ADDY
TAG 4: DI, 22:00 UHR, BIRMINGHAM, ENGLAND
Addy war wie erstarrt. Ihre Gedanken rasten und nichts von dem, was sie sah, schien einen Sinn zu ergeben. Was tat Ben hier, was war mit ihm geschehen und wieso sprach er mit Casimir? Sie war hin- und hergerissen zwischen Flucht und Konfrontation. Sie wollte Antworten und doch hatte sie Angst davor, die Wahrheit zu erfahren – Angst, dass sich ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten.
»Addy«, sprach Casimir sie an und trat einen Schritt auf sie zu.
Sie schüttelte den Kopf. »Was soll dieses heimliche Treffen? Woher kennt ihr euch?«
Zwischen ihrem ersten Aufeinandertreffen mit Casimir und ihrer Begegnung mit Ben lagen nur wenige Stunden. Konnte das Zufall gewesen sein? War es Zufall, dass sie ihn hier wiedersah? Über hundert Meilen von London entfernt, in einer dunklen Gasse, wo Casimir sich heimlich mit ihm traf?
»Ich hätte es mir denken können«, sagte Ben und trat aus den Schatten. Ein schiefes Grinsen lag auf seinen Lippen.
»Halt du dich da raus!«, fuhr Casimir ihn an.
»Kein Problem«, meinte er belustigt. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an eine Hauswand.
»Was tut er hier?« Addy deutete auf Ben. »Hast du gewusst, dass er mir in London begegnet ist?«
»Ich habe gesehen, wie er uns beobachtet hat, und bin nach unten gegangen«, erklärte Casimir. »Dass ihr euch bereits kennt, wusste ich nicht.« Er sah zu Ben, dessen Grinsen noch breiter wurde.
»Es war also nur ein Zufall, dass ich ihm begegnet bin, wenige Stunden, nachdem ich dich zum ersten Mal gesehen habe?« Sie versuchte, selbst daran zu glauben, doch es gelang ihr nicht.
»Natürlich ist das kein Zufall«, mischte Ben sich ein und stieß sich von der Wand ab.
Casimir baute sich schützend vor Addy auf, woraufhin Ben ihn amüsiert musterte.
»Wie ich sagte«, meinte er. »Du benimmst dich schon wie einer von ihnen. Beschützt dein Weibchen vor dem Fremden.«
»Wir sind uns nicht fremd«, sagte Casimir. »Du und ich, wir waren eins.«
»Das waren wir alle und jetzt sind wir viele. So schnell kann das gehen. Eine neue Welt entsteht und wir sind live dabei.«
»Ich will wissen, was er sagen wollte«, verlangte Addy. Sie legte ihre Hand an Casimirs Arm und schob ihn beiseite. Wenn sie das alles verstehen wollte, brauchte sie die Antworten, die Ben ihr geben konnte. Herausfordernd sah sie ihn an. Angst wollte sie ihm keine zeigen. So wie er sich benahm, würde ihm das nur gefallen. »Warum war es kein Zufall?«, hakte sie nach.
»Na, warum wohl?«, fragte er spöttisch lachend. »Weil du weit und breit der einzige Mensch bist, der uns als das erkennen kann, was wir wirklich sind. Das macht uns alle neugierig.«
»Du bist anders, Addy«, bestätigte Casimir. »Das habe ich dir bereits gesagt.«
»Ich habe dich beobachtet«, meinte Ben und betrachtete Addy ausgiebig. Er begann, sie zu umrunden, doch Casimir zog sie von ihm weg. »Schon als du in London aufgetaucht bist. Und dann bringst du es tatsächlich zustande, eure Massenvernichtungswaffe zu zerstören.«
»Unsere was?«
»Er meint das Kraftwerk«, erklärte Casimir.
»War das nicht das richtige Wort?« Ben schmunzelte. »Tut mir leid, ich bin mit eurer Sprache noch nicht ganz vertraut. Wie nennt ihr ein Gerät, das eigens zum Zweck erbaut wurde, Millionen von Leben zu vernichten?«
»Es war Terra Mater, die das Kraftwerk zerstört hat«, korrigierte Addy ihn, ohne auf seine unterschwellige Anklage einzugehen.
»Das konnte sie allerdings nur, weil du so gute Vorarbeit geleistet hast«, meinte er. »Gut, du hast dadurch ein klaffendes Loch in unsere Welt gerissen, aber was soll’s? Ein paar Dutzend tote … wie nennst du uns? Meliad? Ein paar Tote von uns mehr oder weniger machen da auch keinen Unterschied mehr, nicht wahr?«
»Wie … wie meint er das?«, fragte Addy an Casimir gerichtet.
»Die Lichtsäule, die du gesehen hast«, erklärte der. »Wir hatten geglaubt, das wären nur die Meliad gewesen, die aus der Maschine befreit worden sind. Aber scheinbar wurde der Vortex, den Elekreen in unsere Welt geschaffen hat, mit dem Zerstören des Kraftwerks aufgerissen.«
»Aber das war Terra Mater!«, sagte Addy erschrocken. Sie konnte nicht glauben, dass die Erdmutter solche Fehler beging. »Sie hat das Kraftwerk zerstört, und wenn sie damit weitermacht, was passiert dann mit eurer Welt?«
Casimir schien darauf keine Antwort zu haben und auch Ben zuckte nur mit den Schultern.
»Dein Ansatz, das Kraftwerk abzustellen, statt es in die Luft zu sprengen, war jedenfalls gut«, meinte Ben.
Er hatte offenbar einiges von den Geschehnissen der letzten Tage mitbekommen. Wahrscheinlich beobachtete er sie schon eine ganze Weile und war untätig geblieben, während sie um ihr Leben kämpften. Aber es musste etwas Gutes in ihm stecken. Das bewiesen seine Taten bei ihrer ersten Begegnung.
»Das hätte ich nicht tun können, wenn du mir in London nicht das Leben gerettet hättest«, erinnerte Addy ihn.
Ben sog die Luft ein und schüttelte den Kopf. »Da muss ich dich enttäuschen. Dafür war ich nicht verantwortlich. Das war der Mensch, dem dieser Körper vorher gehört hat.«
Addys Herz begann, schneller zu schlagen. »Du bist nicht Ben«, sprach sie die Erkenntnis aus, die sie plötzlich überrollte. Sie hatte geglaubt, ihn damals nicht als Meliad erkannt zu haben, sich aber wohl geirrt.
»Carson ist mein Name«, stellte er sich vor und wandte sich an Casimir. »Gefällt er dir? Ich habe ihn aus Bens Lieblingsserie. Diese menschliche Sprache ist wirklich spannend, nicht wahr? Alles muss man benennen und klassifizieren.«
Casimirs Miene blieb ungerührt.
»Dann ist Ben …?«, begann Addy, brach jedoch ab, weil ihr die Stimme versagte. Sie wollte nicht wahrhaben, dass der Junge, dem sie ihr Leben verdankte, den Anschlag auf London nicht überlebt hatte. Am Ende waren vielleicht sogar genau die Männer, die sie bedroht hatten, für seinen Tod verantwortlich.
Carson hob erneut die Schultern und wieder umspielte ein wissendes Lächeln seine Lippen. Die goldenen Blitze in seinen Augen zuckten spielerisch und sein Blick durchbohrte Addy. Es war erschreckend, wie leicht es ihm im Vergleich zu Casimir fiel, Gefühlsregungen zu zeigen, und noch erschreckender, dass ihn diese Gefühle berechnend und abgebrüht wirken ließen.
»Und warum bist du uns nach Birmingham gefolgt?«, fragte Addy weiter.
»Ich bin aus demselben Grund hier, aus dem auch ihr hier seid. Ich will die Stadt fallen sehen.«
»Wir sind hier, um sie zu retten«, korrigierte Casimir ihn. »Und dank dir wissen wir nun auch, dass wir das Kraftwerk abstellen müssen, bevor Terra Mater es zerstört und uns Meliad damit noch mehr Schaden zufügt.«
»Du sympathisierst wirklich mit ihnen?«, fragte Carson. »Was findest du an diesen Fleischklopsen mit ihren hormongesteuerten und stumpfsinnigen Gedanken? Stört es dich gar nicht, dass die Erdmutter sie bereits abgeschrieben hat? Wo ist dein Vertrauen in sie und ihre Taten? Es ist nicht an uns Meliad, zu entscheiden und Einfluss zu nehmen. Wir beobachten nur. So haben wir es immer getan.«
»Die Menschen sind mehr als das, was du über sie denkst«, entgegnete Casimir. »Und wir können es auch sein.«
»Ist das so?«
»Wenn du erst einmal eine Weile unter den Menschen lebst, wirst du es verstehen.«
»Das bezweifle ich«, meinte Carson mit fester Überzeugung, lächelte dann aber wieder verstohlen. »Aber ich lasse mich gerne überraschen. Bis jetzt sehe ich nur, wie sie die Belial nähren und ihren Untergang dadurch nur noch mehr beschleunigen.«
»Belial?«, fragte Addy und sah zu Casimir.
»Die Schatten«, erklärte er. »Ich denke, Belial ist das richtige Wort. Dämonen würde vielleicht auch passen.«
»Aber natürlich ist es das richtige Wort«, betonte Carson. »So schwer ist die menschliche Sprache nun auch wieder nicht.«
»Weißt du, was sie hier zu suchen haben?«, fragte Casimir.
»Weißt du es denn nicht?«, erwiderte er belustigt. »Du musst nur eins und eins zusammenzählen. Was habe ich gerade über das klaffende Loch in unsere Welt erzählt?«
»Weißt du es?«, wiederholte Casimir mit Nachdruck.
Carson lachte laut auf. »Aber natürlich. Um von dieser Sphäre ein Tor in unsere zu öffnen, muss man logischerweise alle Sphären durchstoßen. Oder hast du mal versucht, das Loch in einen Donut zu kriegen, indem du nur Milch und Zucker, aber nicht das Mehl im Teig durchtrennt hast? Das ist einfach nicht möglich. Entweder man teilt den ganzen Teig oder gar nicht. Durch die Zerstörung des Kraftwerks riss das Tor auf, die Membran zwischen den fünf Ebenen wurde rissig und einigen Belial gelang es, in die Sphäre der Menschen überzutreten. Was passieren wird, wenn weitere dieser Kraftwerke zerstört werden, ist offensichtlich. Alle Grenzen werden fallen.«
»Und was bedeutet das?«, fragte Addy. »Wie werden wir diese Dinger wieder los?«
»Gar nicht«, sagte Carson nüchtern.
Addy schüttelte den Kopf. Es musste einen Weg geben, die Belial zu bekämpfen. Sie wussten nur noch nicht, wie.
»Wir müssen etwas tun«, sagte sie.
»Das werden wir«, versprach Casimir.
Carson sah von ihm zu Addy und schmunzelte. »Sehr süß«, meinte er und begann, fade zu applaudieren.
Carson war so anders als Casimir. Während Casimir noch immer lernte, menschliche Gefühle zu verstehen und mit ihnen umzugehen, schienen sie Carson bereits ins Blut übergegangen zu sein. Doch leider nicht im Guten.
Schritte in ihrem Rücken zogen Addys Aufmerksamkeit auf sich und sie wirbelte herum.
»Was geht hier vor?«, fragte Dave.
Er stand mitten auf der Straße, hatte seine Hände zu Fäusten geballt und fixierte sie durch schmale Augen. »Wer ist das? Wieso schleicht ihr euch heimlich raus?«
Carson trat vor, hob die Hand und Blitze zuckten zwischen seinen Fingern. »Soll ich den Spion erledigen?«
»Nein!«, fuhr Addy ihn an.
»Verdammte Scheiße, das ist noch einer von denen!«, schrie Dave und stolperte von ihnen weg.
»Nimm die Hand runter«, forderte Addy Carson auf.
»Warum sollte ich auf dich hören?«, lachte er.
»Weil du es sonst mit mir zu tun bekommst«, warnte Casimir ihn.
In Carsons Augen funkelten die Blitze. Er hob beschwichtigend die Hände und trat einen Schritt zurück, doch das Schmunzeln auf seinen Lippen verriet, dass man ihm nicht trauen konnte. »Ihr werdet es noch bereuen, aber bitte, übernehmt ihr das«, sagte er und deutete auf Dave.
Addy trat vor. »Ja, er ist ebenfalls ein Meliad. Und er wird uns helfen, das Kraftwerk abzuschalten.« Sie hoffte, dass Dave ihr zuhören und glauben würde. Er hatte allen Grund dazu, das nicht zu tun.
»Werde ich das?«, fragte Carson.
Sie hätte ausrasten können. Es war so schon schwer genug, zu Dave vorzudringen. Auch ohne Carsons Spitzfindigkeiten. Sie wandte sich ihm zu. Er war gefährlicher als Casimir, weil er unberechenbar war und kein Verständnis für die Menschen zu haben schien. Aber auch er musste einsehen, dass es um ihrer aller Welt ging.
»Das wirst du, weil sie dort deinesgleichen töten«, erinnerte sie ihn. »Und weil wir zusammenarbeiten müssen, wenn wir deine und unsere Welt retten wollen. Selbst wenn das bedeutet, Terra Mater nicht einfach schalten und walten zu lassen, wie sie möchte.«
Carson sah sie durch schmale Augen an. Er schien zu überlegen und schließlich grinste er breit und vollführte eine ausholende Bewegung, die einer Verbeugung glich. »Also gut.«
Dave schüttelte den Kopf. »Ich lasse nicht noch einen von denen in Blairs Wohnung. Ich will nicht, dass ihr wieder mit hochkommt. Ihr sollt gehen. Ihr alle. Bleibt einfach weg von uns und lasst uns in Frieden!«
»Ich würde meinen, das Problem erübrigt sich«, sagte Carson und deutete auf das Gebäude in Daves Rücken.
Addy folgte seinem Fingerzeig.
Erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie die Linien, die allmählich über die Fassade krochen. Im ersten Moment dachte sie an Risse, bis ihr klar wurde, dass es sich dabei um Kletterpflanzen handelte, die sich ausweiteten wie ein Spinnennetz und das Haus völlig zu umschlingen drohten. Der Verputz begann zu rieseln und plötzlich brach eine Fensterbank aus der Wand, stürzte zu Boden und zerplatzte laut scheppernd auf der Straße.
Dave stolperte erschrocken zurück und auch Addy musste schützend die Hände vors Gesicht ziehen.
»Patti!«, stieß Addy aus und rannte, ohne nachzudenken, los. Sie erreichte den Eingang, fing sich mit der Hand ab und sah, dass die Pflanzen unter ihrer Berührung zurückwichen, wie sie es auch schon in Orsett getan hatten.
Ein Blick zurück verriet ihr, dass Dave versuchte, ihr zu folgen, aber von peitschenden Schlingpflanzen davon abgehalten wurde.
»Überlass das den großen Jungs«, meinte Carson, fasste ihn an die Schulter und bekam Daves volle Wut ab, als der daraufhin knurrte wie ein Hund und den Meliad von sich stieß.
Addy konnte es sich nicht erlauben, länger zu zögern. Sie rannte ins Innere des Gebäudes und stürzte die Treppe nach oben.