ADDY
TAG 5: MI, 08:00 UHR, BIRMINGHAM, ENGLAND
Der Lärm, der auf den Straßen herrschte, weckte Addy aus schweren Träumen auf. Sie stöhnte, sah sich um und stellte fest, dass die provisorischen Schlafstätten der anderen aufgewühlt und verlassen waren.
Ihr Blick wanderte hinauf zur Decke, wo sie Staub dabei zusehen konnte, wie er in Lichtbalken tanzte, die sich quer durch den Raum warfen. Es dauerte eine Weile, bis sie die Erinnerungen an letzte Nacht wieder klar vor Augen hatte.
Nachdem sie gezwungen gewesen waren, Blairs Wohnung aufzugeben, hatten sie sich stundenlang durch Birmingham geschlagen. Sie waren Randalierern ausgewichen, hatten die Polizei und die Absperrungen des Militärs gemieden und waren schließlich hier gelandet – in einem verlassenen geplünderten Bekleidungsgeschäft.
Addy konnte höchstens ein paar Stunden geschlafen haben. Ihr Schädel brummte und ihr Nacken war vom Liegen auf dem harten Boden verspannt. Schwerfällig richtete sie sich auf, rieb sich die Augen und ließ ihre steifen Schultern kreisen.
Sie sah sich um und entdeckte Casimir am vernagelten Schaufenster, wo er scheinbar die ganze Nacht verbracht hatte und zwischen den Brettern hindurch die Straße beobachtete.
»Hey«, sprach sie ihn verhalten an. Sie war sich nicht sicher, wo sie beide standen. Bisher hatten sie keine Gelegenheit gehabt, über die Geschehnisse zu reden.
Casimir wandte sich ihr zu und lächelte sanft.
»Hey«, antwortete er und Addys Herz machte einen Satz. Sie erwiderte das Lächeln und irgendwie wirkte es, als wäre damit jedes böse Wort zwischen ihnen, jeder falsche Verdacht und jeder Vorwurf weggewischt.
»Hast du überhaupt geschlafen?«, fragte sie und schälte sich aus den Jacken, die sie als Decke benutzt hatte.
Er sah wieder zum Fenster. »Lange werden wir hier nicht sicher sein.«
»Du brauchst Schlaf«, erklärte sie eindringlich, ohne auf seine Warnung einzugehen. »Ich weiß nicht, wie es bei euch Meliad ist, aber Menschenkörper brauchen Ruhe, um sich zu regenerieren.«
Sie ging zu ihm und spähte ebenfalls zwischen den Brettern hindurch. Nun sah sie, was so viel Lärm verursachte, dass sie davon aufgewacht war. Randalierer zogen durch die Straßen. Sie waren mit Baseballschlägern bewaffnet, schlugen auf Autos und Fensterscheiben ein, warfen Molotowcocktails und traten alles kurz und klein, was ihnen in den Weg kam.
»Was glauben sie, damit zu bezwecken?«, fragte Addy mehr sich selbst.
»Vielleicht erhoffen sie sich, gehört zu werden, wenn sie laut genug schreien«, mutmaßte Casimir.
Wahrscheinlich hatte er damit recht. War es nicht schon immer so, dass die, die sich von Frustration und Hass lenken ließen, am lautesten waren? So laut, dass man glauben könnte, sie wären in der Überzahl, selbst wenn es nur wenige waren.
»Schau genauer hin«, forderte Casimir sie auf.
Addy beugte sich vor und verengte den Blick. Auch wenn die meisten der Aufrührer vermummt waren, erkannte sie schnell, was Casimir meinte. Sie sah die Schatten, die um die Augen der Menschen lagen und ihnen wie schwarze Adern die Hände hinaufkrochen. Ihr wurde ganz anders bei diesem Anblick.
»Sind die Belial für das Verhalten der Menschen verantwortlich?«
Casimir sah sie lange an. »Nein, das seid ihr selbst.«
Wie gerne hätte Addy ihm widersprochen, hätte behauptet, die Menschen würden nicht grundlos auf die Straße gehen und voller Gewalt und Hass gegen etwas demonstrieren, das sie gar nicht kannten oder verstanden. Sie würden nicht zertrümmern und zerstören, nur weil sie nicht wussten, wohin mit ihrer aufgestauten Wut. Aber sie wusste, dass es tief in den Menschen verwurzelt war, auf Zerstörung mit noch mehr Zerstörung zu reagieren und ihre Angst vor allem, was fremd und damit unberechenbar war, in Wut und Hass auszudrücken. Dazu brauchte es keine übernatürlichen Wesen, die sie dazu verleiteten.
»Die Belial gab es schon immer«, erklärte Casimir. »Die Dunkelheit ist ein Teil dieser Welt, genau wie das Licht. Sie nährt nicht, sie wird genährt. Der Unterschied ist, dass sie nun nicht mehr nur in ihrer eigenen Sphäre wächst und gedeiht. Wenn es stimmt, was Carson sagt, dann sind die Belial, die hierhergelangt sind, in einer ähnlichen Lage wie er und ich. Sie gelangten hierher, können aber weder zurück noch hier in ihrer ursprünglichen Form überleben. Also nisten sie sich in Menschen ein. In jenen, die verborgene düstere Gedanken in sich tragen und damit den perfekten Nährboden für diese Schattenwesen bieten. Ich hätte es viel früher erkennen müssen. Schließlich bin ich selbst durch alle Ebenen gefahren, als ich von meiner Sphäre in eure gezogen wurde. Nur dadurch konnte Terra Mater mir einen Blick auf die Zukunft dieser Welt gewähren. Ich hätte erkennen müssen, was passiert, wenn die Tore weiter aufreißen. Das, was Elekreen getan hat, ist, wie eine Furche von einem Fluss zu einem anderen zu ziehen. Selbst wenn man nur das Wasser umleiten will, lässt es sich nicht vermeiden, dass Erde und Gestein vom Rand der Furche gerissen und mitgeschwemmt werden, sollte der Strom zu stark sein.«
»Wie hättest du das ahnen sollen? Du wusstest ja nicht, dass dieses Tor weiter aufreißt, wenn Terra Mater das Kraftwerk zerstört.«
Casimir antwortete nicht darauf. Er beobachtete weiter die Straße und Addy musste an Dave denken, an die Schatten, die sie in ihm gesehen hatte, und an seine Wut, die mehr und mehr wuchs.
Ob es der tief in ihm vergrabene Zorn auf seinen Vater und dessen Affären gewesen war, der den Belial angelockt hatte? Er hatte sich wahrscheinlich kurz nach der Straßensperre vor Birmingham und ihrer Flucht vor dem Militär in ihm eingenistet. Wahrscheinlich unmittelbar nachdem Addy die Schatten das erste Mal gesehen hatte.
»Was passiert mit den Menschen, die befallen sind?«, fragte sie leise.
»Ich kann nur raten, aber so, wie ich die Belial kenne, verdrängt die Dunkelheit alles Gute in ihnen, bis sie ganz von ihrem Hass beherrscht werden.«
Addy konnte nicht glauben, dass das wirklich geschah und Dave dem direkt vor ihren Augen ausgesetzt gewesen war, ohne dass sie begriffen hatten, was in ihm vorging. Sie konnte nur hoffen, dass der Belial verschwunden war, nachdem Dave seinem Ärger Luft gemacht hatte.
»Addy?«, rief Patti ihr zu.
Nur langsam gelang es ihr, sich von den Gedanken zu lösen, die ihr durch den Kopf schossen. Sie hob den Blick und entdeckte Patti im Pausenraum des Ladens. Dave saß dort an einem Tisch und wirkte ganz normal. Von irgendwelchen Schatten war nichts zu sehen.
»Ich komme«, versprach Addy, was Patti mit einem Nicken erwiderte.
»Eines noch«, hielt Casimir sie auf.
»Ja?«, fragte sie, immer noch neben sich stehend.
»Das, was du gesagt hast … Wegen den menschlichen Gefühlen.«
»Ich war wütend«, unterbrach sie ihn. »Ich habe nicht zu Ende gedacht, sonst hätte ich dir das niemals vorgeworfen.«
Er schüttelte den Kopf. »Darauf wollte ich nicht hinaus. Ich weiß, dass du es nicht so meintest. Aber du hattest recht. Ich verstehe das Menschsein nicht sehr gut. Ich lerne erst, es zu verstehen.«
»Aber du lernst schnell. Wenn ich daran denke, wie du bei unserer ersten Begegnung warst und wer du heute bist, verstehst du schon viel mehr von uns Menschen.«
»Das mag sein, aber so schnell wie er lerne ich nicht.« Er nickte zum Nebenraum, wo Carson gerade dabei war, mit Blair anzubandeln. Die beiden schienen sich prächtig zu amüsieren. Blair zwirbelte ihr Haar mit den Fingern, lächelte verstohlen und Carson hatte seine Hand auf ihre Hüfte gelegt, während er ihr etwas ins Ohr flüsterte.
»Du hattest recht damit, dass ich, wie du sagtest, böse auf dich war«, erklärte Casimir weiter. »Und das völlig grundlos. Ich dachte, ich hätte das Menschsein schon ziemlich gut im Griff und dein Vorwurf würde nicht zutreffen. Aber jetzt verstehe ich, dass ich noch weit davon entfernt bin, so zu sein wie ihr. Carson hat einen Blick auf Dave geworfen und sofort gewusst, was mit ihm los ist. Ich habe es nicht bemerkt.«
»Dann …« Addys Gedanken überschlugen sich. »Dann ist der Belial noch in ihm?«
Sie sah wieder zu Dave, dem sie nichts anmerken konnte. Vielleicht war die Dunkelheit in ihm zumindest abgeschwächt und sie würden einen Weg finden, sie ganz aus ihm zu vertreiben.
»Es tut mir leid«, sagte Casimir.
»Du musst dich nicht entschuldigen. Nicht dafür. Mag sein, dass Carson die Palette menschlicher Gefühle schneller abspulen kann als du. Aber das macht ihn nicht besser. Im Gegenteil.« Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie senkte den Blick, weil es ihr schwerfiel, ihm bei diesen Worten in die Augen zu sehen.
»Ich war wütend und habe Dinge gesagt, die ich bereue. Aber glaub mir, ich will nicht, dass du so wirst wie er. Ich will, dass du du bleibst. Weil … weil ich dich mag, so wie du bist. Und weil ich mich weniger einsam fühle, wenn du bei mir bist. Stärker und zuversichtlicher.« Sie hob die Hand, zögerte, überwand sich dann aber und legte sie auf seine Brust. Seine Wärme ging augenblicklich auf sie über, vertrieb ihre Ängste und sie spürte, wie die Energie seines wahren Wesens durch seinen Körper bis in ihre Fingerspitzen strömte.
Ihr Atem ging schneller, wenn sie ihm so nahe war. Sie wollte, dass er sie festhielt und nie wieder losließ, wollte, dass alles um sie herum stillstand, damit ihre Sorgen und Ängste ihnen nichts mehr anhaben konnten.
»Alles, was ich bin, verdanke ich dir«, sagte er leise, legte seine Hand unter ihr Kinn und hob es an. »Erinnerst du dich an die kleinen Dinge, von denen du mir erzählt hast? Die Dinge, die das Leben lebenswert machen? Wenn ich dich ansehe, glaube ich, dass diese Dinge das Einzige sind, was zählt. Und alles andere verstummt, wenn du mir nahe bist.«
Er blickte sie an, versank in ihren Augen, ebenso wie sie in seinen, und ließ seine Finger ganz sanft über ihre Wange wandern. Ein wohliger Schauer durchfuhr Addy, ihr Herz pochte heftig und sie öffnete leicht den Mund, als er ihr näher kam.
Der Geruch nach flimmernder Energie wurde so intensiv, dass er Addy umhüllte und auffing. Seine Lippen berührten beinahe schon die ihren, ihr wurde warm, als seine Energie auf sie überging und sie seine Gefühle, seine Zuneigung und seinen Wunsch, ihr nahe zu sein, spüren ließ. Sie verschmolzen in der Berührung, ihre Leben vermischten sich, wurden eins und sein Atem erfüllte sie bis tief in ihr Innerstes.
»Bäh, wie eklig«, raunte es von der anderen Seite des Raumes.
Casimir löste sich von ihr, bevor ihre Lippen sich berührten, und sah auf.
Addy fühlte sich benommen und hatte Mühe, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Langsam wandte sie sich um und sah Carson in der Tür stehen. Er lehnte dort lässig am Rahmen, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und das Gesicht verzogen, als läge ein übler Geruch in der Luft.
»Das ist, wie dabei zuzusehen, wie ein Pavian eine Qualle poppt«, verspottete er sie.
Addy stieg die Galle hoch. Carson machte sie so wütend.
Sein Grinsen wurde nur noch breiter, als er sah, wie Addy sich ärgerte. Er stieß sich vom Türrahmen ab und kam lässig auf sie zugelaufen.
»Addy, kommst du?«, rief Patti ihr zu.
»Sofort«, sagte sie und lief an Carson vorbei.
Sie traute ihm nicht. Nicht wirklich. In gewisser Weise war er ihr zu menschlich. Zu unberechenbar und überheblich. Aber sie wusste ihn lieber in ihrer Nähe als irgendwo da draußen, wo er sie beobachten würde und alles Mögliche anstellen konnte.
An der Tür zum Aufenthaltsraum wartete Patti bereits auf sie, doch Addy wandte sich noch einmal zu Carson um, der Casimir derweil erreicht hatte, vertraut den Arm um ihn legte und ihm leise etwas zuraunte. Zu gerne hätte sie gewusst, was er im Geheimen mit ihm zu bereden hatte. Aber wahrscheinlich wollte er sie auch damit nur ärgern.
»Tut mir leid, dass ich so lang geschlafen habe«, entschuldigte sie sich bei Patti.
Die winkte ab. »Wir sind auch erst ein paar Minuten wach. Wir sind unsere Vorräte durchgegangen und es sieht nicht gut aus. Auf die Schnelle haben wir ja kaum etwas in die Rucksäcke packen können und müssen jetzt noch ein weiteres Maul stopfen.«
Addy schaute flüchtig zu Carson, wandte sich dann aber wieder dem Tisch zu, auf dem ein geöffneter Rucksack stand. Die Schränke im Aufenthaltsraum waren leer geräumt und von Blair hatten sie nur ein paar Dosen Hundefutter mitgebracht. Diese und eine halbe Packung Kekse waren alles, was auf dem Tisch stand.
»Wie sieht es mit Wasser aus?«, fragte Addy.
Blair, die an der Küchenzeile stand, öffnete als Antwort den Wasserhahn, woraufhin nur ein hohles Glucksen zu hören war. Kein Tropfen fand seinen Weg durch die Rohre.
»Abgestellt«, sagte sie.
»Es hört sich vielleicht blöd an, aber im Spülkasten der Toilette könnten ein paar Liter sein«, überlegte Addy und sah zu Dave, der am Tisch saß und die Hundefutterdosen anstarrte, als könne er sie mit bloßem Wunschdenken in Steaks verwandeln. »Dave?«, sprach sie ihn vorsichtig an. »Könntest du nachsehen?«
In seiner Gegenwart wollte sie nicht über die Belial sprechen, aber die anderen mussten erfahren, was hier vor sich ging.
Dave sah erschrocken zu ihr auf. »Was?«
»Ob du nach dem Spülkasten sehen kannst«, wiederholte sie.
Er legte die Stirn in Falten.
»Wir vermuten, da könnte noch Wasser drin sein«, erklärte Patti.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Addy.
»Klar, was soll schon sein?«, entgegnete er gereizt, lehnte sich zurück und sah sie verächtlich an. »Ich finde es super, dass wir jetzt zwei von …« Er brach ab, sah flüchtig zu Blair und sprach dann durch zusammengebissene Zähne weiter. »Von denen da bei uns haben. Und dass Jared erschossen wurde, ist doch auch toll. Einer weniger, den wir mitschleppen müssen. Und jetzt dürfen wir auch noch Wasser aus der Toilette trinken. Von dem Flittchen, das meiner Mum den Mann ausgespannt hat, will ich gar nicht erst anfangen. Mir könnte es nicht besser gehen.«
»Was fällt dir ein!«, fuhr Blair ihn an und machte einen Schritt auf Dave zu.
»Ganz ruhig«, bat Addy und hob die Hand, um Blair davon abzuhalten, sich auf ihn zu stürzen.
Während er gesprochen hatte, waren Schatten über seine Haut gekrochen. Addys Hoffnung, der Belial wäre in den Hintergrund gerückt, schwand damit. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen und diese Dunkelheit zog sich wie ein Geschwür über seine Wangen.
Flüchtig sah sie zu Patti. Weder sie noch Blair schienen etwas davon mitzubekommen. Also konnte Addy nicht nur als Einzige die Blitze in den Augen der Meliad sehen, sondern auch die Schatten, die die Belial verursachten.
Addy wandte sich ihm zu. »Du darfst das nicht in dich hineinfressen«, erklärte sie einfühlsam. So wie er sich benahm, hatte sie ihn nicht kennengelernt. Es war der Belial, der aus ihm sprach, der ihn von innen heraus auffraß und seine ganze Persönlichkeit veränderte. Es musste einen Weg geben, an Dave heranzukommen und zu verhindern, dass er sich ganz und gar verlor.
Dave zog seine Hand weg, als Addy danach griff, und sah sie an, als wären ihre Worte eine Beleidigung gewesen.
»Wer gibt dir das Recht zu entscheiden, wie ich mich zu verhalten habe?«, giftete er sie an und stand auf. »Wer gibt dir das Recht, überhaupt zu entscheiden?«
»Jetzt komm mal runter«, verlangte Blair.
»Misch du dich da nicht ein!«, knurrte er sie an. »Du bist doch nichts weiter als eine kleine Schlampe, die sich an verheiratete Männer ranmacht.«
Blair schnappte nach Luft.
»Jetzt mal halblang!«, mischte sich Patti ein, doch Blair hielt das nicht auf.
»Dein Dad ist Witwer, schon vergessen? Und es stimmt nicht, dass wir was miteinander hatten, während deine Mum noch am Leben war.«
»Klar«, höhnte er. Die Schatten weiteten sich aus und färbten seine Augen schwarz.
»Hört auf!«, verlangte Addy.
»Abgesehen davon«, fuhr Blair fort. »Ich hätte euch gar nicht in meine Wohnung lassen müssen und erst recht nicht meine Vorräte mit euch teilen!«
»Bitte!« Addy wollte Dave beruhigen und nicht noch mehr aufregen. Doch das ging gerade nach hinten los. Die ganze Situation geriet außer Kontrolle.
»Er war kein Witwer, als ihr euch kennengelernt habt. Was, glaubst du, hat meine Mum ins Grab gebracht?«
»Ich sicher nicht!«, zischte Blair.
»Jetzt beruhigt euch mal.« Patti schob sich zwischen Dave und Blair, doch die stieß sie beiseite, schnappte sich den Rucksack und warf die Vorräte hinein.
»Ich verschwinde von hier«, knurrte sie.
»Mach doch!«, schrie Dave. »Du kannst sowieso nirgendwo hin. Die ganze verdammte Welt geht gerade unter. Und wem haben wir das zu verdanken?«
Er deutete auf die Meliad. Addy folgte seiner Geste, sah zu Casimir, der besorgt, aber auch alarmiert wirkte, und dann zu Carson, der die Szene mit Skepsis beobachtete.
»Wovon redet er?«, fragte Blair.
Addy und Patti wechselten kurze Blicke.
»Vielleicht ist es an der Zeit, es ihr zu erklären«, meinte Patti.
Addy nickte. Es wäre sicher das Beste, wenn Blair und Patti den Raum verließen, damit Dave sich beruhigen konnte.
»Ja, sagt es ihr!«, verlangte Dave und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin gespannt, was sie davon hält.«
Mit einem gehässigen Grinsen auf den Lippen stand er da und wartete darauf, dass Addy mit der Wahrheit rausrückte, legte dann aber die Stirn in Falten und fasste sich an die Nase. Verwundert betrachtete er das, was ihm an den Fingern klebte. Es war kein Blut. Es war schwarzer, dickflüssiger Schlick.
Addys Pulsschlag beschleunigte sich. »Casimir!«, rief sie, ohne den Blick von Dave zu nehmen. Vorsichtig brachte sie etwas Abstand zwischen sich und ihn.
»Hast du Nasenbluten?«, fragte Blair und wollte zu ihm, doch Addy hielt sie auf.
»Patti, vielleicht erklärst du Blair alles«, schlug sie vor. »Am besten, du gehst mit ihr dafür irgendwohin, wo es ruhiger ist.«
Patti war selbst geschockt von dem, was mit Dave geschah. Sie brauchte eine Weile, um sich aus ihrer Erstarrung zu lösen und zu begreifen, worauf Addy hinauswollte. Schließlich nickte sie, packte Blair bei den Schultern und drehte sie von Dave weg. »Komm. Ich erzähle dir alles.«
Kaum dass sie den Raum verlassen hatten, trat Casimir neben Addy.
»Es sieht nicht gut aus, oder?«, fragte er.
»Was passiert mit mir?«, verlangte Dave zu erfahren.
Die Schatten griffen von ihm auf die Umgebung über und liefen ihm als dickflüssiger Schlick aus Nase und Ohren. Sein Atem ging schneller, die Lampe über ihm flackerte und fiel schließlich aus. Es war, als würde jedes Licht vor der Finsternis fliehen, die in ihm wuchs.
»Es ist wichtig, dass du dich beruhigst«, erklärte Casimir mit erhobenen Händen.
»Was passiert hier?!«, schrie Dave und spuckte ihnen dabei schwarzen Schlick entgegen. Erschrocken taumelte er zurück und schlug sich die Hände vor den Mund.
Wie konnte das mit einem Mal so schnell gehen? Eben noch hatte Addy geglaubt, zu ihm vordringen zu können, und plötzlich schien die Dunkelheit ihn regelrecht zu verschlingen. Sie durften ihn jetzt nicht aufgeben! Es musste einen Weg geben, das fremde Wesen zu besiegen.
»Es sind die Belial«, erklärte sie und machte einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu. Casimir legte eine Hand an ihren Arm, doch sie ließ sich davon nicht beirren. »Einer von ihnen hat sich in dir festgesetzt und wird stärker, je mehr Wut sich in dir aufstaut. Versuch, an etwas Positives zu denken.«
Das war das Einzige, was ihr einfiel. Etwas von dem Dave, den sie kannte, musste noch übrig sein. Hoffentlich genug, um stärker zu sein als seine finsteren Gedanken.
Dave starrte auf seine Hände. Der Belial, der sich in ihm eingenistet hatte, war nun auch für ihn gut sichtbar.
»Etwas Positives?«, stieß er aus. Seine Hände zitterten vor Anspannung. »Schau mich an! Was soll daran gut sein?«
Wie Tinte, die durch die Fasern von Papier dringt, krochen die Schatten von ihm aus über den Boden, die Wände, bis hin zur Decke. Der kleine Raum, in dem sie sich befanden, verwandelte sich nach und nach in ein schwarzes Loch, in das kein Licht mehr vordrang.
»Es ist der einzige Weg«, sagte Casimir. »Wir können dir nicht helfen. Das kannst nur du selbst.«
»Ihr könnt nicht oder ihr wollt nicht?«
Sie drangen nicht zu ihm vor, egal, was sie sagten. Addy wusste nicht, was sie noch tun konnten, um zu verhindern, dass der Belial gewann.
»Dave, bitte«, flehte sie. »Bitte versuch, dagegen anzukämpfen. Versuch, dich an etwas zu erinnern, was dich glücklich macht.«
Daves Blick verengte sich, er sah zu Boden, als wäre er ganz in Gedanken, seine Atemzüge wurden tiefer und sein ganzer Körper begann zu beben.
»Glücklich?«, murmelte er.
Plötzlich krümmte er sich, schrie so laut, dass es Addy durch Mark und Bein ging, und fasste sich an den Kopf.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse. »Was passiert mit ihm?«, fragte sie mit überschlagender Stimme.
Panik beherrschte ihr Denken. Sie wollte nicht auch ihn verlieren! Sie mussten irgendetwas tun, aber was?