KAPITEL 15

LIAM

TAG 5: MI, 18:00 UHR, WINTER FALLS, AUSTRALIEN

Liam rüttelte an der Ladentür, trat einen Schritt zurück und blickte hinauf zu den Fenstern im Obergeschoss. Lichter brannten keine, das Geschlossen-Schild baumelte am Türgriff und Bretter an den Fenstern wiesen darauf hin, dass es so bald keine Blumen mehr zu kaufen gäbe.

Allmählich beschlich ihn das Gefühl, reingelegt worden zu sein. Wahrscheinlich hatte sich Jack, kurz nachdem Liam ihn aufgesucht hatte, seine Tochter geschnappt und die Stadt verlassen, wie viele andere Bewohner Winter Falls’ auch.

Verächtlich schnaubend, kickte er einen Stein über den staubigen Boden, schob die Hände in die Hosentaschen und wandte sich der Stadt zu.

Es sah hier noch ungemütlicher aus als am Tag zuvor. Auch die Tankstelle und die Bar waren mittlerweile geschlossen. Die meisten Häuser waren verrammelt und Autos sah man kaum noch welche.

Liam hatte sich für diesen verflixten Aborigine weit aus dem Fenster gelehnt. Er hatte seine Eltern belogen, und würde er jetzt zur Polizei gehen, um Anzeige zu erstatten, würde man ihm sicher kein Wort mehr glauben.

Er konnte ja schlecht erklären, warum er nicht gleich mit der Wahrheit rausgerückt war. Dass er erst einmal hatte sichergehen wollen, ob es diese Naturgeister nicht doch gab, klänge einfach nur verrückt.

Noch einmal wandte er sich dem Laden zu und verengte die Augen zu Schlitzen, im Versuch, etwas in der Dunkelheit im Inneren zu erkennen. Aber da war nichts. Keine Bewegung, niemand, der sich versteckte und darauf wartete, dass er endlich abzog.

Allerdings schien es einen Nebeneingang zu geben, wie er bemerkte, als er sich noch einmal umsah. Ein hüfthohes Gittertor versperrte den Zugang und ein Schild, das vor dem Betreten Unbefugter warnte, hing rostig und schief daran.

Liam schlenderte möglichst unauffällig darauf zu, sah sich flüchtig um und sprang dann mit einem Satz darüber hinweg.

Der Weg endete an einer Haustür. Er vermutete, dass sie zu einer Wohnung oberhalb des Ladens gehörte. Von Klingel und Namensschild war nichts zu sehen, also hob er die Hand, um anzuklopfen. In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und Grace stand vor ihm.

»Zur Not steig ich da halt ein!«, rief sie nach hinten, wirbelte herum und rannte geradewegs in Liam hinein.

»Was zum …!«, stieß sie aus.

Liam hob verteidigend die Hände.

»Was tust du denn hier?«, fauchte sie ihn an und betrachtete ihn finster. »Kannst du nicht aufpassen, wo du hinläufst?«

»Na, hör mal! Du bist in mich gerannt.«

»Tsss«, zischte sie genervt und schob ihn beiseite.

Mit erhobenem Kinn zog sie an ihm vorbei und ihr blumiger Duft stieg ihm in die Nase. Eigentlich mochte er diesen Geruch gar nicht, aber bei ihr war das anders. Er konnte nicht verhindern zu lächeln, während er ihr nachsah.

Die Einkaufstaschen in ihrer Hand ließen ihn schlussfolgern, dass es der Supermarkt war, in den sie einbrechen wollte. Wenn der ebenfalls geschlossen hatte, blieb den Leuten ja gar keine andere Wahl. Im Gegensatz zu den Farmen hatten die Stadtbewohner sicher keine großen Vorratskammern, auf die sie zurückgreifen konnten.

Grace lief zum Tor, blieb auf halbem Weg aber stehen und wandte sich ihm noch mal zu. »Lesen kannst du auch nicht, oder? Wer hat dir erlaubt, hier einfach übers Tor zu springen?«

Liam grinste schief, legte sich gerade eine passende Antwort zurecht, da winkte sie bereits ab.

»Ach, vergiss es!«, meinte sie und nickte zur Haustür. »Mein Vater ist drinnen. Klär deinen Kram mit ihm und verschwinde von hier. Und lass dir ja nichts zu essen andrehen. Wir haben nichts zu verschenken.«

Sie wandte sich wieder zum Gehen, noch bevor er etwas sagen konnte, und gerade, als ihm einfiel, was er ihr hinterherrufen könnte, erschien Jack im Türrahmen.

»Du hast dir viel Zeit gelassen«, sagte er.

Liam wandte sich ihm nur kurz zu, sah dann wieder nach vorne, doch Grace war bereits verschwunden.

»Mist«, knurrte er. Sicher hielt sie ihn für einen totalen Trottel, weil er in ihrer Gegenwart kein vernünftiges Wort rausbekam. Dabei war er doch eigentlich ziemlich schlagfertig. Zumindest hatte er das bisher immer von sich geglaubt.

»Ignorier sie einfach«, meinte Jack. »Sie kommt ganz nach ihrer Mutter. Spitze Zunge, aber ein gutes Herz.«

Liam hob in geheucheltem Desinteresse die Schultern und Jack winkte ihn ins Haus.

Eine schmale Treppe führte hinauf zu den Wohnräumen. Durch die kleinen Fenster fiel nur wenig Licht. Dunkle Möbel und verblichene Tapete taten ihr Übriges, um die enge, vollgestopfte Wohnung ungemütlich und düster wirken zu lassen. Mit einem Blumenladen in einer Kleinstadt mitten im rauen Hinterland Australiens verdiente man wohl nicht genug, um sich ein schickes Heim einzurichten.

Liam blieb im Gang stehen, ließ seinen Blick über die Porzellanfiguren auf der Anrichte und die Jagdtrophäen an den Wänden schweifen. Für einen kurzen Moment überkam ihn das Bild seines eigenen Schädels, zwischen Hirschgeweih und Wildsaukopf, hängend an der Wand dieses Mannes. Er schüttelte diesen Gedanken ab, tastete zur Beruhigung seiner Nerven aber nach dem Klappmesser in seiner Hosentasche. Was auch immer ihn erwartete, diesmal würde er sich nicht so einfach überrumpeln lassen.

»Kommst du?« Jack wartete an der Tür zum Wohnbereich auf ihn.

Als Liam ihm durch den Flur folgte, erhaschte er dabei einen Blick in ein Schlafzimmer, das offenbar Grace gehörte. Ein Schmunzeln huschte ihm über die Lippen, als er die Plüschtiere auf der blassrosa Tagesdecke sah. Hinter diesem toughen Äußeren verbarg sich also doch ein weiches Herz.

Im Durchgang zum Wohnzimmer blieb er stehen. Jack hatte eine Art Zeremonie vorbereitet. Der Tisch war beiseitegeschoben und auf einem runden Tuch auf dem Boden lagen getrocknete Kräuter, alte Tongefäße und mittig stand eine dampfende Kanne Tee. Jack umrundete die Decke und kniete sich dann davor.

Er sah zu Liam auf, der sich noch nicht bereit fühlte, näher zu treten. Wollte er das wirklich tun? Er warf einen flüchtigen Blick zurück zur Wohnungstür. Mit ein paar Schritten wäre er hier raus. Aber dann dachte er wieder an diese Schatten. Er hatte sie auf der Haut seines Vaters gesehen und sie schienen größer zu werden, je öfter sich Harry aufregte. Wo das hinführen würde, wollte sich Liam gar nicht erst ausmalen.

»Du musst schon näher kommen, wenn du etwas lernen willst.«

»Und was genau veranstalten wir hier?«, wollte Liam wissen und deutete mit dem Kinn auf den Kram auf der Decke.

»Du wolltest mit den Geistern in Kontakt treten und dazu musst du lernen, deinen eigenen Geist auf eine höhere Ebene zu heben. Du musst deinen Körper verlassen und in ihre Welt reisen. Das gelingt dir nur durch Meditation.«

An so einen Esoterikquatsch hatte Liam noch nie geglaubt. Aber er wäre nicht hier, wenn er nicht bereit gewesen wäre, sich darauf einzulassen. Er nahm Jack gegenüber Platz und sah sich die verschiedenen Utensilien genauer an. Für ihn sahen die Kräuter alle nach Unkraut aus und die Pilze in einer der Schalen schienen ihm auch nicht von der essbaren Sorte zu sein.

»Erst einmal erkläre ich dir, welche Wirkung die verschiedenen Zutaten haben«, begann Jack und nahm ein Bündel Unkraut in die Hand.

»Können wir gleich zu dem Teil mit der Bewusstseinserweiterung springen?«, fragte Liam. »Ich schätze, man trinkt dieses Zeug und wird davon high?«

Jack fixierte ihn missmutig. »Also gut«, sagte er schließlich und legte das Grünzeug wieder hin.

Er nahm die Teekanne und schenkte sich und Liam ein. »Wichtig ist, dass man seinen Geist öffnet, ihn von dunklen Gedanken befreit und sich ganz auf das einlässt, was die Wesen der Natur einem sagen wollen. Ungeduld bringt dich nicht weiter.«

»Okay, verstanden. Kopf frei machen, an nichts denken und offen sein für alles.« Liam nahm die Tasse und kippte den Tee auf ex.

»Warte, nicht …«, stieß Jack aus, da setzte Liam bereits die leere Tasse ab. Jack seufzte. »Das trinkt man langsam.«

»War das jetzt …«, ein Schwindelgefühl überkam Liam und alles um ihn herum begann, sich zu drehen,»… falsch?«

Liam tastete nach dem Boden, doch schon sackte er zur Seite weg und sah nur noch die Deckenlampe über sich. Er hörte Jack, wie er nach ihm rief, doch da war ein anderes Geräusch, das viel näher und greifbarer klang. Er musste es nur schaffen aufzustehen, um es orten zu können.

Er blinzelte mehrmals. Über ihm flackerte noch immer das Licht, schien aber keine Zimmerdecke mehr zu beleuchten.

Liam warf sich mühsam zur Seite, stöhnte, weil sein Körper sich schwer wie Blei anfühlte, und fing sich mit der Hand ab.

Verwundert musste er feststellen, dass seine Finger nicht auf Teppich, sondern auf staubigem Boden lagen. Er sah auf und erkannte, dass er nicht mehr in der Wohnung war. Hatte Jack ihn fortgeschafft? Hatte er ihn für tot gehalten, in sein Auto gepackt und irgendwo im Outback entsorgt?

Sein Schädel dröhnte. Wahrscheinlich von diesem widerlichen Tee. Er griff sich an die Schläfen und kam wackelig auf die Beine. Ihm war schwindelig und es fiel ihm schwer, aufrecht zu stehen.

Das Land um ihn herum war trostlos und karg. Bis hin zum Horizont war nichts als trockenes Geäst und staubiger Boden zu erkennen.

Er drehte sich um und riss die Augen auf, als er die Ruinen einer Stadt vor sich sah. Das konnte unmöglich wahr sein! Vor ihm lag Sydney – in Trümmern.

Ungläubig ließ Liam seinen Blick über die verfallenen Hochhäuser wandern. Als läge der Untergang der menschlichen Zivilisation schon Jahrhunderte zurück, war die Stadt von Unkraut überwuchert. Über allem lag Staub, Trümmer verstopften die Straßen und die Stille, die vorherrschte, war erdrückend.

Liam taumelte einen Schritt zurück und stellte fest, dass er nicht mehr auf trockener Erde, sondern auf einer Straße stand. Er schaute zur Seite und auch dort war keine weite Ebene mehr, sondern die Ruinen Sydneys.

Er erkannte einige Gebäude von früher wieder. Seine Uni, die Strandbar, in die er immer mit seinen Freunden gegangen war, das Wohnhaus, in dem die süße Olivia wohnte, die ihn nie ranlassen wollte. Nichts davon war noch intakt. Und nicht nur das: Die Gebäude lagen nicht dort, wo sie eigentlich hätten sein sollen.

Plötzlich spürte er eine Bewegung unter seinen Füßen. Er sprang zur Seite und konnte dadurch gerade noch rechtzeitig ausweichen, um den Pflanzen zu entkommen, die durch den Asphalt brachen und die Straße unter einem grünen Teppich begruben. Sie wanden sich wie Schlangen über den Boden, wucherten auf die Gebäude zu und eroberten sie binnen Sekunden. Bäume schossen in die Höhe, zwangen Liam dazu, erneut auszuweichen, und drängten ihn immer tiefer in die Stadt hinein.

Schließlich wirbelte er herum und rannte los. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als Blätter und Äste auf ihn herabrieselten wie Granaten. Im Zickzack hetzte er durch die Straßen, während um ihn herum ein Urwald entstand, der die Trümmer unter sich begrub, den Himmel verdeckte und Liam vom Tageslicht abschnitt.

Auch vor ihm schloss sich das dichte Grün. Er zog die Hände nach vorne, benutzte sie als Schutzschild und brach durch das dichte Gewirr aus Schlingpflanzen und Blättern, die so scharf waren wie Rasiermesser und ihm die Haut zerschnitten.

Seine Füße versanken im Sand. Er torkelte noch ein paar Schritte weiter, dann fiel er auf die Knie und sah schwer atmend auf.

Vor ihm lag das Meer, rechts von sich erkannte er das Sydney Opera House – oder vielmehr das, was davon geblieben war – und links eine kleine Halbinsel, auf der das Elekreen-Kraftwerk lag. Er erinnerte sich daran, dass sie das Kraftwerk einige Zeit nach seiner Ankunft in Sydney erbaut hatten. Um Olivia zu beeindrucken, hatte er sich einer Demo gegen den Bau angeschlossen. Rangelassen hatte sie ihn deswegen dennoch nicht.

Liam stand auf. Das Kraftwerk war das einzige Gebäude, das nicht in Trümmern lag. Sogar die Lampen brannten dort noch in den Fenstern. Er folgte dem Strand bis zur Halbinsel, als plötzlich ein Lichtstrahl mitten aus dem Kraftwerk brach und gen Himmel schoss. Die Erde bebte und Liam taumelte rückwärts.

Die Säule war mehrere Meter breit, innen weiß und nach außen hin blau. Vorsichtig ging er darauf zu, erkannte die vielen Leuchtkugeln, aus der sie bestand und die bald um ihn herumtanzten. Wie Glühwürmchen flogen sie umher, schienen ein Eigenleben zu haben, und wo sie den Boden berührten, erblühten die Pflanzen.

Vor der Lichtsäule blieb Liam stehen. Er sah sich um und erkannte, dass er nicht alleine war. Drei weitere Personen hatten sich dem Licht genähert. Ein asiatisches Mädchen lächelte und sagte etwas, doch ihre Worte blieben stumm, also hob Liam die Hand und deutete auf sein Ohr, um zu signalisieren, dass er sie nicht verstehen konnte.

Plötzlich schoss eine der Lichtkugeln direkt auf ihn zu. Vor Schreck stolperte er zurück und kaum, dass er etwas weiter von der Säule entfernt war, verschwanden die drei Jugendlichen wieder.

Weitere Lichtkugeln hatten es auf ihn abgesehen und bedrängten ihn von allen Seiten.

»Verschwindet!«, verlangte er und versuchte, die Dinger wie Mücken zu verscheuchen. Doch das sorgte nur dafür, dass sie noch aufdringlicher wurden. Bald waren sie überall. Liam wirbelte herum, sah nur noch bläuliches Licht, das ihn umschloss, und spürte bald darauf keinen Boden mehr unter den Füßen.

Er fühlte sich schwerelos, die Kratzer an seinen Armen brannten nicht mehr, und als er danach sehen wollte, waren da keine Arme, die er heben konnte. Sein ganzer Körper war verschwunden. Er war nur noch ein Gedanke, der sich in einem Meer aus Lichtern auflöste, der durchströmt wurde von der Energie, die sie ausstrahlten, und selbst ein Teil davon wurde. Eigentlich hätte er Panik haben müssen, aber die setzte nicht ein. Stattdessen fühlte er sich frei und losgelöst.

Tausend Gefühle und Gedanken, die nicht die seinen waren, strömten auf ihn ein. Zu viele, um sie verstehen zu können.

War es das? Das Reich der Geister? Hatte er in dieser merkwürdigen Vision erst seine eigene Welt, womöglich seine Zukunft, durchschreiten müssen, um hierherzugelangen? Es musste so sein, denn hier gab es keine Zeit, keine Körper und keine Grenzen mehr.

Doch etwas stimmte nicht. Etwas geschah mit dieser Welt und den Wesen darin. Ihre Lebensenergie schien geschwächt. Um sich herum sah und spürte er zugleich ein enges Geflecht aus Energieströmen, und wenn er versuchte, sich auf nur einen Teil davon zu konzentrieren, wurde ihm klar, dass diese Energie die seiner eigenen Welt war. Sie floss durch alles, was ihn umgab, und das so geballt, dass er nach und nach Bäume, Sträucher, Steine und sogar Gebäude und Lebewesen erkennen konnte.

Das Energiefeld der Erde war für die Naturgeister wie ein Straßennetz, durch das sie sich bewegten. Doch an vielen Stellen war es stark geschwächt und dort, wo er eben noch das Kraftwerk gesehen hatte, wo die Lichtsäule in seiner Welt gen Himmel geschossen war, riss dieses feine Netz ab. Dort klaffte ein tiefes Loch, in das die Lebensenergie der Wesen der Energiesphäre floss wie Wasser durch einen Abfluss. Obwohl die Naturgeister bereits begonnen hatten, diese Stelle zu meiden, konnten nicht alle dem Sog entkommen.

Auch Liam wurde davon angezogen. Er versuchte, sich dem zu entziehen, doch ohne einen festen Körper verlor sich sein Ich im reißenden Fluss der Energien.

Panik kam in ihm auf. Er kämpfte darum, die Fasern seines Seins zusammenzuhalten, doch Stück für Stück wurden sie ihm entrissen. Gedanken, Erinnerungen, Gefühle. All das wurde zerfetzt und bald war da nur noch die blanke Furcht, die ihm blieb und die, ebenso wie alles andere, was ihn ausgemacht hatte, unaufhaltsam auf den Riss in der Welt der Naturgeister zusteuerte und von ihm verschluckt wurde.