KAPITEL 20

YOUNES

TAG 5: MI, 19:30 UHR,

NASHVILLE CONSERVATION RESERVE, KANADA

Ma’an. Das war sein Name. Woher er ihn hatte, wusste Younes allerdings nicht. Die Naturgeister bedienten sich in ihrer Welt keiner Sprache wie die Menschen, also hätte er keinen Namen haben dürfen.

Dass Younes das wusste, verdankte er Ma’ans Erinnerungen. Sie füllten seinen Kopf und ließen ihm kaum Platz zum Atmen. Es war zu viel neues Wissen, als dass er es verarbeiten konnte, und er war sich sicher, dass Ma’an noch viel mehr vor ihm verbarg als nur den Ursprung seines Namens.

Es hatte sie schon immer gegeben. Die Naturgeister. In einer Art parallelen Existenzebene. Kaum zu glauben, aber die alten Mythen waren wahr. Es gab unzählige Bezeichnungen für diese Wesen: Dryaden, Schrate, Nymphen, Meliaden.

Younes wusste, dass Ma’an unfreiwillig aus seiner Sphäre in die der Menschen und damit in Samuels Körper gezogen worden war. Auch dass die Erdmutter – Gaia, Terra Mater, Tellus – für die Veränderung der Natur verantwortlich war.

Doch Gedanken, Gefühle und Wissen waren alles, was ihm blieb. Er hatte keine Stimme mehr und keine Gewalt über seinen Körper. Er konnte ihn zwar noch spüren und durch seine Augen sehen, aber nichts mehr tun.

Ma’an ließ Samuels Hand los und Younes hatte keinen Einfluss darauf.

»Younes?«, sprach Samuel ihn kaum hörbar an und schlug die Augen auf.

Er lebte! Die Euphorie, die Younes bei diesem Gedanken überschwemmte, versackte in der Dunkelheit des Geistes, in dem er gefangen war.

Diesmal war es wirklich Samuel, den er vor sich sah, doch er konnte ihm nicht antworten. Nur zusehen, wie sein Blick trüb wurde und sich Panik und Schmerz darin abzeichneten. Samuel hob die Hand, um nach seinem kleinen Bruder zu greifen, doch Ma’an ignorierte das.

Ohne jeden Anflug von Mitleid sah er auf den Sterbenden hinab.

Dass menschliche Gefühle ihm fremd waren, verstand Younes auch. Wo er herkam, gab es nur Wissen, Freiheit, Einssein mit allem und Beobachten ohne Handeln. Gnade, Liebe, Vertrauen – das alles kannte Ma’an nicht. Und doch fühlte er, nun da er in der Welt der Menschen und in einem Körper aus Fleisch und Knochen war. Nur konnte er mit diesen Gefühlen nichts anfangen. Er lernte noch, damit umzugehen, und er lernte nicht schnell genug, um zu verstehen, wie es Younes quälte, seinen Bruder so zu sehen und nichts tun zu können.

»Er lebt noch«, stellte Ma’an fest.

»Das tut er«, schrie Younes in seinem Inneren. »Lass ihn nicht sterben. Bitte!«

Im Dickicht am Rande der Lichtung raschelte es und Ma’an sah auf.

Chloe!, dachte Younes mit Schrecken.

Sie würde nicht verstehen können, was mit ihm geschehen war, und er war nicht fähig, es ihr zu sagen. Was von ihm geblieben war, war nur noch ein Gedanke, gefangen in seinem Geist. Er versuchte, seine Kräfte zu sammeln, die Gewalt über seinen Körper zurückzuerlangen, aber es war zwecklos. Nicht einmal sein kleiner Finger zuckte, sosehr er sich auch darauf konzentrierte, ihn zu bewegen.

Ma’an blickte wieder zu Samuel, der ihn durch leere, weit aufgerissene Augen anstarrte. Er war tot.

»Nein!«, schrie Younes. Die Verzweiflung zerriss ihn förmlich, doch seine Lippen blieben geschlossen und sein Körper saß reglos da, sosehr er auch schrie und um sich schlug. Er war völlig machtlos.

Ma’an legte den Kopf schief und betrachtete Samuels leblosen Körper.

Er hätte ihn retten können! Er hätte es wenigstens versuchen müssen. Wut und Trauer schäumten in Younes auf und vertrieben jeden klaren Gedanken.

»Es war zu spät«, sagte Ma’an.

Es war offensichtlich, dass er Younes hören und seine Gefühle wahrnehmen konnte. Zwischen ihnen gab es keine Geheimnisse mehr, keine Grenzen und keinen Schutz. Es war nicht nur sein Körper, der dem Naturgeist ausgeliefert war. Es war jede Faser seines Seins.

Ma’an griff sich an die Wange und wischte eine Träne von ihr. Neugierig betrachtete er sie, nicht wissend, wie sie dahin gekommen war.

»Du hättest es versuchen müssen«, flüsterte Younes. »Du hättest versuchen müssen, ihn zu retten.«

Ma’an achtete nicht auf das, was Younes in ihm sagte. Er stand auf und verließ den Verschlag, gerade als Chloe die Lichtung betrat. Sie trug ein großes, mit Wasser gefülltes Blatt in den Händen und sah erst zu ihm auf, als sie das Gestrüpp überwunden hatte.

»Lauf weg!«, schrie Younes, in der Hoffnung, sein Körper würde reagieren, wenn er nur versuchte, laut genug zu schreien. Doch das tat er nicht.

»Wie geht es ihm?«, fragte Chloe.

»Er ist tot«, antwortete Ma’an ungerührt.

Chloe riss vor Schreck die Augen auf. Ungläubig sah sie Younes an. »Wieso sagst du so etwas?«, fragte sie bestürzt.

»Weil es wahr ist«, antwortete Ma’an und legte erneut den Kopf schief. Er studierte die Mimik in Chloes Gesicht, versuchte zu deuten, was in ihr vorging, verstand es aber nicht wirklich. Younes konnte Misstrauen spüren, das er Chloe entgegenbrachte. Aber wieso?

Chloe ließ das Blatt fallen und das Wasser ergoss sich über den Boden.

»Du darfst ihr nichts tun«, verlangte Younes.

»Wer sagt das?«, fragte Ma’an. »Du? Du kannst mir nichts befehlen.«

»Wovon redest du? Was ist mit dir los?« Chloe wich vor ihm zurück.

»Sie hat dir nichts getan!«, beharrte Younes. Er kämpfte mit aller Macht darum, die Kontrolle zurückzuerlangen, doch er spürte, wie er zusehends schwächer wurde. Bereits nach den wenigen Minuten, in denen er in seinem eigenen Geist gefangen war, fiel es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

Er musste mit ansehen, wie Ma’an seine Hand hob und auf Chloe richtete. Panik überrannte ihn.

»Lauf weg!«, schrie er und diesmal kamen ihm die Worte tatsächlich über die Lippen.

War ihm das wirklich gelungen? War er es gewesen, der seinen Mund bewegt hatte? Aus welchem Grund hätte Ma’an das sagen sollen?

Chloe reagierte, ohne nachzudenken, rannte nach rechts und plötzlich durchströmte Younes geballte Energie. Ma’ans Geist griff nach allem, was ihn umgab, floss in den Boden, in die Pflanzen und entzog ihnen ihre Kraft. Er bündelte sie in Younes’ Körper, ließ sie durch ihn hindurchfließen und sie entlud sich in einem Blitzschlag, der quer über die Lichtung schoss und einen Mann traf, der hinter Chloe aufgetaucht war.

Der Mann schrie und wurde zurückgeschleudert.

Auch Chloe schrie, warf sich zu Boden und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, während Ma’an die Arme ausbreitete und noch einmal die Energie der Umgebung in Younes’ Körper sammelte.

Erst jetzt konnte Younes dank Ma’ans Kräften spüren, dass sich mehrere Männer der Lichtung näherten. Ma’an hatte das wohl schon viel früher erkannt. Sie mussten Chloe gefolgt sein und vielleicht erklärte das, warum ihr der Naturgeist misstraute. Er glaubte womöglich, sie hätte Elekreen mit Absicht zu ihnen geführt.

Wenn sich Ma’an auf Younes’ Gedanken einlassen würde, wüsste er, dass das unmöglich wahr sein konnte. Aber er war in dem Moment ganz auf den Kampf und seine Umgebung konzentriert. Younes fühlte, wie er sich von ihm distanzierte. Die Energie des Naturgeistes verschmolz mit der Umgebung und ließ Younes etwas mehr Luft. Die Pflanzen, in die sein Wesen hineinfloss, wurden zu einem Teil seines Körpers und gehorchten Ma’an ebenso, wie Younes ihm gehorchen musste.

Ranken schossen aus der Erde, dort wo die Männer sich vom Rand der Lichtung aus näherten. Sie umschlangen deren Beine und brachten sie zu Fall. Schüsse fielen, doch Ma’an brachte das jetzt, nachdem er einen gesunden Körper zur Verfügung hatte, nicht aus der Ruhe.

Die Energie, aus der er bestand, floss in solch einer Geschwindigkeit, dass Zeit, wie Menschen sie kannten, für ihn kaum eine Rolle spielte. Younes hatte das Gefühl, er könnte die Kugeln, die auf sie zuflogen, in Zeitlupe beobachten.

Ma’an riss den Arm hoch und befahl mit dieser Bewegung einer Eichel zu seinen Füßen, Wurzeln zu schlagen und zu wachsen. Der Stamm brach aus dem Erdreich, schoss in die Höhe und die Kugeln durchbohrten das weiche Holz.

Zeitgleich umschlangen die Pflanzen, die die Männer zu Fall gebracht hatten, deren Körper und zogen sie unter die Erde.

Hilflos musste Younes das miterleben. Er hörte nicht nur ihre Schreie, er spürte durch die Energie, die ihre Körper durchströmte, auch, wie sie nach Luft schnappten und Dreck einatmeten. Es fühlte sich an, als würden seine eigenen Lungen brennen.

Er wollte das nicht, wollte nicht dazu gezwungen sein zu fühlen, was Ma’an fühlte, wollte nicht miterleben, was um ihn herum geschah und wie diese Männer litten und starben.

»Aufhören!«, schrie er. »Hör sofort auf damit!«

Ma’an ignorierte ihn. Er ließ seine Energie noch einmal in die Umgebung fließen, um festzustellen, ob er alle Angreifer ausgeschaltet hatte, dann wandte er sich Chloe zu, die noch immer auf dem Boden lag und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatte.

Younes versuchte, seine Kräfte zu sammeln. Gegen Ma’an anzukämpfen, schwächte ihn so sehr, dass er kaum noch unterscheiden konnte, wo seine Gedanken aufhörten und Ma’ans begannen.

»Sie hat dir nichts getan«, beharrte er. Doch sein Körper bewegte sich unbeirrt auf Chloe zu. Er hob den Arm und richtete die Hand auf sie.

»Ist das so?«, fragte Ma’an.

Chloe zuckte bei seinen Worten zusammen, senkte langsam die Arme und schaute zu ihm auf. Erschrocken über das, was sie sah, robbte sie von ihm weg. »Was ist mit dir? Younes, was tust du da?«

»Sie hat die Männer nicht absichtlich hergeführt. Wieso hätte sie das tun sollen?«

»Ihr Menschen seid falsch«, sagte Ma’an. Blitze züngelten zwischen seinen Fingern und Chloe riss die Augen auf: Diesmal war seine Kraft so stark gebündelt, dass sie es sehen konnte.

Sie stieß mit dem Rücken gegen einen Baum und zog sich daran hoch. »Wer … wer bist du?«

»Sieh sie dir an«, forderte Younes ihn auf. »Siehst du nicht, dass sie Angst hat?«

»Das hatten die Männer auch. Trotzdem kamen sie, um mich zu töten.«

Chloe schüttelte ungläubig den Kopf. Das einseitige Gespräch konnte für sie keinen Sinn ergeben.

»Sie sind ihr gefolgt, so wie sie auch versucht haben, mir zu folgen«, erklärte Younes und versuchte, die Erinnerung daran wachzurufen. Er wusste, dass Ma’an diese Erinnerung ebenso sehen würde wie er. Und tatsächlich zog der Naturgeist den Arm ein Stück weit zurück, während er sich auf das konzentrierte, was Younes ihm zu zeigen versuchte.

Younes wartete nicht darauf, dass Ma’an seine Entscheidung überdachte. Sofort als er von Chloe abließ, kämpfte Younes um die Oberhand über seinen Körper. Er konzentrierte sich mit aller Macht auf seinen Arm und zwang ihn, sich zu senken.

»Flieh!«, presste er hervor. Seine Hand zitterte, als Ma’an bewusst wurde, was Younes tat. Doch für einen kurzen Moment waren sie einander ebenbürtig.

»FLIEH!«, wiederholte er, ehe Ma’an die Kontrolle zurückgewann und den Arm wieder hochriss.

Chloe rannte los. Zwischen Younes’ Fingern knisterten erneut Blitze, aber Ma’an hetzte sie ihr nicht hinterher. Tatenlos sah er dabei zu, wie sie entkam.

»Du hast wahrscheinlich recht«, meinte er. »Es ist kaum denkbar, dass sie diese Männer absichtlich zu uns geführt hat.«

Kraftlos sank Younes in die Dunkelheit seiner Gedanken, spürte seinen Körper nicht mehr und sah nur noch verschwommen, was um ihn herum geschah. Er war ausgebrannt, kraftlos, und wenn er in diesem Moment versucht hätte, Ma’an in Gedanken zu antworten, wäre es ihm nicht gelungen.

Younes betrachtete seine Hände. Er sah dabei zu, wie sich seine Finger krümmten und streckten, und wünschte sich, es wäre sein Verdienst, dass sie das taten. Aber dem war nicht so. Ma’an steuerte seinen Körper und jede seiner Bewegungen.

»Du bist stark«, sagte er. Es war Younes’ Stimme, mit der er sprach, und doch klang sie ganz anders. Fremd und vertraut zugleich.

»Wenn ich wirklich stark wäre, würde ich dich aus meinem Körper vertreiben«, entgegnete Younes in Gedanken.

Er spürte, wie Ma’an lächelte, und es machte ihn wütend, dass er seinen Körper derart benutzen konnte, ohne dafür viel Kraft aufzuwenden. Dass dieser Naturgeist seine Gedanken hörte und Gefühle spürte und dass es nichts gab, was Younes vor dem fremden Geist in ihm verbergen konnte.

»Dein Bruder hat nichts von dem geahnt, was mit ihm geschah«, erklärte Ma’an. »Er hat nicht gelitten, falls du das glaubst. Es war für ihn wie ein Schlaf. Aber du bist bei vollem Bewusstsein. Du hast dir einen Platz erobert und lässt dich nicht verdrängen, spürst deinen Körper und siehst, was ich sehe. Mir war klar, dass es mit dir anders sein würde. Weil du anders bist. Aber damit hätte ich nicht gerechnet.«

Bei dem Gedanken an Samuel schäumte die Wut in Younes erneut auf. Sie war kaum noch zu bändigen. Wie konnte sich Ma’an das Recht herausnehmen, über ihn zu reden? Er hatte sein Leben auf dem Gewissen!

Younes schrie innerlich, sah, wie seine Hand sich zu einer Faust ballte, und spürte, dass Ma’an davon verunsichert wurde. Doch es war nicht nur die Tatsache, dass Younes seine Hand bewegt hatte. Auch die Schatten, die ihm von den Fingern bis hinauf zum Ellbogen krochen, beunruhigten den Naturgeist.

»Was ist das?«

»Ein Bewohner der Sphäre der Dunkelheit«, entgegnete Ma’an und im selben Moment wurde Younes von dem Wissen über sie überschwemmt. Eine weitere Sphäre, aus der sich die Welt zusammensetzte. Und auch über sie gab es Mythen und Legenden. Als Dämonen, Teufel, Daevas, Belial kannten die Menschen sie.

Was taten die Wesen dieser Sphäre hier? Wie war es ihnen gelungen, in die Ebene der Materie einzudringen? Auch wenn er nicht wusste, was dieser Belial in seiner Sphäre zu suchen hatte, war ihm klar, dass ihn seine Wut anlockte. Sie nährten sich davon, doch Ma’an würde nicht zulassen, dass sich noch ein weiteres Bewusstsein in Younes’ Körper festsetzte.

Er schüttelte die Hand, als könne er die Schatten dadurch loswerden wie ein paar Spritzer schwarzen Wassers. Und tatsächlich lösten sie sich von ihm.

»Keine Sorge«, sagte Ma’an. »Gegen einen wie mich kommt die Dunkelheit nicht an. So gesehen, hattest du Glück, denn ohne mich wäre es ziemlich finster für dich geworden.«

Mit Glück hatte das, was mit ihm geschah, nichts zu tun. Seine Wut auf den Naturgeist wuchs bei dessen Worten nur noch weiter an. Glaubte er wirklich, dass Younes ihm dankbar sein sollte?

Ma’an setzte seinen Weg durch den Wald fort und Younes kämpfte gegen jeden Schritt an. Doch das schwächte ihn ungemein. Aber nicht nur ihn. Auch Ma’an musste viel Kraft aufwenden. Er lief langsam und war bald außer Atem.

An einem Hang angekommen, fiel er beim Versuch hinaufzusteigen auf ein Knie.

»Hör auf damit!«, zischte er.

»Ganz sicher nicht!«, entgegnete Younes.

Ma’an stieß sich mit den Händen ab und kam taumelnd wieder auf die Füße. Er blickte den Hügel hinauf, fixierte den Horizont und lief darauf zu.

»Was erwartest du von mir? Du weißt, dass ich in deiner Welt einen Körper brauche, um zu überleben. Dein Bruder starb. Ich konnte ihn nicht retten. Hätte ich Chloe nehmen sollen?«

Younes antwortete nicht, weil Ma’an längst wusste, was er dachte. Er wusste, dass Younes ihm seinen Körper freiwillig überlassen hätte, um Chloe davor zu bewahren, eine Marionette zu werden. Und Younes war klar, dass Ma’an keine andere Wahl gehabt hatte. Er konnte nicht zurück in seine Welt. Der Weg war ihm versperrt.

Ma’an erreichte den höchsten Punkt der Anhöhe und ließ seinen Blick über die Ebene schweifen. Toronto lag im Dunkeln vor ihnen. Nur die Lichter der vielen Autos und ein paar Brände waren zu erkennen.

Die Säule in den Trümmern des Kraftwerks war schwächer geworden, aber noch immer schwebten Kugeln blauer Energie nach oben wie Luftblasen, die sich durch Wasser bewegten.

Ma’an hatte dieses Bild in Younes’ Erinnerungen gefunden und war hergekommen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass es wirklich das war, wonach es ausgesehen hatte.

Es war ein Riss zwischen den Sphären der Materie und der der Energie. Ma’an erkannte das auf den ersten Blick und damit wusste es auch Younes.

Die Leben der Naturgeister strömten durch den Riss und lösten sich langsam auf. Sie schufen neues Leben, wo sie die Erde berührten. Ein paar von ihnen würden sicher Körper finden, die sie bewohnen konnten. Aber das musste ihnen binnen kürzester Zeit gelingen, sonst würden sie einfach ein Teil des Energiefelds der Erde werden. Und sterben.

Was Younes kurze Zeit zuvor noch mit Verwunderung betrachtet hatte, ließ nun eine Welle von Gefühlen über ihn rollen. Es waren Ma’ans Gefühle, die so gewaltig waren, dass sie Younes schier erdrückten. Gefühle, die der Naturgeist in seiner Sphäre gar nicht gehabt hätte und die dadurch nur noch unbändiger und ungeschliffener waren. Hass und Abscheu lähmten ihn und drängten Younes so weit zurück, dass das Bild vor ihm in die Ferne rückte wie ein Fenster, das sich von ihm fortbewegte und dabei immer kleiner wurde.

»Was habt ihr getan?«, knurrte Ma’an wutentbrannt.

»Ich weiß es nicht.« Es fiel Younes schwer, seine Gedanken zu formulieren. Ma’an war so aufgebracht, dass er ihn in die dunkelste Ecke seines Geistes zurückgedrängt hatte.

»Was. Habt. Ihr. GETAN!«, geiferte Ma’an.

Sein Körper bebte und seine Fingernägel gruben sich tief in seine Haut. Younes spürte den Schmerz und konnte nichts anderes dagegen tun, als sich noch weiter in die Dunkelheit seiner Gedanken zurückzuziehen.

»Ich weiß nicht, was da geschieht!«

Ma’an schnaubte vor Wut. »Du verbirgst etwas vor mir.« Er bohrte die Finger tiefer ins Fleisch seiner Handflächen.

Der Schmerz überrollte Younes. Er konnte kaum mehr wahrnehmen, was vor ihm geschah. Blut floss ihm warm über die Haut.

Er versuchte, den Worten des Naturgeistes etwas entgegenzusetzen, doch es gelang ihm nicht, die Kraft dafür aufzuwenden. Da war nur noch der Schmerz und Ma’ans Geist, der auf ihn einströmte und jeden seiner Gedanken zerfetzte, auf der Suche nach etwas, das es nicht gab.

Es zerriss ihn. Alles, was er war. Verdrängte ihn völlig aus seinem Körper und ließ seine blanke, ungeschützte Seele in der Glut ungezügelter Gefühle verbrennen, die wie Peitschenschläge auf ihn niedergingen. Er wollte schreien, sich wehren, doch er konnte nicht.

Er wusste nicht, ob Sekunden oder Minuten vergingen. Irgendwann fühlte es sich an, als hätte Ma’an jeden seiner Gedanken, jede noch so kleine Erinnerung aus ihm herausgezerrt und ausgequetscht.

Erst als sich der Naturgeist langsam wieder von Younes’ Geist entfernte und ihn alleine und zusammengekauert zurückließ, wurde auch das Bild vor seinen Augen etwas schärfer.

Ma’an betrachtete seine blutigen Finger. Seine Wut wich einer unbändigen Entschlossenheit. Er hob die Hände und richtete sie auf die Stadt.

»Also gut«, sagte er gefasst. »So wie es aussieht, will Mutter Natur euch Menschen loswerden. Dann werde ich ihr Werkzeug sein. Ihr habt es nicht anders verdient, als vernichtet zu werden!«

Younes kämpfte um seine Stimme. Er musste etwas tun, die Kontrolle zurückgewinnen, Ma’an aufhalten. Seine Panik verstummte im Anbetracht der Macht, mit der der Naturgeist seine Kräfte bündelte.

Seine Energie floss in die Umgebung. Younes konnte jeden Baum auf dem Hügel spüren, jedes Blatt im Wind.

»Tu das nicht«, flehte er kraftlos.

Wie ein Erdbeben rollte Ma’ans geballte Energie auf die Stadt zu, verband sich mit allem und wurde ein Teil der Natur. Die Kraft der vielen sterbenden Wesen, die sich durch den Spalt zwischen den Welten über die Erde ergossen, verstärkten Ma’ans und Younes musste hilflos mit ansehen, wie sich ein mächtiger Schatten am Horizont hinter der Stadt erhob.

Das Wasser des Lake Ontario bäumte sich auf. Wogende Wellen peitschten schäumend in die Höhe, türmten sich zu einer eisigen Flut, die mit einem Mal über der Stadt zusammenbrach.

Younes’ Geist war so sehr mit Ma’ans und mit allem um sie herum verwurzelt, dass es sich anfühlte, als würden die Fluten ihm kalt und mit voller Wucht gegen den eigenen Körper schlagen.

Sie brachen sich an den Hochhäusern, rissen mit, was ihnen im Weg stand, und begruben Straße um Straße unter ihren Wassermassen.

Toronto versank. All die Menschen in ihren Fahrzeugen und Häusern, die Tiere, die Pflanzen, alles wurde gnadenlos ertränkt. Und Younes konnte nichts tun. Tatenlos musste er mit ansehen, wie der Naturgeist seine Wut über den Tod seines Volkes an der Stadt ausließ.

Younes ertrank selbst in Anbetracht dessen, was er wehrlos mit ansehen musste. Er ertrank in dem Schmerz, der ihn zerriss und sich darin zeigte, dass sein Körper, der reglos dastand und alles beobachtete, zu weinen begann. Stumme Tränen liefen ihm über die Wangen.