Er legte seine Hand an ihre Wange und tauchte tief in ihre Augen ein. »Ich verstehe nicht, was das für ein Gefühl war, das mich überkam, als diese Männer dir wehgetan haben. Ich habe die Kontrolle verloren. Kurz dachte ich, Eric wäre doch noch am Leben und hätte seinen Körper wieder übernommen. In dem Moment konnte ich nicht klar denken, nur handeln. Ich habe diesen Männern ebenso wehtun wollen wie sie dir. Ich wollte niemanden verletzen, aber ich habe es getan. Und ich empfinde keine Reue. Aber das sollte ich, oder?«

»Du hast mich nur verteidigt«, erklärte sie mit schwacher Stimme. Ihr Herz schlug schneller. Sie hatte sich gefragt, warum er so wütend geworden war, und nun ergab es einen Sinn. »Du wolltest mich beschützen.«

Sie tat einen Schritt auf ihn zu, legte ihre Hand auf seine Brust und spürte, dass auch sein Herz schneller schlug, wenn sie sich so nahe waren.

Was da zwischen ihnen entstand, konnte sie ebenso wenig verstehen wie er. Es spielte keine Rolle, dass sie schon siebzehn Jahre lang ein Mensch war, während er erst lernte, einer zu sein. Alles, was sie wusste, war, dass sie sich bei ihm sicher fühlte und dass ihr ein Teil von ihr selbst verloren ging, wenn er nicht in ihrer Nähe war.

Sie legte ihre Stirn an seine Brust und er zog sie fester an sich heran.

»Werden diese Schatten jetzt auch ein Teil unserer Welt?«, fragte sie. Die Angst davor ließ ihre Knie weich werden und sie war froh, dass er sie hielt.

»Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Ich weiß nur, dass du sie erkennen kannst, genauso wie du mich erkannt hast, und dass da etwas vor sich geht, was wir beide noch nicht verstehen.«

Addy dachte an die drei Fremden, die sie an der Lichtsäule der Meliad gesehen hatte. Das asiatische Mädchen und die beiden Jungs. Was sie wohl durchmachten, während die Welt um sie herum zusammenbrach? Und ob sie wussten, was mit der Welt um sie herum geschah, und ob sie ebenfalls anders waren als andere Menschen? Sie hätte alles dafür gegeben, mit ihnen reden zu können.