KAPITEL 10

AYUMI

TAG 4: DI, 18:00 UHR, TOKIO, JAPAN

Ayumi sprang auf. Sie musste einfach weg. So schnell und so weit sie konnte. Sie erreichte eine unversperrte Tür und stürzte auf die Gleise. Mit den Händen fing sie sich ab, schürfte sie sich auf und kämpfte darum, die Kraft aufzubringen, wieder aufzustehen.

Als es ihr endlich gelang, auf die Füße zu kommen, stand ihr ein weiterer Akuma gegenüber. Es war der Mann, dem sie in den Zug gefolgt war. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Ayumi ihn an. Sie war wie gelähmt. Unfähig zu fliehen.

Neugierig betrachtete der Fremde sie – wie ein Tier im Streichelzoo. Sie kämpfte gegen die Erstarrung an, doch erst, als er die Hand nach ihr ausstreckte, gelang es ihr, die Kontrolle über ihren Körper zurückzuerlangen und vor ihm zurückzuweichen. Mit dem Rücken stieß sie gegen den Zug.

»Du bist keine von uns«, stellte er fest.

»Aber auch kein Mensch«, erklang die Stimme des toten Mädchens. Sie war in die Tür neben Ayumi getreten. Ein seltsames Leuchten ging von ihr aus, das wie ein Spinnennetz aus bläulichen Fäden in die Umgebung floss und sich in den Wunden an ihren Beinen bündelte. Man konnte zusehen, wie sie langsam heilten und der Blutfluss versiegte.

Ayumi schrie und stolperte vor ihr zurück.

»Was bist du?«, fragte der Mann.

Eine weitere Gestalt näherte sich ihr von links. Ayumi riss den Kopf herum. Ein Junge in Schuluniform, kaum älter als sie selbst. Sein Schädel war blutüberströmt.

Sie war umzingelt. Ihr Puls raste.

»Bleibt weg von mir!«, verlangte sie, doch die Akuma näherten sich unaufhaltsam. Das Mädchen neben ihr schlurfte aus dem Zug und der Mann kam auf sie zu. Er hob erneut die Hand und Ayumi wusste sich nicht anders zu helfen, als ihre Arme hochzureißen und ihn von sich zu stoßen.

In dem Moment, in dem sie ihn berührte, durchströmte Ayumi eine Energie wie von einem Blitzschlag. Doch statt Schmerzen spürte sie eine unbändige Kraft – ein fremdes Bewusstsein, Gedanken und Gefühle, die sie nicht zuordnen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie mit dem Akuma verbunden und all ihre Ängste fielen von ihr ab. Sie spürte nichts Böses oder Falsches an ihm. Nur Neugier und eine tief verwurzelte Ruhe, wie sie nur einem Wesen innewohnen konnte, das keinen Hass und keine Lügen kannte.

Der Akuma stolperte vor ihr zurück, die Verbindung riss ab und die Energie – ebenso blau wie das Leuchten um das Mädchen herum – strömte aus ihm heraus, als hätte ein leichter Schlag genügt, um den Dämon aus dem Körper des Mannes zu treiben.

Ayumi musste den Arm vor die Augen heben, um sich vor dem gleißenden Licht zu schützen, das den Tunnel erhellte.

Ein Wesen reiner Energie erhob sich vor ihr und der Körper des Mannes sackte auf die Knie. Vorsichtig senkte Ayumi den Arm wieder, während die Lichtgestalt, bestehend aus wirbelnden blauen Funken, zurück in den Körper floss und die eben noch trüben Augen seiner menschlichen Hülle golden aufblitzten.

Der Junge links von ihr kam näher und Ayumi streckte ihm instinktiv ihre Handfläche entgegen. »Bleib weg oder ich tue dasselbe mit dir!«

Tatsächlich blieb er stehen und sie hob eilig die andere Hand, um auch das Mädchen von sich fernzuhalten.

»Kommt mir ja nicht zu nahe!«, verlangte sie mit fester Stimme. Sie stieß sich von der U-Bahn ab und lief rückwärts von den dreien weg. Keine Sekunde wollte sie diese fremden Wesen aus den Augen lassen.

»Lasst mich einfach in Ruhe!« Sie sah von einem zum anderen. Der Junge drehte sich ihr zu, während sich der Mann erhob und seinen Körper betrachtete.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte er und sah zu Ayumi auf.

»Das geht dich nichts an!«, zischte sie. Sie hatte ja selbst keine Ahnung, wie ihr das gelungen war.

Ihre Hände zitterten, was sie zu unterdrücken versuchte. Nur weil sie nichts Böses gespürt hatte, hieß das noch lange nicht, dass ihr die Akuma nicht gefährlich werden konnten. Es konnte sogar sein, dass diese Wesen sie in dem Glauben lassen wollten, sie wären harmlos. Die Gefühle, die sie gespürt hatte, waren vielleicht eine Täuschung gewesen.

»Du musst nur wissen, dass ich es wieder tun werde, wenn ihr mir zu nahe kommt«, drohte sie. »Und jetzt sagt mir, was ihr von mir wollt.«

Die Akuma wechselten kurze Blicke.

»Du kannst uns sehen«, erwiderte das Mädchen. »Das kann sonst niemand.«

»Und deswegen lasst ihr den Zug entgleisen?«, fragte Ayumi fassungslos.

»Das waren wir nicht«, meinte der Mann. »Diese Welt ist dem Untergang geweiht. Die Membran zwischen eurer Sphäre und der unseren wurde dünn und wir wurden hinübergezogen. Nur aus Neugier sind wir dir gefolgt.«

»Und nun können wir nicht mehr zurück«, sagte der Junge.

»Aber das … das gibt euch nicht das Recht, unsere Körper zu stehlen!«

Wieder wechselten die Akuma kurze Blicke.

Langsam wurden Ayumis Arme schwer. Sie lief weiter rückwärts von ihnen weg, kam so aber nicht sehr weit. Ewig würde sie die drei auf diese Weise nicht von sich fernhalten können.

»Wie viele seid ihr? Sind da noch mehr?« Diesen Gedanken auszusprechen, ließ sie noch nervöser werden, als sie es ohnehin schon war. Ängstlich sah sie sich um.

»Wir sind eins«, sagte das Mädchen.

»Und wir sind Millionen und mehr«, fügte der Junge hinzu.

Ayumis Atem stockte. Was war das? Eine Invasion?

»Aber hier sind wir nur zu dritt«, erklärte der Mann. »Du musst keine Angst haben.« Die letzten Worte sagte er mit Zweifel in der Stimme. Als wäre er sich nicht sicher, ob er Ayumis Verhalten richtig interpretierte.

»Ich habe keine Angst«, behauptete sie mit zittriger Stimme. »Ihr solltet Angst haben. Vor mir. Weil ich euch aus diesen Körpern vertreiben werde, wenn ihr mir zu nahe kommt.«

Sie wich einen weiteren Schritt zurück, blieb dabei mit dem Fuß hängen und ruderte erschrocken mit den Armen. Doch es gelang ihr nicht, das Gleichgewicht wiederzufinden. Sie stürzte, erwartete einen harten Aufprall, aber etwas Weiches fing sie auf.

Langsam senkte sie die Arme und stellte fest, dass sie knapp einen halben Meter vor dem Boden abgebremst worden war. Etwas stach schmerzhaft in ihren Rücken, es gelang ihr jedoch nicht, ihren Körper zu drehen, um zu sehen, was es war.

Der Junge hatte einen Schritt auf sie zugetan und die Arme nach ihr ausgestreckt. Er bewegte die Finger, zog seine Hände langsam zurück und mit ihnen erhob Ayumi sich, ganz ohne dass sie etwas dafür tat.

Erst als sie wieder auf eigenen Füßen stand, konnte sie herumwirbeln und sehen, was hinter ihr lag. Schockiert stolperte sie vor den Wurzeln zurück, die aus der Erde gebrochen waren und sie aufgefangen hatten. Zwischen ihnen ragte eine armlange Glasscherbe in die Höhe. An ihrer Spitze klebte Blut.

Ayumi griff sich in den Rücken und ertastete die Stelle, an der die Scherbe ihre Kleidung durchbohrt und ihre Haut verletzt hatte.

»Du … du hast mir das Leben gerettet«, hauchte sie entgeistert. Sie konnte es nicht fassen. Ohne ihn und die Wurzeln wäre sie ungebremst in diese Scherbe gestürzt und von ihr aufgespießt worden.

»Wenn dein Geist deinen Körper verlässt und du wieder ein Teil des Energiefeldes der Erde wirst wie die anderen Menschen hier unten, werden wir nie erfahren, warum du uns sehen kannst.«

»Wenn ihr so etwas mit den Pflanzen tun könnt, dann könnt ihr auch einen Weg hier rausfinden«, sagte Ayumi und sah von einem Akuma zum anderen. »Ihr könnt die Erde mit den Wurzeln teilen und uns hier rausholen.«

»Das können wir«, sagte der Mann.

»Dann tut das!«

Die drei schwiegen, während in Ayumi die Aufregung bis zum Zerreißen wuchs. Sie war so nahe dran zu entkommen, und das ausgerechnet mithilfe dieser Wesen, von denen sie immer noch nicht glaubte, dass es sie wirklich gab. »Ich sage euch alles, was ihr über mich wissen wollt, wenn ihr mich nach oben bringt«, versprach sie.

»Die Welt dort oben stirbt«, sagte das Mädchen.

Ayumi schüttelte den Kopf. »Das war nur ein Erdbeben«, beharrte sie, auch wenn sie nicht verstand, wie ein einfaches Erdbeben einen Riss durch den Raum verursachen konnte, der es Geisterwesen erlaubte, in die Welt der Menschen zu gelangen.

Der Mann ging entschlossen auf die Tunnelwand zu, legte seine Hände darauf und Ayumi wich zurück, als ein tiefes Grollen zu hören war und die Erde unter ihren Füßen bebte. Steine bröckelten, und als der Akuma seine Hände wieder zurückzog, stob der Beton vor ihm auseinander wie ein von unsichtbarer Hand aufgeschobener Vorhang.

Er wandte sich Ayumi zu und deutete auf die dunkle Öffnung. »Wir folgen dir.«

Zögernd trat Ayumi in die Höhle. Der Durchgang war so schmal, dass sie die Arme nicht ganz ausstrecken konnte, um die Wände zu beiden Seiten zu berühren. Unter ihren Fingern spürte sie den bröckelnden Beton. Der Boden stieg allmählich an und bald berührte sie feuchte Erde.

Licht brach durch die Dunkelheit, blendete sie und ihr stiegen Tränen in die Augen. Sie musste ihre Hand vors Gesicht ziehen.

Oben angekommen, zupfte der Wind an ihrem Haar. Ayumi zog sich aus der Erde, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und kam wackelig auf die Beine.

Um sich ans Tageslicht zu gewöhnen, musste sie mehrmals blinzeln. Es brannte ihr in den Augen und es dauerte eine Weile, bis sie ihre Hände senken und sich umsehen konnte.

Was sie sah, verschlug ihr den Atem und trieb jeden klaren Gedanken aus ihrem Kopf. Erstarrt stand sie am Ausgang der Höhle und betrachtete das endlos scheinende Trümmerfeld um sich herum.

Nichts war geblieben. Nur Schutt und Staub, der wie Nebel darüber hinwegkroch, rötlich im Schein der untergehenden Sonne glänzte und bis hin zum Horizont die Überreste eingestürzter Gebäude bedeckte.

Tokio war fort. Die Millionenmetropole war völlig zerstört worden.