KAPITEL 7

ADDY

TAG 4: DI, 15:00 UHR, BIRMINGHAM, ENGLAND

Schweigend liefen sie durch die Straßen. Die Stimmung war erdrückend und keiner von ihnen wagte es, die Stille zu durchbrechen, die sich über ganz Birmingham gelegt hatte.

Das war es, was nach vier Tagen von der Menschheit blieb, nachdem die Erde beschlossen hatte, sie auszumerzen wie Parasiten? Die Gebäude waren von Grün übersät, die Fassaden rissig. Riesige Bäume waren überall aus dem Asphalt gebrochen, hatten Autos und ganze Häuser einfach zur Seite geschoben oder Teile davon in ihre Kronen gehoben.

Hier und dort stieg Rauch auf, wo Mülltonnen brannten oder Autos angezündet worden waren, übermäßig viel Graffiti zierte die Wände, Fensterläden waren eingeschlagen und die Geschäfte ausgeraubt. Vor manchen Hauseingängen und Zufahrten sah man Barrikaden, und als Addy ihren Blick über die Fensterreihen schweifen ließ, bemerkte sie Gestalten, die sich hinter den Vorhängen versteckt hielten. Kaum einer der Bewohner schien sich auf die offene Straße zu trauen. Sicher aus Angst davor, überfallen zu werden oder den Randalierern in die Hände zu fallen, die in den letzten Tagen ihre Wut über die Geschehnisse an der Stadt ausgelassen hatten.

Ein lautes Krachen sorgte dafür, dass Addy zusammenzuckte und herumwirbelte. Ein Mann stolperte aus dem zerschlagenen Schaufenster eines Gebrauchtwarenladens und winkte seinen Begleitern zu, ihm zu folgen. »Beeilung!«

Nervös sah er sich um, entdeckte Addy und die anderen und richtete eine Pistole auf sie. Addys Herz machte einen Satz und sie wich einen Schritt zurück.

»Bleibt ja weg!«, rief er. »Oder ich knall euch alle ab.«

»Soll ich …?«, fragte Casimir.

»Hey!«, schrie jemand, bevor Addy ihm antworten konnte. Zwei Polizisten mit Helmen, Schlagstöcken und schusssicheren Westen tauchten nicht weit von ihnen auf.

»Waffe fallen lassen!«, verlangte einer der beiden und zog seine Pistole.

Der Mann hob die Hände, wirbelte dann aber herum und rannte davon. Seine Begleiter eilten ihm nach, beladen mit allerlei wertlosem Plunder. Die Polizisten machten sich nicht einmal die Mühe, ihnen zu folgen.

»Wir haben hier schon wieder Plünderer auf der Coventry Road«, sprach einer der Polizisten in sein Funkgerät. Es knackste und eine undeutliche Antwort ertönte. Dann wandte er sich an Addy und die anderen. »Die Ausgangssperre gilt für alle. Zeigt mir eure Ausweise.«

Dave und Addy wechselten kurze Blicke.

»Weg hier!«, rief er und rannte los, dicht gefolgt von den anderen.

»Stehen bleiben!«, rief der Polizist.

Dave schlitterte um eine Ecke. Casimir wirbelte herum, hob die Hände und zwischen ihnen und ihren Verfolgern brach in lautem Getöse die Straße auf. Baumwurzeln peitschten in die Höhe und versperrten den Männern den Weg.

Addy griff nach Casimirs Arm und zog ihn runter. »Lass das besser. Wir dürfen nicht noch mehr auffallen.«

Casimir ließ von den Pflanzen ab und folgte ihr und den anderen in die Seitenstraße.

»Scheiße, verdammt!«, fluchte Dave und ging nervös auf und ab. Er warf einen Blick zurück zur Hauptstraße. »Folgen sie uns?«

»Mit Sicherheit«, meinte Patti. »Der Meliad musste ja unbedingt beweisen, was er kann.« Sie schielte missmutig in Casimirs Richtung.

»Du reitest uns nur noch tiefer in die Scheiße rein mit deinen bescheuerten Zaubertricks!«, fuhr Dave ihn an und machte dabei einen Schritt auf ihn zu. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und wieder hatte Addy dieses nicht greifbare Gefühl, die Schatten, die sein Gesicht verdunkelten, wären unnatürlich düster. Bildete sie sich das nur ein oder geschah etwas mit Dave? Etwas, das mit der Dunkelheit in Zusammenhang stand, der sie schon einmal ausgesetzt gewesen war.

Sie wollte etwas sagen, doch Jared lenkte sie ab. Er lehnte an einer Hauswand, schnappte nach Luft und war kreidebleich.

Ihr war sofort klar, was gerade in ihm vorging. Wenn sie ihn so sah, fühlte sie sich an jenen Tag zurückversetzt, an dem sie ihre erste Panikattacke erlitten hatte. Sie konnte nicht verhindern, dass allein der Gedanke daran alles noch einmal in ihr hochkommen ließ. Für einen kurzen Moment war sie wie erstarrt und es kam ihr vor, als würde sie das Gewicht des Betons spüren, der sich in unüberwindbaren Steilwänden, überall um sie herum erhob. Die Häuser schienen sich ihr zu nähern, der Himmel in die Ferne zu rücken und der Boden, auf dem sie stand, war ein tiefes Loch, in das sie zu stürzen drohte.

Eine Berührung vertrieb die erdrückenden Erinnerungen so plötzlich, wie sie gekommen waren. Sie blickte zur Seite und erkannte Casimir, dessen Hand auf ihrer Schulter lag.

Ob ihm klar war, dass er Addy dadurch vor einem Absturz bewahrt hatte, wusste sie nicht. Er sagte kein Wort, sah sie nur an und das goldene Glimmen seiner Augen war wie ein warmer Schleier, der sie vor der Kälte abschirmte, die versucht hatte, sie zu verschlingen. Erst als er seine Hand zurückzog, strömten die Geräusche der Umgebung wieder auf Addy ein. Sie hörte Jareds gehetzten Atem und lief zu ihm.

»Alles gut?«, fragte sie und legte ihm die Hand in den Rücken. Er schien wirklich kurz vor einer Panikattacke zu stehen, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch, ehe er antwortete. »Ich bin für so etwas nicht geschaffen«, meinte er und grinste wenig überzeugend.

»Es wird laut«, sagte Casimir in gefasstem Ton, mit Blick zur Hauptstraße.

Addy und die anderen starrten ihn verwundert an, dann fielen auf einmal Salven von Maschinenpistolen. Instinktiv duckten sie sich, Addys Herz begann zu rasen und Dave wich zurück.

Offenbar hatte die Polizei Verstärkung bekommen und die versuchte, sich durch das Wurzelwerk zu schießen.

»Sie kommen, nicht wahr?«, fragte Jared.

Casimir bestätigte das mit einem Nicken.

»Wir müssen weg hier«, stieß Dave aus.

Er lief weiter, eilte in einen Hauseingang und rüttelte vergebens an der Tür. »Verdammte Scheiße!«, fluchte er und lief zum nächsten Gebäude.

Wenn sie Pech hatten, waren sie in einer Sackgasse gelandet. Wohin die verwinkelte Straße führte, konnte man nicht erkennen.

»Hier entlang!«, rief Patti und verschwand zwischen zwei Gebäuden.

Dave folgte ihr, ohne zu zögern, und auch Casimir hatte schnell zu ihnen aufgeschlossen.

»Komm«, forderte Addy Jared auf und eilte zu den anderen.

Sie warf einen Blick zurück und musste feststellen, dass er sich zwar von der Wand abgestoßen hatte, aber keine Anstalten machte zu fliehen. Er stand mittig auf der Straße und starrte zu Boden.

»Beeil dich!«, drängte sie.

»Ich bleibe«, sagte er und sah zu ihr auf.

Addy blieb wie angewurzelt stehen, starrte ihn fassungslos an und wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Wie kam er auf diesen Gedanken?

»Red keinen Unsinn!«

Sie hatten keine Zeit für Diskussionen. Ein flüchtiger Blick zurück zeigte ihr, dass Patti und Dave ungeduldig am Eingang der kleinen Seitenstraße warteten, während jeden Moment die Polizei um die Ecke biegen konnte.

»Ich kann das nicht«, erklärte Jared. »Vor der Polizei weglaufen, beschossen werden. Das halte ich nicht durch.«

»Aber …«

»Ich kann ganz überzeugend sein«, fuhr er fort. »Jemand muss der Regierung erklären, was hier passiert. Du hast doch gesagt, dass man das alles nur stoppen kann, wenn Elekreen die Kraftwerke abstellt. Die Regierung kann sie dazu zwingen, wenn sie die Wahrheit kennt. Wir können nichts ausrichten. Nicht ohne Hilfe.«

Addy schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht glauben, was er da sagte. Wie wollte er jemanden von der Wahrheit überzeugen, wenn er keine Beweise hatte? Wie konnte er sichergehen, dass die Polizei ihm zuhören würde?

»Bitte, Jared, du weißt nicht, was du da redest.«

Sie hob die Hand, um sie ihm zu reichen, doch ehe er reagieren konnte, stürmten mehrere bewaffnete Soldaten und die zwei Polizisten die Gasse.

»Keine Bewegung!«, forderte einer von ihnen.

»Ich weiß, was ich tue«, behauptete Jared mit tonloser Stimme.

Es war nicht zu übersehen, dass er große Angst hatte. Doch offensichtlich fürchtete er sich mehr vor der Flucht als davor, sich den Behörden zu stellen. Noch einmal atmete er tief durch, dann drehte er sich um.

»Jared!«, rief Addy und wollte zu ihm stürzen, doch jemand griff nach ihr und zog sie um die Ecke, noch bevor sie ihn erreichen konnte.

Sie wehrte sich, riss sich los und sah sich Casimir gegenüber. Ungerührt von dem, was gerade geschah, sah er sie an, während in ihr die Panik pochte und sich ihre Gedanken überschlugen. Sie wirbelte wieder herum, wollte zurück zu Jared, wurde aber von Casimir am Arm festgehalten.

»Ich ergebe mich«, hörte sie Jared sagen.

»Lass mich los!«, verlangte Addy. »Wir dürfen ihn das nicht tun lassen!«

»Er hat es bereits getan«, erwiderte Casimir.

»Beeilt euch«, drängte Dave und suchte nach einem Fluchtweg. Er versuchte es an einer Tür, entschied sich dann aber für eine Unterführung.

»Wir müssen zurück«, sagte Addy. »Du musst ihn befreien. Du kannst deine Kräfte einsetzen.«

»Er hat sich freiwillig gestellt«, beharrte Casimir.

»Ja und? Er weiß nicht, was er da tut.«

»Ich denke schon. Er wirkte gefasst.«

»Woher willst du das wissen?«, schrie sie ungehalten. Panik und Verzweiflung sprachen aus ihr. »Du hast doch keine Ahnung von menschlichen Gefühlen!«

Sie bereute die Worte, kaum dass sie ihr über die Lippen gekommen waren. Casimir lockerte den Griff um ihren Arm und sah sie an, als wäre sie eine Fremde – als hätte er ihr nicht zugetraut, ihn mit wenigen Worten so zu verletzen. Doch bevor sie etwas hinzufügen konnte, fielen Schüsse.

Patti schrie und Dave duckte sich. Addys Herz machte einen Satz, ihr Inneres verkrampfte sich. Tausend Dinge jagten ihr zeitgleich durch den Kopf und das Dringlichste davon war, dass sie umkehren mussten. Was, wenn sie Jared einfach niedergeschossen hatten? Wenn er verletzt war und Hilfe brauchte? Sie wollte blindlings draufloslaufen, doch Casimir ließ das nicht zu.

»Verdammt!«, schrie Dave. »Bewegt euch!«

Patti warf einen unsicheren Blick zurück zur Abzweigung, woher die Schüsse zu hören gewesen waren. Vielleicht hoffte sie darauf, Jared würde jeden Moment auftauchen, doch das tat er nicht. Schließlich entschied sie sich für die Flucht. Sie rannte zu Dave, der nervös an der Unterführung kauerte und ihr folgte, als sie an ihm vorbeilief.

Addy wehrte sich vergebens gegen Casimir, dessen Hand sich wieder fester um ihren Arm geschraubt hatte. Mühelos zog er sie an sich heran, umklammerte sie mit beiden Armen und zwang sie zur Unterführung.

Erst ein paar Straßen weiter, als ihre Verfolger nicht mehr zu hören waren, ließ er sie wieder los. Sie stolperte von ihm weg, hin zu Patti, in deren geröteten Augen sie dieselbe Verzweiflung sehen konnte, die auch sie fühlte.

»Fuck, fuck, fuck!«, knurrte Dave und raufte sich die Haare. »Haben sie ihn …? Ist Jared …? Sind sie noch hinter uns?«

Sie waren in einer Sackgasse gelandet und er warf einen nervösen Blick zur offenen Straße.

»Nein«, sagte Casimir schlicht.

»Dieser Vollidiot!«, schrie Dave und trat mit voller Wucht gegen die Wand. Sein Atem ging stoßartig und seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt. So wütend hatte Addy ihn noch nie erlebt. Er verlor immer mehr die Kontrolle und hatte kaum mehr Ähnlichkeit mit dem Dave, den sie aus der Schule kannte.

»Sie haben ihn nicht erschossen«, sagte Patti mit zittriger Stimme. »Das hätten sie nicht getan. Er hat sich doch freiwillig gestellt und das waren Polizisten. Die erschießen niemanden, nur weil er sich nicht an irgendeine Ausgangssperre hält.«

Addy war sich nicht sicher. Natürlich wollte sie nicht daran glauben, dass die Polizei, die zum Schutz der Bürger da war, auf unschuldige Schüler schießen würde. Aber sie befanden sich in einem Ausnahmezustand. Die Männer waren sicher übermüdet, entkräftet und handelten unüberlegt. Es hätte alles passieren können. Eine falsche Bewegung und Jared wäre tot. Der Gedanke daran schraubte ihr die Kehle zu.

»Wir müssen von der Straße runter«, sagte Casimir. »Hier sind wir nicht sicher.«

Dave atmete tief durch. »Also gut.«

Er stieß Casimir grob beiseite. Dass er ihm die Schuld daran gab, dass sie sich vor Militär und Polizei verstecken mussten, war nicht zu übersehen. Auch Patti schien nicht gut auf Casimir zu sprechen, sie warf ihm einen abfälligen Blick zu und folgte dann Dave.

»Sie meinen es nicht so«, sagte Addy versöhnlich und dachte dabei auch an den Vorwurf, den sie ihm gemacht hatte.

»Ich verstehe«, antwortete er, ohne sich ihr zuzuwenden, und schloss zu den anderen auf.

Ob er es wirklich verstand, wusste sie nicht. Sie bezweifelte es sogar, nachdem er erst wenige Tage im Körper eines Menschen war und noch lernte, mit Gefühlen umzugehen. Berührte es ihn, was mit Jared geschah? Hatten ihre Worte ihn verletzt oder war er gar nicht fähig, so zu empfinden? Sie hatte völlig ausgeblendet, dass sie es nicht mit einem Menschen zu tun hatte, und musste sich jetzt fragen, ob das ein Fehler gewesen war. Ein Fehler, der Jared vielleicht das Leben gekostet hatte.

Sie schüttelte diesen Gedanken ab. Nach allem, was geschehen war, hatte es Casimir nicht verdient, dass sie an ihm zweifelte. Sie wollte nicht zweifeln, weil das alles zum Einsturz gebracht hätte und weil Casimir ihr letzter Halt war. Ihr Halt in einer Welt, die unterging.

Addy schlang die Arme um ihren Körper. Ihr war kalt, sie fühlte sich leer und ausgelaugt, aber da war noch etwas anderes, das sie zittern ließ. Etwas, das ihr erst jetzt, da sie zurückgefallen und alleine war, bewusst wurde. Es war ein Gefühl, das sie nicht zuordnen konnte. Sie sah sich um, wusste jedoch nicht, wonach sie suchen sollte, bis ihr der Geruch nach Energie in die Nase stieg. Wie von einem heiß gelaufenen Elektrogerät. Konnte es sein, dass sie nicht alleine waren?

In der Ferne ertönten Sirenen und immer dann, wenn sie Stimmen oder Schritte hörten, hielten sie sich versteckt. Sie begegneten kein weiteres Mal der Polizei, wohl aber randalierenden Banden, die das Chaos ausnutzten, um ihren Frust und ihre Wut an Mülltonnen, Hydranten und Autos auszulassen.

Schließlich erreichten sie die Innenstadt und ein Hochhaus, in dessen Eingang Dave sie führte. Konzentriert suchte er die Klingelschilder ab.

»Beeil dich«, drängte Patti.

»Was glaubst du, was ich hier tue?«, entgegnete er gereizt.

Addy sah flüchtig zu Casimir. Es schien, als ob er ihren Blick mied. Vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein. Genauso, wie sie sich einbildete, verfolgt zu werden.

Sie wollte ihn auf Dave ansprechen. Darauf, dass er ihr verändert vorkam. Aber sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Insbesondere, da Casimir nicht der Richtige war, um über die Gefühle und das Verhalten von Menschen zu reden.

»Scheiß drauf!«, knurrte Dave und warf sich mehrmals mit der Schulter gegen die marode wirkende Haustür, bis sie schließlich krachend nachgab und er in den Korridor stolperte.