KAPITEL 16

LIAM

TAG 5: MI, 19:00 UHR, WINTER FALLS, AUSTRALIEN

Liam riss die Augen auf. Sein Atem ging stoßartig. Die Panik pochte ihm noch hinter den Schläfen und sofort tastete er seinen Körper ab, um sicherzugehen, dass er noch an einem Stück war.

Erleichtert atmete er aus, als er Arme, Brustkorb und Schultern dort vorfand, wo er sie vermutet hatte.

Er richtete sich auf, fasste sich an die Stirn, weil sein Schädel dröhnte und ihm durch die schnelle Bewegung schwindelig wurde, und erkannte die Teetasse neben sich, der er diesen ganzen Albtraum zu verdanken hatte. Umgestürzt lag sie auf dem Boden und hatte dabei den Teppich mit den letzten Tropfen der bitter schmeckenden Droge getränkt.

Bei dem Gedanken daran schaute er blitzartig auf. Jack saß dort, wo er ihn zuletzt gesehen hatte – auf der anderen Seite des Tuchs im Schneidersitz mit gesenktem Blick.

»Was war das für ein Teufelszeug?«, fragte Liam angefressen. Er würde wahrscheinlich noch tagelang Kopfschmerzen haben. Klar, es war seine Schuld, dass er zu viel und zu schnell von dem Zeug getrunken hatte, aber hätte Jack ihn nicht früher warnen können?

Jack hob den Blick. Seine Miene war wie aus Stein gemeißelt und in seinen Augen blitzten goldene Funken.

Liams Herz machte einen Satz. Erschrocken sprang er auf und taumelte von dem Mann weg. »Du bist …«

»Ein Naturgeist«, sagte der, legte den Kopf schief und betrachtete Liam mit Neugier.

Er konnte es nicht fassen, aber es schien wahr zu sein: Jack war von einem Naturgeist besessen. Dieses Wesen steckte in ihm und steuerte ihn. »Dann habe ich dir diese Vision zu verdanken? Du hast mir Sydney und das Kraftwerk gezeigt, bevor ich in deine Welt gezogen wurde?«

Der Naturgeist stand auf und Liam stolperte so weit vor ihm zurück, dass er gegen den Türrahmen stieß.

»Ich? Nein. Noch nie hat einer deinesgleichen die Ebene der Energie wahrhaft betreten. Was du gesehen hast, war die Sphäre der Erdmutter.«

»Erdmutter?«, fragte Liam. Konnte es überhaupt noch verrückter werden?

»Sie, die alles beherrscht, die die Welt, die ihr Menschen zu zerstören versucht, erschaffen hat und die sie euch wieder nehmen wird. Terra Mater, Aja, Onile, Tellus, Gaia. Sie hat viele Namen in vielen Sprachen. Visionen und Träume sind ihr Metier, nicht unseres.«

Liam schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte Antworten gewollt und nun bekam er sie. Aber so hatte er sich das nicht vorgestellt. Konnte es sein, dass all die Schamanen, die je geglaubt hatten, mit den Naturgeistern in Kontakt zu treten, in Wirklichkeit in die Welt dieser Terra Mater gereist waren? Eine Welt, die aus Träumen und Zukunftsvisionen bestand?

»Was hat Terra Mater dir gezeigt?«

Der Naturgeist kam zielstrebig auf Liam zu, der seine Hosentasche nach dem Klappmesser abtastete. Er wollte es nicht gegen Jack einsetzen, aber dieses fremde Wesen wirkte ziemlich bedrohlich auf ihn.

Eilig zog er das Messer hervor, aber der Naturgeist hatte ihn bereits erreicht und streckte die Hand nach ihm aus. Blitze zuckten zwischen seinen Fingern, schossen auf Liam zu und sein Körper verkrampfte, als ihn der Stromschlag traf. Das Messer fiel zu Boden, Liam wollte schreien, doch er war wie gelähmt.

Die Energie des Naturgeists floss ihm durch die Glieder, verschmolz mit seinen Gedanken und durchpflügte seine Erinnerungen. Wehrlos war Liam ihm ausgeliefert, er konnte sich nicht bewegen, nicht einmal atmen und nicht dagegen ankämpfen, dass der fremde Geist in ihn eindrang. Noch einmal sah er sich in Sydney, sah das Kraftwerk und die Lichtsäule, als würde ein Film vor seinem inneren Auge ablaufen.

Plötzlich riss die Verbindung ab. Die Kraft des Naturgeists zog sich in Jacks Körper zurück und Liam schnappte nach Luft. Er sackte in sich zusammen und schaffte es gerade noch so, sich auf den Beinen zu halten.

»So ist das also«, sagte Jack. »Das erklärt alles.«

»Was zum Teufel …?«, keuchte Liam. Dieses Wesen hatte ohne große Anstrengung seinen Kopf durchwühlt, ihm seine Erinnerungen entrissen und ein solches Chaos in ihm hinterlassen, dass er nicht mehr wusste, wo oben und unten war. »Wovon sprichst du?«

Der Naturgeist sah ihn durch schmale Augen an, entschied sich dann wohl, dass er die Mühe nicht wert war, und stieß ihn grob zur Seite, als er das Zimmer verließ.

»Hiergeblieben!«, verlangte Liam, wirbelte herum und hielt den Naturgeist auf.

Der wandte sich zu ihm um, sah herunter zu Liams Hand an Jacks Arm und Liam ließ auf der Stelle los. Ein weiteres Mal wollte er keinen Schlag bekommen.

Verteidigend hob er die Hände. »Du kannst nicht einfach im Körper meines Freundes davonspazieren.«

»Ihr habt Maschinen gebaut, die Löcher in unsere Sphäre schlagen, habt unsere Lebensenergie ausgesaugt und sie für eure Zwecke verwendet. Das war es, was Terra Mater dir gezeigt hat. Du hast gesehen, wie wir sterben, und da soll ich mich um ein einzelnes Menschenleben scheren? Dieser Körper gehört jetzt mir. Er wird mir als Werkzeug dienen, um den Ort zu erreichen, den Terra Mater dir gezeigt hat, und zu beenden, was sie begonnen hat. Und du kannst nichts dagegen tun.«

»Das lasse ich nicht zu«, sagte Liam entschlossen.

Der Naturgeist hatte die Tür bereits erreicht und wandte sich ihm kein weiteres Mal zu, als er antwortete. »Versuch, mich aufzuhalten, und du wirst es bereuen.«

So einfach wollte sich Liam nicht abwiegeln lassen. Er ballte die Hände zu Fäusten und fragte sich, wie gut dieses Ding noch mit seinen Blitzen umgehen konnte, wenn er eine davon unters Kinn geschlagen bekam?

Er stürmte auf Jack zu, der herumwirbelte, einen Blitz abfeuerte und Liam zwang, in den Gang auszuweichen. Ungebremst schlug er mit der Schulter gegen Grace’ angelehnte Zimmertür, stolperte hindurch und stürzte der Länge nach zu Boden. Nur knapp verfehlte er das Bett, aber eines der Stofftiere landete in seinem Gesicht.

Liam unterdrückte einen Aufschrei, warf den Teddy von sich und rappelte sich auf. Wieder im Gang angelangt, fand er nur noch die offen stehende Tür vor. Er rannte Jack nach, stürzte die Treppe nach unten und hatte ihn eingeholt, als er gerade die Straße betrat.

Gehetzt sah Liam sich um. Ihm musste etwas einfallen, wie er den Naturgeist aufhalten konnte. Schließlich blieb sein Blick an ein paar losen Steinen hängen. Er klaubte einen davon auf und warf ihn mit voller Wucht gegen Jacks Hinterkopf.

Jack taumelte, griff sich ans Haar und betrachtete das Blut, das ihm an den Fingern klebte. Benommen wandte er sich Liam zu, der die Gunst der Stunde nutzte, wieder auf ihn zustürmte und ihn von den Füßen riss.

»Geh raus aus ihm!«, schrie er und rammte Jack die Faust ins Gesicht. »Verpiss dich in deine Welt und lass Jack in Frieden!«

Der Naturgeist war so überrummelt, dass er seine Kräfte nicht einsetzte, und Liam schlug weiter auf ihn ein, damit sich daran auch nichts änderte.

Plötzlich packte jemand seinen Arm und hielt ihn auf.

»Loslassen!«, verlangte Liam außer sich vor Zorn und zerrte an seinem Arm.

Der Mann, der Jack zu Hilfe geeilt war, ließ nicht locker. Ein weiterer Passant kam angerannt, packte Liams anderen Arm und gemeinsam zogen sie ihn von Jack herunter.

»Loslassen, verdammt!« Liam wehrte sich aus Leibeskräften. »Ihr versteht das nicht! Er ist besessen! Da steckt ein Geist in ihm drin. Ich versuche ihm nur zu helfen.«

»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte einer der Männer.

»Dad!«, schrie Grace von der anderen Straßenseite.

Langsam ließ das Adrenalin nach und Liams Gedanken ordneten sich wieder. Niemand würde ihm glauben. Niemand bis auf Grace vielleicht, die schließlich wusste, dass ihr Vater mit Naturgeistern sprach.

»Hör mir zu!«, schrie er und versuchte vergebens loszukommen.

Grace ließ die prall gefüllten Einkaufstaschen fallen, lief zu ihrem Vater und warf sich neben ihm auf die Knie. »Dad, hörst du mich?«

»Grace!«, sprach Liam sie eindringlich an. »Das ist nicht dein Vater. Das ist ein Naturgeist. Er hat sich Jacks Körper geschnappt und …«

Grace wirbelte herum und fixierte Liam mit einem so hasserfüllten Blick, dass ihre Augen beinahe erschreckender waren als die goldenen Blitze in Jacks.

»Was bist du für ein Spinner?«, warf sie ihm entgegen. »Du hast ihn fast umgebracht, ist dir das klar?«

Schwarze Schatten strömten von allen Seiten auf Grace zu und Liam riss erschrocken die Augen auf.

»Du musst dich beruhigen«, beschwor er sie. »Diese Schatten, sie sind überall.«

Grace öffnete ungläubig den Mund, wusste aber wohl nicht, was sie darauf antworten sollte. Ihm war selbst klar, wie das, was er da von sich gab, klingen musste. Aber wie hätte er es ihr begreiflich machen können?

»Du kommst jetzt mit, Junge«, sagte einer der Männer, die ihn festhielten. »Ich glaube, die Ausnüchterungszelle ist jetzt genau der richtige Ort für dich.«

»Was? Nein! Ich muss ihn aufhalten!« Er wehrte sich, doch die Männer zogen ihn zum Bürgersteig und weg von Grace, die sich wieder ihrem Vater zuwandte – umzingelt von Schatten, die die gesamte Straße in ihre Dunkelheit hüllten.