KAPITEL 9

AYUMI

TAG 4: DI, 17:00 UHR, TOKIO, JAPAN

Mit zittrigen Händen riss Ayumi das Zellophan vom Schokoriegel. Ihre Bento-Box für die Schulpause hatte sie im Bahnhof stehen lassen und so war die Schokolade alles, was ihr noch blieb.

Oft schon hatte sie sich wegen ihrem Hang zur Unordnung Vorwürfe anhören müssen, doch in diesem Moment war sie dankbar für das Chaos in ihrer Tasche. Andernfalls hätte sie diesen Riegel darin nicht gefunden. Wahrscheinlich lag er dort schon monatelang, er war von den Schulheften platt gedrückt worden und roch ranzig. Aber das war ihr egal. Sie hatte Hunger. Unheimlich großen, unbändigen Hunger.

Gierig verschlang sie die Schokolade bis auf den letzten Krümel. Sie schmeckte mehlig und auch ein wenig salzig, was sicher an ihren Tränen lag. Erschöpft lehnte Ayumi sich an die Wand und versuchte, neue Kräfte zu sammeln.

Seit dem Unfall hatte sie kein Tageslicht mehr gesehen und sich mit Händen und Füßen vorantasten müssen, in der Hoffnung, einen Ausgang zu finden. Irgendwann war sie so erschöpft gewesen, dass sie schlafen musste. Für wie lange, wusste sie nicht. Für ein paar Stunden, vielleicht auch über Nacht. Das Zeitgefühl war ihr dadurch gänzlich verloren gegangen. Sie hatte daraufhin weiter nach einem Ausweg gesucht, während die Angst, nicht gerettet zu werden, ins Unermessliche gewachsen war und der Hunger sie immer mehr geschwächt hatte. Nun saß sie am Boden, ihr war kalt, jeder Knochen im Leib tat ihr weh und sie musste sich zwingen, stärker zu sein als die Verzweiflung, die schwer wie Steine auf ihrer Brust lastete.

Alles in ihr drängte darauf, sich in einer Ecke zusammenzukauern und auf eine Rettung zu warten, die vielleicht niemals kommen würde. Aber sie durfte nicht aufgeben. Sosehr ihr müder, von Schmerzen geplagter Körper das auch von ihr verlangte. Früher oder später würde sie auf eine U-Bahn-Station stoßen und von dort hinauf in die Stadt gelangen.

Erst einmal brauchte Ayumi aber ein paar Minuten Ruhe. Sie zog ihre Beine an und schlang die Arme darum. Das Zittern wollte gar nicht mehr aufhören und zu allem Überfluss wurde ihr von dem Schokoriegel auch noch übel.

Ihr Atem ging schneller. Sie versuchte, sich zu beruhigen, indem sie ihren Oberkörper wippte. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und ihr wurde heiß und kalt zugleich.

Das durfte nicht passieren! Sie durfte die Übelkeit nicht gewinnen lassen. Hastig hielt sie die Luft an, ignorierte das Schwindelgefühl und die Krämpfe in ihrem Bauch, doch schließlich verlor sie den Kampf gegen ihren rebellierenden Magen, warf sich zur Seite und spuckte aus, was sie eben noch gierig verschlungen hatte.

Das Schwindelgefühl verschwand, auch die Hitze ging zurück. Nur das Zittern blieb, kalter Schweiß war ihr auf die Stirn getreten und dazu kam der widerliche Geschmack nach Galle in ihrem Mund.

Schluchzend krümmte sie sich zusammen und flehte in Gedanken um Erbarmen. Sie hielt das nicht mehr aus. Sie wollte nicht sterben. Nicht so, nicht alleine im Dunkeln. Und doch schrie alles in ihr danach, einfach aufzugeben, sich hinzulegen und wieder zu schlafen – auf die Gefahr hin, diesmal nicht wieder aufzuwachen.

Ayumi dachte an all die Heldinnen aus ihren liebsten Geschichten. Sie waren stark, mutig und lustig obendrein. Sie fanden immer einen Ausweg und würden nicht jammern, sich in einer Ecke zusammenkauern und Rotz und Wasser heulen. Nein, sie würden aufstehen und weitergehen. Egal, wie lange es auch dauerte, sich selbst zu befreien, wie müde und ausgehungert sie auch waren. Sie würden sich den Mund abwischen, die Tränen trocknen und einen Fuß vor den anderen setzen. Und genau das tat Ayumi schließlich.

Sie raffte sich auf, lief weiter, tastete sich langsam voran und folgte dem Tunnel, bis sie mit dem Fuß gegen etwas Hartes stieß. Der Schmerz schoss ihr das Bein hinauf und sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht zu schreien und damit die Stille zu durchbrechen, die für sie zu einem Schutzschild geworden war und ihr die Angst vor ihren dämonischen Verfolgern nahm.

Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass der Aufprall Geräusche verursachte. Das Rieseln von Steinen hallte durch den Tunnel. Ayumi rührte sich nicht mehr, wartete darauf, dass es wieder still um sie herum wurde, doch das tat es nicht. Sie hörte entferntes Knarzen von Metall und ein Pfeifen. Ein Geräusch, das von Luft stammen könnte, die in das unterirdische Labyrinth strömte.

Ihr Herz schlug bei diesem Gedanken schneller. Vielleicht war sie schon ganz nah an einem Ausweg! Sie tastete sich eilig um den Stein, stolperte aber über weiteren Schutt. Die Schienen waren voll davon.

Schließlich berührte sie etwas, das kein Beton zu sein schien. Metall. Glatt, kalt und mit scharfen Kanten, wo es aufgerissen war wie eine zerbeulte Dose.

Sie stand auf, lief an der verbogenen Metallwand entlang und schnitt sich an gesplittertem Glas. Erschrocken sog sie die Luft ein und zog ihre Hand weg.

Auch unter ihren Füßen knirschten Splitter, als sie weiterging. Nach wenigen Metern blitzte etwas vor ihr auf. Ein Licht! Endlich keine Dunkelheit mehr.

Sie ging darauf zu, und je näher sie kam, desto deutlicher erkannte sie ihre Umgebung.

Ayumi war auf einen weiteren verunglückten Zug gestoßen. Also war es wirklich ein Erdbeben und nicht die Akuma gewesen, was Tokios U-Bahnen hatte entgleisen lassen? Anders konnte sie sich das zweite Unglück nicht erklären.

Das Licht, das die Umgebung nur spärlich erhellte, kam aus dem Inneren des Zuges. Eine Deckenlampe baumelte dort an den Kabeln und flackerte, als ob sie jeden Moment ausgehen würde.

Ayumi zögerte. Sie brauchte Wasser und etwas zu essen. Und wahrscheinlich würde sie beides im Zug finden. Aber nicht nur das, sondern auch jenes Bild, das sie seit dem Beben nicht mehr losließ: Berge von Leichen, Blut, verdrehte Glieder und leere Augen, die sie anstarrten und sich ihr ins Gedächtnis brennen würden.

Alleine bei dem Gedanken daran kamen die Erinnerungen wieder zurück und die Knie wurden ihr weich. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. Ihr Atem ging stoßartig und alles in ihr drängte darauf, herumzuwirbeln und davonzulaufen.

Aber das würde sie kein zweites Mal tun. Sie musste sich zusammenreißen, wenn sie überleben wollte. Vorsichtig senkte sie die Hände, nahm all ihren Mut zusammen und lief weiter.

Einer der Wagen war so stark zusammengedrückt, dass die Türen aufgeplatzt waren und die Menschen daraus hervorquollen wie eine unförmige Masse aus grauen Anzügen. Ayumi, die alles daransetzte, stark zu sein und keine Angst zu zeigen, wich nun doch einen Schritt zurück.

Ihre Kehle brannte und sie konnte sich kaum aufrecht halten, so sehr quälte sie der Hunger. Aber wie sollte sie es fertigbringen, über diese Leichen zu steigen und die Taschen der Toten zu durchwühlen?

Noch einmal sah sie sich um, hoffte, dass Gepäckstücke aus dem Zug geschleudert worden waren – vielleicht Taschen von Schülern, die ihre Bento-Box nicht beim Ausräumen auf dem Bahnhofsboden hatten stehen lassen –, doch sie sah nur Schutt und Scherben.

Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und atmete tief durch. Bis hierher hatte sie es geschafft, sie würde es auch über sich bringen, diesen Zug zu betreten.

Entschlossen näherte sie sich der Tür, da hörte sie ein Stöhnen aus dem Inneren. Ihr Herz machte einen Satz. Es gab Überlebende! Sie musste sich beeilen.

»Hallo?«, rief sie mit gesenkter Stimme.

Wieder stöhnte jemand.

Sie sah zu den Leichen, die ihr den Weg versperrten. Wenn sie nicht daran dachte, dass das vor Kurzem noch lebende, atmende Menschen gewesen waren, würde es ihr vielleicht leichterfallen, sie anzufassen. Sie durfte ihnen nur nicht in die Augen schauen.

Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Jackett eines Mannes, umfasste den Stoff und versuchte, ihn unter Aufwendung all ihrer Kräfte aus dem Zug zu schleifen. Doch der Mann rührte sich nicht. Sie musste sich weit zurücklehnen und einen Fuß gegen den Zug stemmen, um ihn unter den anderen Toten hervorziehen zu können. Wie ein Sack Reis sank er schließlich auf die Schienen.

Erschöpft sah Ayumi auf. Ihr Atem ging schwer und Schweiß war ihr auf die Stirn getreten, aber noch hatte sie es nicht geschafft. Sie zerrte eine weitere Leiche zur Seite und schloss die Augen, so fest sie konnte, als sie gezwungen war, die übrigen Toten mit ihrem Fuß wegzudrücken, um ins Innere zu gelangen.

»Hallo?«, rief sie wieder und sah sich um. »Ist da jemand?«

»Hier …«, kam eine kaum hörbare Antwort.

Ayumi biss die Zähne zusammen, kletterte über die leblosen Passagiere und versuchte, es zu vermeiden, in ihre Gesichter zu sehen oder ihnen auf die Arme und Beine zu treten. Immer wieder rutschte sie ab, fasste in Blut oder geriet mit den nackten Beinen in etwas undefinierbar Weiches. Sie wollte gar nicht wissen, worum es sich dabei handelte, ahnte aber das Schlimmste und musste die Übelkeit unterdrücken, die in ihr aufkam.

Plötzlich verlor sie den Halt, stürzte und fand sich Angesicht zu Angesicht mit einem Toten wieder.

Panisch schrie sie, sprang auf und robbte von dem Mann weg. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und bewegte sich nicht mehr, bis ihr Atem ruhiger wurde und sich Stille über sie gelegt hatte. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis sie den Mut fand, wieder aufzusehen und auf die Beine zu kommen.

»Hallo?«, flüsterte sie. Diesmal bekam sie keine Antwort.

Sie sah sich um und entdeckte zwischen den Leichen eine Hand, die sich ihr kraftlos entgegenstreckte.

»Halte durch!«, rief Ayumi. »Ich bin gleich bei dir.«

Sie suchte nach einem Weg und fand dabei eine Tasche, die offen dalag und ihr Inneres preisgab. Ayumis Herz flatterte, als sie die Wasserflasche darin sah. Eilig stolperte sie drauflos, fiel auf die Knie und schraubte die Flasche auf. Sie trank so gierig, dass ihr das Wasser über die Mundwinkel lief. Eine Erleichterung schuf sich in ihr Platz, wie sie ihr nicht einmal bei dem Genuss des Schokoriegels vergönnt gewesen war.

Sie setzte die Flasche wieder ab und zwang sich zur Vernunft. Etwas davon musste sie aufheben. Schließlich wusste sie nicht, ob sie noch mehr finden würde und wie lange sie ausharren musste, bis endlich Rettung kam.

Sie steckte die Flasche mit dem letzten Drittel Wasser in ihre eigene Tasche, zog sich an einer verbogenen Haltestange hoch und lief weiter. Als sie die Hand erreichte, die sich nach ihr streckte, ergriff sie sie und sank neben dem verletzten Mädchen in die Hocke.

Sie steckte in der Zugwand, als wäre sie wie eine Kanonenkugel durch sie hindurchgeschossen worden. Ihre Beine waren von den scharfen Zacken des gerissenen Metalls aufgeschlitzt und ragten auf unnatürliche Weise von ihr weg. Und bei jedem rasselnden Atemzug, den sie tat, quoll Blut aus den Wunden. Wahrscheinlich war das Metall, das in ihnen steckte, alles, was verhinderte, dass sie verblutete.

Ayumi hielt diesen Anblick nicht aus und schaute ihr ins Gesicht. Sie sah hübsch aus. Nicht so streberhaft wie sie selbst, sie hatte einen schicken Haarschnitt, trug Eyeliner und Lippenstift. Doch die Schminke war von ihren Tränen verwischt und hatte dunkle Ringe unter ihren Augen gebildet.

»Hilf mir«, flehte sie.

Ayumi drückte ihre Hand fester.

Sie nickte, wusste aber nicht, was sie machen sollte, außer hier zu sitzen und dem Mädchen Trost zu spenden. Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet und verhinderte, dass sie etwas antwortete.

»Meine Beine … ich spüre meine Beine nicht mehr«, brachte das Mädchen kraftlos hervor.

»Ich hole Hilfe, okay?«, versprach Ayumi und zwang sich, zuversichtlich zu klingen.

Das Mädchen öffnete den Mund. Tränen ließen ihre Augen schwimmen. »Bitte … Hol mich … hol mich einfach da raus.«

Wie schrecklich sie leiden musste, konnte Ayumi nicht einmal erahnen. Ihr Inneres verkrampfte sich alleine bei dem Gedanken daran. Aber was hätte sie tun können? Sie würde sterben, wenn Ayumi sie befreite.

»Das kann ich nicht«, sagte sie und musste selbst mit den Tränen kämpfen. »Wenn ich dich befreie, dann …«

»Bitte! Ich kann nicht mehr.«

Wie lange war Ayumi durch die Tunnel geirrt? Stunden? Wohl eher einen Tag oder länger. So lange lag dieses Mädchen schon hier, zwischen all den Toten, und litt Schmerzen. Sie wollte nicht mehr, hatte aufgegeben. So wie auch Ayumi kurz davor gewesen war zu kapitulieren.

Sie sah noch einmal zu den Beinen des Mädchens. Vielleicht konnte Ayumi sie abbinden, um ein Verbluten zu verhindern. Vielleicht gab es hier irgendwo einen Erste-Hilfe-Koffer oder jemand hatte ein Schmerzmittel dabei, um ihr das Leiden erträglicher zu machen. Irgendetwas musste sie tun. Sie konnte doch nicht einfach dabei zusehen, wie dieses Mädchen sich quälte.

»Okay, ich werde versuchen, die Blutungen zu stoppen, damit ich dich befreien kann«, sagte sie entschlossen. »Wie ist dein …« Sie schaute zu dem Mädchen und brach ab. Durch weit aufgerissene Augen sah sie Ayumi an. Tote, leere Augen.

Ayumi war wie erstarrt. In ihren Ohren begann es zu rauschen und ihr Atem ging wieder schneller. Sie hatte nicht einmal nach ihrem Namen fragen können.

Plötzlich riss das Mädchen seine Augen noch weiter auf. Golden leuchtete es darin. Sie nahm einen tiefen Atemzug und bäumte sich auf.

Ayumi zuckte vor Schreck zusammen und unterdrückte einen Aufschrei. Panisch robbte sie rückwärts weg. Ihr Herz klopfte wild und ihre Gedanken überschlugen sich.

»Nein«, hauchte sie. »Lass sie! Geh raus aus ihr!«

Der Akuma wandte sich ihr zu, verengte den Blick und sah dann zu dem Körper, von dem er Besitz ergriffen hatte. Als würde er erst jetzt begreifen, wo er gelandet war, drehte er die Hände des Mädchens und betrachtete sie von allen Seiten. Dann schaute er wieder zu Ayumi auf.