KAPITEL 21

ADDY

TAG 5: MI, 20:15 UHR,

WESTLICH VON BIRMINGHAM, ENGLAND

Es war spät geworden, die Stadt und die Straßen lagen weit hinter ihnen und sie liefen schon seit einer geraumen Zeit querfeldein. Die Lebensenergie der verstorbenen Meliad hatte die Natur wieder stark verändert. Pflanzen, die Addy noch nie zuvor gesehen hatte, sprossen aus dem Boden. Blumen, so hoch wie junge Baumtriebe, wuchsen aus dem Nichts und unter ihren Schritten flimmerte das Gras in zarten Regenbogenfarben.

Es war zu dunkel, um viel erkennen zu können, aber was Addy sah, erinnerte sie an den Tag, als Casimir ihr einen Blick in die Zukunft gewährt hatte und sie sich fühlte wie Alice im Wunderland.

Selbst die Atmosphäre schien sich verändert zu haben. Es kostete Addy ungewöhnlich viel Kraft zu atmen, aber jeder Atemzug, den sie tat, erfüllte sie mit neuer Energie.

Auch wenn sie weit weg von ihrem Zuhause war und es nichts gab, was sie in dieser Gegend kannte, fühlte sie sich in jene Tage zurückversetzt, als der kleine Park in London ihr Zufluchtsort gewesen war. Es war, als wäre sie ein Teil der Natur, die sie umgab. Hier kam es ihr sogar so vor, als würden die Pflanzen es bei ihr genauso empfinden.

Pflanzen, die fühlen konnten? Das war doch verrückt, aber genau so wirkte es auf sie. Lag das nur an ihrer Müdigkeit oder dem Adrenalin? Vielleicht hing es aber auch damit zusammen, dass sie sowohl die Meliad, als auch die Belial erkennen konnte.

Sie wünschte sich so sehr, dass es für all das eine Erklärung gäbe. Eine andere als die, dass sie den Verstand verlor. Und vielleicht wünschte sie es sich zu sehr und bildete sich die fühlenden Pflanzen deswegen nur ein. Aber Casimir war echt, die Belial ebenfalls und sie war fest davon überzeugt, dass auch die Fremden aus ihrer Vision existierten. Irgendwo auf dieser Welt.

Nein, mit Verrücktsein hatte das nichts zu tun. Sie war schon immer anders gewesen und vielleicht waren es diese drei Jugendlichen ebenfalls.

Sie schaute zu Sarah, die den Veränderungen um sich herum keine Beachtung schenkte. Die Arme hatte sie eng um den Körper geschlungen, zog schwerfällig einen Fuß vor den anderen und starrte zu Boden. Addy konnte gut verstehen, wie es ihr ging. Sie hatte Ähnliches in Orsett durchmachen müssen, hatte ihre Mum verloren und damit all ihre Hoffnung.

»Es tut mir so leid«, sagte Addy leise und legte den Arm um die Schulter ihrer Freundin, doch Sarah entzog sich ihr.

»Bleib weg von mir!«, verlangte sie und schuf Abstand zwischen sich und Addy. Sie sah zu Casimir, der Carson stützen musste. Abscheu und Missbilligung lagen in ihrem Blick. »Was bin ich? Eure Geisel? Ihr habt meinen Vater getötet, habt das Kraftwerk zerstört, das unsere letzte Waffe gegen diese Invasion war, und jetzt zwingt ihr mich, immer tiefer in diesen Urwald zu laufen, weg von Sullivan und dem Militär, bei denen ich sicher gewesen wäre! Ich will zu meiner Mum, Addy. Wieso verstehst du das nicht?«

»Natürlich verstehe ich das. Aber du weißt, dass es allein zu gefährlich ist.«

Es war nicht infrage gekommen, Sarah einfach in den Trümmern zurücklassen, wo die Belial sie hätten befallen können. Das hatte Addy ihr schon mehr als einmal erklärt, aber Sarah war nicht bereit zuzuhören. Sie wollte nicht einsehen, dass Addy nur versuchte, ihr zu helfen.

»Gib mir mein Funkgerät zurück«, forderte Sarah.

Addy legte unwillkürlich die Hand darauf. Sie hatte es an ihrem Hosenbund befestigt und angelassen, für den Fall, dass Elekreen ihnen auf den Fersen war. Doch bisher blieb es stumm.

»Sarah, versteh doch, wir wollen dir nichts Böses. Und wir haben deinen Vater auch nicht getötet. Er ist … es war ein Unfall.«

»Einen Unfall nennst du das?«, rief Sarah aufgebracht.

Addy sah sich um. Sarahs Stimme hallte durch die Dunkelheit der anbrechenden Nacht und fremdartige Geräusche, Rascheln im Dickicht und Bewegungen in den Schatten waren die Antwort darauf. Das war nicht der richtige Ort, um stehen zu bleiben und so eine Diskussion zu führen. Wer wusste schon, was die erblühende Natur neben den exotischen Pflanzen noch hervorbrachte?

Casimir half Carson, sich an einen Baum zu lehnen. Er stöhnte und sank zu Boden. Addy hatte nicht das Gefühl, dass er sich erholte. Ganz im Gegenteil.

»Wie sieht es aus?«, fragte sie.

»Es geht ihm nicht gut«, sagte Casimir. »Er hat mir sehr viel seiner Lebensenergie übertragen. Zu viel, um es zu verkraften oder sich selbst helfen zu können. Ich bräuchte Zeit, um für ihn Kräfte aus der Umgebung zu sammeln.«

Addy warf einen Blick zurück. Noch konnte man die Überreste der Stadt in der Ferne sehen. Letzte Lichtfetzen der Meliad erhoben sich bis in die Wolken und tauchten die Umgebung in ihr bläuliches Licht. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie versagt hatten. Wieder starben so viele unschuldige Meliad und sie hatte es nicht verhindern können.

»Wenn wir hier ein Nachtlager aufschlagen, finden sie uns«, meinte sie nachdenklich. »Wir sind noch zu nah an der Stadt, und wenn wir ein Feuer entzünden, würde man den Rauch sehen.«

»Gut so!«, sagte Sarah. »Ihr könnt nicht ewig weglaufen und ich werde nicht länger eure Gefangene sein.«

»Das bist du nicht«, versicherte Addy. »Aber wir können dich auch nicht einfach alleine hier draußen lassen. Die Belial sind noch immer gefährlich und wir wissen nicht, was hier sonst noch lauert.«

»Gib mir das Funkgerät! Sullivan wird mich finden und in Sicherheit bringen.«

»Wenn wir nicht bleiben können, müssen wir weitergehen«, ging Casimir dazwischen.

»Geht nur, aber ich bewege mich kein Stück«, beharrte Sarah. »Keine zehn Pferde bringen mich dazu, auch nur einen weiteren Schritt zu tun.«

»Addy …« Casimir wirkte angespannt, er hatte sich aufgerichtet und sah sich um.

Gerade als Addy sich ihm zuwandte, schrie Sarah plötzlich in ihrem Rücken. Addy wirbelte herum und sah eine Bestie aus dem Dickicht brechen. Ein Belial.

Nichts an diesem Ding erinnerte mehr an einen Menschen. Seine Arme hingen dicht über dem Boden, seine Finger waren zu Klauen geworden und seine Wirbelsäule gekrümmt. Sie ragte ihm wie ein Dornenkamm aus dem Fleisch. Der schwarze Schlick bedeckte seinen ganzen Körper und nur seine Augen funkelten diabolisch daraus hervor.

»Pass auf!«, schrie Addy, tat instinktiv einen Schritt auf Sarah zu und streckte die Hand nach ihr aus.

Sarah stolperte von dem Monster weg, das es offensichtlich nur auf sie abgesehen hatte. Es fletschte die Zähne, machte sich zum Sprung bereit, doch das bekam Sarah nicht mehr mit, weil es im selben Moment auch hinter ihr im Gebüsch raschelte und sie herumwirbelte. Die Augen eines zweiten Belial funkelten in der Dunkelheit und sein Atem zeichnete sich neblig in der kalten Abendluft ab.

Casimir rannte an Addy vorbei, warf sich über Sarah, riss sie zu Boden und Wurzeln schossen über sie hinweg. Sie bildeten einen Schutzschild, auf das sich die beiden Belial blindlings stürzten.

Addy wich zurück und stieß gegen den Baum, an dessen Wurzeln Carson kauerte. Er war zu geschwächt, um sich aus eigener Kraft zu verteidigen, also griff Addy sich einen Ast und baute sich schützend vor ihm auf.

Ihr Herz pochte hektisch in ihrer Brust, ihr Atem ging stoßartig und sie spürte, wie ihr die Knie weich wurden. Entschlossen schraubte sie ihre Hände fester um den Ast, sah von einem Belial zum anderen, doch die beiden machten keine Anstalten, sich ihnen zuzuwenden. Offenbar hatten sie es nur auf Sarah abgesehen. Es musste ihre Wut sein, die sie anlockte.

Der Wurzelwall, unter dem Casimir und Sarah Schutz suchten, stob auseinander und drängte die Monster zurück. Casimir sprang auf, richtete seine Hand gegen eines der beiden Monster und durchbohrte es mit einem Blitz. Das Wesen schrie markerschütternd, bäumte sich auf und zerplatzte, sodass der schwarze Schlick in alle Richtungen verteilt wurde.

Addy hob instinktiv die Hand vors Gesicht, wurde aber nicht getroffen. Nur langsam senkte sie den Arm wieder und sah zu Casimir, der sich dem zweiten Angreifer zugewandt hatte.

Plötzlich huschte etwas an Addy vorbei. Sie riss instinktiv den Ast in die Höhe, umklammerte ihn fest mit beiden Händen und ihr Herz schlug ihr bis in die Kehle. Doch es war kein Belial, der gleich neben ihr aus dem Dickicht brach. Es war ein Mensch. Eine Frau mit Pferdeschwanz und Tuch über Mund und Nase. Sie hielt eine Fackel in der Hand, schwenkte sie vor dem Belial und trieb ihn damit langsam zurück.

Um sie herum traten weitere Menschen aus der Dunkelheit. Zwei von ihnen schnappten sich Sarah, ehe Casimir reagieren konnte, und zogen sie auf die Füße. Ein anderer trat an Addy heran. Auch sein Gesicht war von einem Tuch verdeckt und vor seinen Augen hing rotes, lockiges Haar.

Sie wich vor ihm zurück und hob den Ast, doch er schien es nicht darauf abgesehen zu haben, ihr etwas anzutun. Er zog sich das Tuch von Mund und Nase und das freundliche Gesicht eines jungen, bärtigen Mannes kam zum Vorschein. Er nickte zu dem Ast in ihren Händen.

»Den brauchst du jetzt nicht mehr«, sagte er mit warmer, melodischer Stimme.

Unsicher sah Addy zu den anderen. Sarah wehrte sich gegen die Fremden und riss sich schließlich los. Der Belial wich weiter vor dem Feuer zurück und verschwand in der Dunkelheit, woraufhin Casimirs Haltung sich entspannte.

Zögernd senkte Addy die Arme, baute sich aber sofort vor Carson auf, als einer der Fremden sich ihm näherte.

»Wer seid ihr?«, fragte sie den rothaarigen Mann.

Bevor er ihr etwas erklären konnte, ergriff die Frau mit dem Pferdeschwanz das Wort.

»Er ist einer von ihnen«, sagte sie ehrfürchtig.

Alle wandten sich ihr und Casimir zu, den sie anstarrte. Leises Gemurmel ertönte und die Fremden wechselten vielsagende Blicke. Wussten diese Menschen etwa von den Meliad? Addy hatte noch nie jemanden getroffen, der sie erkennen konnte.

»Wir wollen euch nichts tun«, versicherte die Frau, an Casimir gerichtet, und reichte die Fackel an einen der Männer weiter.

»Mein Name ist Skye.« Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen. Sie legte sich die Hand auf die Brust und betonte die Worte überdeutlich, als würde sie mit jemandem sprechen, der ihre Sprache nicht beherrschte. Dann zeigte sie auf Casimir. »Wie heißt du?«

Casimir schaute fragend zu Addy, aber auch ihr erschloss sich nicht, was gerade geschah. Was waren das für Menschen und wie hatten sie sie gefunden?

»Was ist mit eurem Freund?«, fragte der rothaarige Mann und nickte zu Carson. »Ist er verletzt? Braucht er Hilfe?«

»Er …«, begann Addy. Sie war verwirrt, konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, mit wem sie es zu tun hatten und was diese Skye über Casimir zu wissen schien. Dazu kam das Adrenalin, das noch immer durch ihre Adern schoss und es ihr schwer machte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Der Mann, der es vorher schon einmal versucht hatte, näherte sich Carson wieder und sie verstellte ihm den Weg. »Fasst ihn nicht an!«

»Von uns droht euch keine Gefahr«, versicherte Skye. »Insbesondere ihnen nicht, die gekommen sind, um unsere Welt von der Knechtschaft des Kapitalismus zu befreien.«

»Der was?« Je mehr diese Menschen von sich preisgaben, desto verwirrter war Addy.

»Kommt mit«, bot der rothaarige Mann an. »Wir können euch die Zuflucht bieten, die ihr sucht.«

»Es wäre uns eine Ehre«, sagte Skye zu Casimir und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Casimir reagierte nicht sofort, nickte aber schließlich, als von Addy kein Einspruch kam. Sie wusste nicht, was dagegen spräche, diesen Leuten zu vertrauen. Sie schienen nichts Böses im Schilde zu führen.

Skyes Lächeln wurde breiter und sie lief voraus.

»Mein Name ist Malte«, stellte sich der rothaarige Mann vor. »Lässt du mich deinem Freund helfen oder beißt du, wenn ich näher komme?« Er schmunzelte und sah Addy mit seinen freundlichen Augen an. Es fiel schwer, ihm zu misstrauen. Er schien ein guter Kerl zu sein. Dennoch wollte sie Vorsicht walten lassen. Sie wusste noch immer nicht, was diese Leute mitten in der Nacht im tiefsten Urwald trieben.

»Addyson Maxwell. Addy.«

Zögernd trat sie beiseite. Malte rief einen seiner Begleiter zu sich und unter Addys skeptischem Blick halfen sie Carson auf die Beine.

Jemand legte Sarah die Hand in den Rücken, doch sie entwand sich dem Fremden. »Lasst mich in Ruhe!«

»Schon gut«, brummte der Mann, streckte verteidigend die Hände in die Höhe und schloss sich dann den anderen an.

Addy wartete, bis Sarah bereit war mitzugehen. Die Dunkelheit und die fremdartigen Geräusche in den Schatten schienen sie am Ende zu überzeugen, denn sie sah sich immer wieder ängstlich um.

Sie folgten den Fremden tiefer in die Wildnis und weg von der Stadt.

»Wir waren sicher genauso geschockt wie ihr, als das vor ein paar Tagen losging«, erzählte Malte. »Plötzlich werden alle Städte von der Natur verschlungen, neue Pflanzen entstehen, wo vorher nichts gewachsen ist, es kommen Berichte von Katastrophen auf der ganzen Welt rein, bevor Internet und Mobilfunknetze ausfallen und wir von unseren Mitstreitern in anderen Ländern abgeschnitten werden. Wir wissen nicht, was hier passiert. Aber wir versuchen, das Beste daraus zu machen.«

»Mitstreiter?«, hakte Addy nach.

»Wir sind Umweltschützer«, sagte er und blieb stehen. »Oder zumindest waren wir das, bevor die Umwelt begonnen hat, sich selbst zu schützen.«

Erst jetzt fiel Addy sein Shirt auf. Es war schmutzig und löchrig, wodurch man die grüne Schrift auf den schwarzen Balken nicht mehr lesen konnte. Aber das kreisrunde Logo darüber kam ihr bekannt vor.

Malte schob ein paar Äste beiseite und deutete nach vorne.

Addys Blick folgte seiner Geste zu einer Lichtung. Mehrere Dutzend Menschen hatten sich dort um Lagerfeuer versammelt, Zelte standen ringsumher und auf die angrenzenden Bäume führten Leitern. Man konnte mehrere Plattformen, Hängebrücken und Baumhäuser im Geflecht der hohen Äste erkennen.

»Wo sind wir hier?«, fragte sie.

»Mitten im Sutton Park«, erklärte Malte. »Vor ein paar Jahren sollte hier die Natur einem Industriegebiet weichen. Seitdem leben einige von uns in den Bäumen, um die Rodung zu verhindern.«

»Und vor ein paar Tagen explodierte dann die Natur«, fügte Skye hinzu. »So schnell wird hier wohl niemand mehr etwas roden.«

»Wir haben Flüchtige aus der Umgebung aufgenommen«, fuhr Malte fort. »Der Wald hat sich bis in die Innenstadt ausgebreitet, alle Häuser zerstört und die Anwohner vertrieben. Nicht viele haben es bis hierher geschafft, aber wer den Weg gefunden hat, den haben wir mit offenen Armen empfangen. In solchen Zeiten ist es doch wichtig, dass wir alle zusammenhalten, nicht wahr?«

Addy versuchte noch zu verarbeiten, was er ihr alles erzählt hatte, als sich Sarah einmischte. »Und wer hat euch die Erlaubnis gegeben, hier zu campieren?«, fragte sie herausfordernd.

Malte lachte. »Niemand, sonst wäre es ja keine Besetzung. Schon mal was von zivilem Ungehorsam gehört?«

»Dir ist schon klar, dass das hier alles Verbrecher sind, Addy? Wir verstecken uns vor dem Militär und laufen geradewegs in ein Camp voller Neuzeithippies.«

»Sarah, es …«, begann Addy.

»Es wird hier niemand gezwungen, unsere Hilfe anzunehmen«, fiel ihr einer der Männer ins Wort.

»Vielleicht beruhigst du dich erst einmal, Kleines«, schlug Malte vor.

Eine Frau mit lockigem Haar machte einen Schritt auf Sarah zu, doch die hob abwehrend die Hände und wich vor den Leuten zurück.

»Lasst mich bloß in Frieden! Ich will das hier alles nicht, verstanden? Ich will kein Hippie werden, in einem Zelt schlafen und darauf warten, dass die ganze verdammte Welt untergeht. Ich bin kein Aussteiger wie ihr. Ich will mein Netflix, Insta und YouTube. Ihr findet das vielleicht zum Lachen, aber das war mein Leben und es war gut so. Ihr könnt mir alle gestohlen bleiben, mit euren Chais, Shishas und Baumkuscheltänzen.« Sie schlug die Hände der Frau weg, die weiter versuchte, sich ihr zu nähern und sie zu beruhigen. »Nein, lasst mich!«, fauchte sie, wirbelte herum und rannte davon.

»Zumindest wird sie nicht traurig sein, wenn sie erfährt, dass wir keinen Chai haben«, sagte die Frau. Ein paar der Leute lachten verhalten.

»Deine Freundin scheint das alles nicht so gut wegzustecken«, meinte Malte.

»Nein, nicht wirklich … « Addy schaute ihr nach. Sie durchquerte das Lager und verschwand zwischen den Bäumen. Sarah würde sicher nicht so dumm sein, zu weit wegzugehen. Zumindest hoffte Addy das.

»Bei Nacht sollte sie sich nicht zu tief in die Dunkelheit hineinwagen«, sprach Malte aus, was ihr durch den Kopf ging. »Wenn sie nicht aufpasst, wird sie wieder die Wesen anlocken, die den Wald unsicher machen.«

»Belial«, erklärte Addy. Nervös suchte sie den Waldrand ab, konnte Sarah aber nicht mehr sehen.

Malte sah sie fragend an.

»Durch ihr Geschrei haben wir euch erst gefunden«, erzählte Skye. »Das Licht hält diese Belial, wie du sie nennst, fern, aber wenn deine Freundin für uns zur Gefahr wird …«

»Ich rede mit ihr.« Doch dann blieb ihr Blick an Carson hängen und sie rührte sich nicht.

»Wir kümmern uns um ihn«, versicherte ihr Skye.

»Geh nur«, forderte Casimir sie auf.

Addy nickte und folgte Sarah. Sie fand sie am Fuß eines Baumes, nicht weit vom Lager entfernt. Mit angezogenen Beinen saß sie dort zwischen den Wurzeln und weinte.

»Geh weg«, schluchzte sie, als Addy sich ihr gegenüber ins Laub sinken ließ.

Addy antwortete nicht. Sie hätte ihr sagen können, wie sehr es ihr leidtat und dass sie mit ihr fühlte, aber das war es nicht, was Sarah in dem Moment brauchte. Sie brauchte eine Freundin, die einfach nur für sie da war und ihr zuhörte, wenn sie bereit war zu reden. Also schwieg Addy und wartete.

»Er darf nicht tot sein«, sagte Sarah nach einer Weile. »Ich will nicht … das kann nicht …«

»Ich weiß«, flüsterte Addy. Sie rückte neben Sarah und die fiel ihr weinend in die Arme.

»Er hat sich nicht geirrt«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Er wusste, was er tat. Er hat nur versucht, die Menschheit zu retten. Es kann doch nicht sein, dass das unsere Zukunft ist. Sollen wir wirklich leben wie die Höhlenmenschen? Sollen wir alles aufgeben?«

Addy erwiderte darauf nichts. Sie wusste nicht, wie ihre Zukunft aussehen und ob es überhaupt eine geben würde. Sie wollte auch nicht schlecht von den Toten reden, auch wenn sie bezweifelte, dass Bennet es wirklich nur gut gemeint hatte. Wohl eher hatte er die Fehler von Elekreen vertuschen wollen, indem er ein Lügengebilde aufgebaut hatte, an das er am Ende selbst geglaubt hatte.

Sich zu belügen, war eine Eigenart der Menschen, die viel Schlimmes hervorbringen konnte. In den letzten Tagen hatte Addy Bennet und andere oft dafür verflucht. Aber manchmal war eine Lüge auch genau das, was man brauchte, um die Hoffnung nicht zu verlieren. Manchmal musste man sich selbst etwas vormachen, damit wahr wurde, was eigentlich nicht sein konnte.

»Ich bin mir sicher, dass alles gut wird«, meinte Addy leise und versuchte, selbst daran zu glauben. Auch wenn sie wusste, dass es eine Lüge war.

Sie sah hinauf zu den Baumkronen und beobachtete die Wolken zwischen den Ästen, wie sie über den nächtlichen Sternenhimmel zogen. Selbst dort oben war nichts mehr wie zuvor. Man hätte meinen können, das wären gar keine Wolken, sondern feiner Nebel aus glitzerndem Staub, in dem es wimmelte wie in einem Schwarm winziger Fische.

Völlig fasziniert sah sie dabei zu, wie Flocken vom Himmel fielen. Schnee, obwohl es gar nicht so kalt war, dass Wasser hätte gefrieren können.

Sie hob die Hand, fing eine der Schneeflocken auf und es war, wie Licht einzufangen. Über ihrer Handfläche schwebte ein Funke, keine Flocke. Warm und von reinweißem Licht. Er tänzelte umher, als würde er leben, hätte sich verirrt und suchte einen Ausweg.

»Was ist das?«, fragte Sarah.

»Ich weiß nicht …« Addy zog ihn näher an sich heran, um erkennen zu können, womit sie es zu tun hatte. Doch kaum, dass sie das getan hatte, wurde aus der Wärme, die der Funke ausstrahlte, eine beißende Kälte und er schmolz wie ebendiese Schneeflocke, für die sie ihn im ersten Moment gehalten hatte.

Ein Rascheln, nicht weit von ihnen, ließ Sarah und sie aufschrecken. In den Schatten waren Bewegungen zu erkennen und sofort dachte sie an die Belial.

»Komm jetzt«, forderte sie Sarah auf und zog sich möglichst leise auf die Füße.

Dennoch konnte sie nicht vermeiden, dass das trockene Laub unter ihr raschelte. Äste knacksten rechts von ihnen und Laute waren zu hören, die an rasselnde Atemzüge erinnerten. Es musste mindestens ein halbes Dutzend dieser Monster sein.

»Sind sie das wieder?«, fragte Sarah und stand ebenfalls auf.

»Wir sollten zurück zu den anderen«, erwiderte Addy, wagte es aber nicht, eine zu schnelle Bewegung zu machen.

Während sie sich umsah, schwebten weitere dieser kleinen Lichter wie verwehter Schnee zu Boden. Dort, wo die Funken etwas berührten, leuchteten sie zaghaft auf, bevor sie schmolzen und Eiskristalle hinterließen. Addy war hin- und hergerissen zwischen Faszination und dem schleichenden Gefühl, dass sie gerade die Vorzeichen einer weiteren Katastrophe beobachtete.

Die Belial, die begonnen hatten, Sarah und Addy einzukreisen, schienen sich zurückzuziehen.

Sarah ergriff ihre Hand und Addy drückte sie fest.

»Schnell jetzt!«, sagte sie, zog Sarah hinter sich her und sie rannten zurück zur Lichtung.