KAPITEL 19

YOUNES

TAG 5: MI, 18:00 UHR,

NASHVILLE CONSERVATION RESERVE, KANADA

Younes kniete im feuchten Laub. Ein Geräusch, nicht weit von ihm, ließ ihn kurz aufschrecken und sein Herz schneller schlagen. Er sah sich gehetzt um, entdeckte aber nur ein paar Eichhörnchen, die denselben Plan zu hegen schienen wie er. Sie wollten die Nüsse vom Boden sammeln und wirkten gar nicht erfreut darüber, Konkurrenz zu bekommen.

Dass diese Dinger nicht wirklich aussahen wie Walnüsse, dass sie größer waren und ihre Schale purpurn, hielt Younes nicht davon ab, so viele in seine Taschen zu stopfen, wie er konnte.

Alles hatte sich geändert. Die Bäume wirkten fremdartig, waren teils gewunden wie Korkenzieher, ungewöhnlich dünn oder so breit wie ein Laster. Auch die Blätter waren nicht dieselben wie vor nur wenigen Tagen. Manche waren fleischig und tellergroß, andere gemustert, wie er es zuvor noch nie gesehen hatte. Sogar der Wind trug einen fremden Geruch mit sich, der nicht an die Natur erinnerte, die Younes kannte. Es war, als würde die Welt zu einer anderen werden. Alles mutierte, nur die Menschen blieben, wie sie waren.

»Jaja!«, quittierte er das ungehaltene Fiepen der Eichhörnchen. »Ich lasse euch schon genug übrig.«

Wieder knackste es und wieder sah Younes sich hastig um. Waren das Schritte? Er hörte Äste brechen und das Rascheln von trockenem Laub.

Schnell schnappte er sich noch ein paar Nüsse, dann sprang er auf und rannte los. Hinter ihm wurden die Geräusche lauter, aber er drehte sich nicht um.

Den direkten Weg zurück zu ihrem Versteck durfte er nicht nehmen, wenn ihm wirklich die Männer von Elekreen auf den Fersen waren. Er schlitterte einen Hügel hinab und folgte dem Graben, bis er eine Stelle erreichte, an der er wieder hinaufklettern konnte.

Oben angekommen, brauchte er einen Moment, um zu Kräften zu kommen. Schwer atmend saß er im Laub und spürte, wie sein Körper bei jedem Atemzug erbebte.

Sie hatten seit gut einem Tag nichts mehr gegessen. Er konnte das irgendwie verkraften, aber Samuel war am Ende. Die Lebensenergie, die er dem Baum entzogen hatte, konnte ihn nicht vor einer Blutvergiftung schützen. Er würde sterben, wenn er nicht bald in ein Krankenhaus käme. Bei dem Gedanken daran ballte Younes die Fäuste. Er hätte vor Wut und Verzweiflung schreien können, wenn da nicht noch immer die Männer gewesen wären, die er abzuhängen versuchte – die Männer, die seit Tagen nicht lockerließen, alle Straßen versperrt hatten und den Wald ohne Unterlass durchkämmten.

Er zog sich auf die Füße, holte noch einmal tief Luft und wollte gerade losrennen, als er feststellte, dass man von hier oben einen guten Blick über die Stadt haben müsste. Das Zentrum Torontos lag einige Meilen entfernt, aber er konnte Lichter zwischen den Bäumen aufblitzen sehen. Nun, da er sich darauf konzentrierte, hörte er auch weit entfernt, kaum wahrnehmbar, das Heulen von Sirenen.

Younes lief bis zum Kamm der Anhöhe, von wo aus er besser erkennen konnte, was außerhalb des Waldes geschah.

Die Straßen, die aus der Wildnis hinaus nach Toronto führten, waren mit Barrikaden versperrt. Vielleicht irrte er sich, aber es sah aus, als wäre nicht nur Elekreen an dieser Hetzjagd beteiligt. Die Fahrzeuge schienen dem Militär zu gehören und die bewaffneten Männer trugen Tarnanzüge und Sturmgewehre. Er konnte es nicht fassen, dass er und Chloe in diese Lage geraten waren. Wie nach Schwerverbrechern suchte man nach ihnen.

Er schaute sich weiter um. Das Gelände des Kraftwerks lag am Stadtrand und war von seiner Position aus gut zu überblicken. Dort war kein Gebäude mehr zu erkennen. Dichtes Gestrüpp hatte die Trümmer erobert und dazwischen erhob sich eine Säule aus gedämpftem blauem Licht.

Erst dachte Younes an einen Scheinwerfer, aber bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass die Säule aus vielen kleinen Leuchtkugeln bestand, die hinauf in den Himmel schwebten und sich von dort aus über die Umgebung verteilten. Der Anblick erinnerte ihn an Luftblasen. Als wäre die Welt bloß ein riesiges Aquarium, in das dieses Licht strömte wie bei einer Sauerstoffpumpe.

Unter anderen Umständen hätte ihn dieser Anblick schockiert. Doch nach allem, was in den letzten Tagen geschehen war, wunderte ihn nichts mehr. Ihm war klar, dass mit Elekreen etwas nicht stimmte. Sie wussten um Samuels wahres Wesen, machten ihn für die Geschehnisse verantwortlich und Younes konnte nicht leugnen, dass er anfänglich ähnliche Gedanken gehabt hatte.

Er löste seinen Blick von der Lichtsäule, schaute zur Stadt und musste feststellen, dass die Natur nicht an der Grenze zum Kraftwerk gestoppt hatte. Die Hochhäuser lagen im Dunkeln. Es waren die Fahrzeuge gewesen, deren Abblendlicht er zwischen den Bäumen durchblitzen gesehen hatte. Ohne Elekreen gab es keinen Strom. Dennoch konnte man gut erkennen, dass viele der Häuser ungewöhnlich grün waren.

Samuel trug an dem, was da geschah, sicher keine Schuld. Dazu war er viel zu geschwächt. Was aber, wenn es mehr wie ihn gab? Daran wollte Younes gar nicht erst denken.

Er konnte nur hoffen, dass die Vororte verschont geblieben waren und es seiner kleinen Schwester gut ging. Er hätte bei ihr sein müssen. Sie beschützen. Stattdessen saß er in diesem verfluchten Wald fest und musste Tag und Nacht damit rechnen, erschossen zu werden für etwas, das er selbst nicht einmal verstand.

Einen Aufschrei unterdrückend, schlug er seine Faust mit solcher Wucht gegen den Baum neben sich, dass ihm der Schmerz bis zum Ellbogen hochschoss, und stellte mit Schrecken fest, dass sich Schatten über die Borke des Baumes auf seine Faust zubewegten.

Schnell zog er sie weg. Was das nun wieder zu bedeuten hatte, wusste er nicht. Das alles wuchs ihm über den Kopf. Er wollte Antworten, wusste aber, dass Samuel ihm die nicht geben konnte. Nicht in seinem Zustand.

Er stolperte von dem Baum weg und stieg den Berg wieder hinab in das Tal, wo er Chloe und Sam zurückgelassen hatte. Der Wald war ruhig geworden, die Verfolger hatte er abgehängt.

Younes erreichte die Lichtung, auf der sie sich versteckt hielten, und ging noch einmal sicher, dass ihm niemand gefolgt war, ehe er aus dem Dickicht trat.

Ein Ast schnellte aus dem Nichts auf ihn zu. Erschrocken torkelte er zurück, spürte einen Luftzug haarscharf an sich vorbeischnellen und riss verteidigend die Hände hoch. »Ich bin’s!«

Panik zeichnete Chloes Gesicht. Ihr Haar war zerzaust, ihre Augen gerötet und ihre Lippen spröde. Die zwei Tage auf sich allein gestellt in diesem Wald, hatten bei ihnen beiden ihre Spuren hinterlassen. Chloe hatte bereits zum nächsten Schlag ausgeholt, als sie ihn erkannte. Sie warf den Ast von sich und stolperte ihm in die Arme.

»Ich dachte, du wärst einer von ihnen«, schluchzte sie.

Younes strich ihr übers Haar und drückte sie fest an sich. Sie zu halten, vertrieb alle Wut aus seinem Inneren. Noch nie hatte ein anderer Mensch als Ella eine so beruhigende Wirkung auf ihn gehabt.

»Schon gut«, flüsterte er. »Ich bin es nur.«

Er sah zu dem kleinen Verschlag, der ihnen in der vergangenen Nacht Schutz geboten hatte. Ein paar Äste unter einem Dach aus Blättern. Mehr war es nicht. Samuels Körper war in dem Dunkel darin kaum zu erkennen.

»Wie geht es ihm?«

Chloe löste sich von ihm und schüttelte nur den Kopf.

»Ich habe Nüsse gefunden«, meinte er und kramte ein paar davon aus seiner Tasche. »Wenn er etwas isst, wird es ihm besser gehen. Uns allen.«

Er lief auf den Verschlag zu, doch Chloe hielt ihn auf.

»Wir müssen ihn in ein Krankenhaus bringen«, sagte sie eindringlich. »Wir müssen hier weg.«

Younes starrte zu Boden. Er dachte an die Straßensperren und daran, wie knapp er den Suchtrupps entkommen war. Als ob ihm nicht klar wäre, dass sie hier wegmussten. Als ob er nicht wüsste, dass sie nicht ewig so weitermachen konnten. Er hätte alles dafür gegeben, den Männern entkommen zu können. Aber er wusste nicht, wie.

»Sie werden aufgeben«, sagte er, mehr um sich selbst davon zu überzeugen als sie. »Früher oder später geben sie auf.«

Chloe ließ ihn los und er wagte es nicht, sich ihr noch einmal zuzuwenden. Er wusste, dass ihr Blick alleine genügen würde, um seine Behauptung Lüge zu strafen. Eilig lief er zum Verschlag und ging neben seinem Bruder in die Hocke.

Samuel war kreidebleich. Schweiß stand ihm auf der Stirn, hatte sein Haar durchnässt und sein Blick hing in der Ferne.

»Wie geht es dir?«, fragte Younes mit gebrochener Stimme.

Samuel drehte den Kopf in seine Richtung. Die goldenen Blitze in seinen Augen waren kaum noch zu sehen. Er öffnete den Mund, brachte aber nur ein leises Stöhnen über die Lippen. Doch seine Kraft reichte aus, um die Hand zu heben und sie nach Younes auszustrecken.

Er wollte sie ergreifen, brachte es aber nicht über sich. Das Wesen, das da vor ihm lag, war nicht wirklich Samuel. Er wollte ihm ja trauen, konnte es aber nicht.

»Er hat Fieber«, sagte Chloe. Sie kroch in den Verschlag und legte ihre Hand auf Sams Stirn. »Und es scheint weiter zu steigen. Wir müssen etwas tun.«

Younes leerte seine Taschen und zählte die Nüsse. »Er wird sie so nicht essen können. Wir brauchen Wasser, um einen Brei anzurühren.«

Chloe schüttelte den Kopf. »Und dann? Wir brauchen viel mehr als nur Wasser. Wir brauchen Medikamente, richtige Verbände, irgendetwas, mit dem wir das Fieber senken können. Younes, seine Wunde …«

Younes blickte zu ihr auf. »Ich weiß«, unterbrach er sie.

Was sollte er denn tun? Sie war diejenige, die im Krankenhaus arbeitete, und war machtlos. Er konnte nichts daran ändern, dass sich die Schusswunde entzündet hatte. Er konnte auch die Blutung nicht stoppen. Alles, wozu er fähig war, beschränkte sich auf das Sammeln von Nüssen, während Chloe ihr Bestes tat, um Samuel irgendwie am Leben zu halten. Vielleicht aber würde die Kraft, die er durch das Essen gewann, ausreichen, damit er sich wieder selbst heilen konnte. Vielleicht würde es ihnen genug Zeit verschaffen, um einen Ausweg zu finden. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

Chloe schaute ihn lange an und er erwiderte den Blick. Er sah sie mit anderen Augen als noch vor wenigen Tagen, als seine kleine, kaputte Welt noch nicht ganz in Trümmern gelegen hatte. Ohne sie hätte er niemals so lange durchgehalten. Sie schenkte ihm die Kraft, die er brauchte, um das alles zu überstehen.

»Also gut«, sagte sie schließlich, atmete tief durch und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Ich gehe Wasser holen.«

Sie machte Anstalten, den Verschlag zu verlassen, hielt aber noch einmal inne, als sie auf seiner Höhe war, und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Ihre Berührung schenkte ihm Trost. Er griff nach ihren Fingern, umschloss sie und fühlte sich mit einem Mal nicht mehr ganz so verloren. Gedankenversunken strich er mit dem Daumen über ihren Handrücken und legte seine Stirn darauf.

»Wir stehen das durch«, versprach sie leise und berührte seine Wange. Younes sah zu ihr auf. Ein trübes Lächeln lag auf ihren Lippen.

Wie hübsch sie doch war. Das war ihm erst in den letzten Tagen richtig aufgefallen. Sie hatte etwas Natürliches, etwas Ehrliches an sich. Nicht so wie die anderen Mädchen, die er kannte. Sie versuchte, weder ihn noch jemand anderen zu beeindrucken, war mitfühlend und für ihn da gewesen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Und trotz allem, was sie in den letzten Tagen hatten durchmachen müssen, war das Leuchten in ihren Augen ungebrochen.

Younes richtete sich ein Stück weit auf und kam ihr näher. Sein Blick wanderte zu ihren Lippen, doch noch bevor er selbst wirklich verstand, was er vorhatte zu tun, entzog sie ihm ihre Hand und schaute zu Boden.

»Ich …«, murmelte sie. »Ich beeile mich besser.«

Sie sah ihn nicht noch einmal an, als sie den Verschlag verließ und davonlief.

Gedankenverloren fuhr er sich mit dem Finger über die Wange, wo er ihre Berührung noch spüren konnte, und ein Lächeln stahl sich ihm auf die Lippen. Doch lange hielt es nicht an.

»Youn …«, flüsterte Samuel.

Younes wandte sich ihm zu. »Es wird alles gut. Du bekommst etwas zu essen, damit du zu Kräften kommst.«

»Bitte, Younes, ich brauche …«, hauchte Samuel mit tonloser Stimme.

Younes überwand sich und rückte etwas näher. Er wollte für seinen Bruder da sein, traute dem mächtigen Wesen in dessen Körper aber noch immer nicht ganz. »Was brauchst du?«

»Ich brauche dich«, antwortete Sam und schloss die Augen.

»Ich bin da.« Younes ergriff seine Hand und drückte sie fest. Wenn Samuel ihn hören konnte, dann sollte er wissen, dass sein kleiner Bruder für ihn da war. Dass er ihm beistehen würde, egal, was geschah.

Ein Kloß bildete sich in seinem Hals und er biss sich auf die Unterlippe, um zu verhindern, dass ihn Tränen überkamen. Er wollte Sam nicht verlieren, versuchte, durch die Angst davor hindurchzuatmen, auch wenn es ihm die Luft abschnürte. Das durfte kein Abschied werden. So wollte er ihn nicht gehen lassen. Nicht nach allem, was sie durchgemacht hatten, um es bis hierher zu schaffen.

Er warf einen Blick zum Rand der Lichtung, doch Chloe war noch nicht zurück.

Als er wieder zu Samuel schaute, sah der ihn eindringlich an. Die goldenen Blitze in seinen Augen loderten auf und seine Finger schlossen sich fest um Younes’ Hand.

Instinktiv wollte Younes sich losreißen, doch das ließ das fremde Wesen nicht zu. Seine Energie strömte auf Younes ein. Sie kroch ihm den Arm hinauf und brachte eine Welle aus fremden Gefühlen mit sich: Verzweiflung und der unbändige Wille dieses Wesens zu überleben.

Younes’ Panik war in Anbetracht dessen nichts weiter als ein Flüstern. Er hatte das Gefühl, der Fremde würde alles von ihm ersticken und in die hinterste Ecke seines Geistes verdrängen.

Er konnte sich nicht wehren, war dem Willen des Fremden ausgeliefert. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf seine Hand und sah hilflos dabei zu, wie seine Gegenwehr versiegte, seine Glieder erschlafften und sein Körper zu einer Marionette wurde.