ADDY
TAG 5: MI, 22:00 UHR, SUTTON PARK, ENGLAND
Die Belial setzten ihnen nicht nach. Nachdem sie das Lager erreicht hatten, fiel die Anspannung von Addy ab und Sarah ließ ihre Hand los.
»Das war knapp«, sagte Sarah kleinlaut.
»Es ist ja noch mal gut gegangen«, meinte Addy abwesend und sah hinauf zum Himmel.
Jetzt, da die Baumkronen sie nicht mehr abschirmten, konnte sie das gesamte Ausmaß des Geschehens betrachten. Die Wolken, die scheinbar keine waren, wirkten wie Schwärme winziger Lebewesen – ähnlich aufgeschreckter Vögel, die weit über ihnen kreisten. Und immer mehr dieser Lichter fielen zu Boden.
Wo sie die Zelte, Baumhäuser und Pflanzen berührten, hinterließen sie eine dünne Schicht Eis, sodass es bald aussah, als habe sich Reif wie an einem kühlen Wintermorgen auf die Umgebung gelegt.
Addy begann zu zittern. Es wurde rapide kälter und die kühle Luft brannte ihr in den Lungen.
»Was passiert hier?«, fragte Sarah.
»Ich weiß es nicht«, gestand Addy ein. Obwohl sie eine Ahnung hatte. »Warte hier«, bat sie und durchquerte auf der Suche nach Casimir das Lager.
Wenn schon die Belial in die Welt der Menschen geraten waren, war es da nicht nur eine Frage der Zeit, bis auch die Bewohner der Sphäre des Lichts folgen mussten? Ein weiteres Tor zwischen den Sphären war aufgerissen, weil sie das Kraftwerk nicht rechtzeitig abgeschaltet hatten. Was, wenn weitere Kraftwerke fielen, weitere Risse entstanden und irgendwann alle Ebenen in sich zusammenbrachen? Gab es dann überhaupt noch eine Rettung für die Menschheit und ein Zurück zu dem, was sie kannten?
Casimir konnte ihr ihre Vermutung sicher bestätigen. Auch wenn sie hoffte, sich zu irren. Allein der Gedanke daran, dass alle Grenzen fielen, schnürte ihr die Kehle zu und ließ ihren Atem schneller gehen.
»Hey!«, rief ihr jemand nach.
Addy wirbelte herum und sah Carson am Pfosten eines Unterstands lehnen. So schlecht schien es ihm gar nicht mehr zu gehen. Er stieß sich ab, lächelte schief und kam zu ihr gelaufen.
Die Eisfunken legten sich ihm wie Schnee auf Kopf und Schultern und schmolzen dort, kaum dass sie ihn berührt hatten. Er schauderte und rieb sich die Arme. Es wunderte sie, dass ihm kalt war, wo Casimir doch nie zu frieren schien.
»Addy, nicht wahr?«, fragte er. »Wer hätte gedacht, dass wir uns mal wiedersehen.«
Addy starrte ihn verwirrt an. Als wäre das, was er gesagt hatte, völlig normal, stand er vor ihr, sprang von einem Bein aufs andere und blies sich warmen Atem in die hohlen Handflächen.
»Scheiße, ist das kalt«, bibberte er.
»Du …«
»Ben«, fiel er ihr ins Wort. »Hast du mich vergessen?«
»Aber wo …?« Ihre Gedanken überschlugen sich. War er nicht tot gewesen? Hatte Carson das nicht behauptet?
»Sorry, ich dachte, du wüsstest noch, wer dir dein Leben gerettet hat«, lachte Ben. »Aber scheinbar ist das für dich länger her als für mich. Ich muss einen Schlag auf den Kopf bekommen und die letzten Wochen oder Monate vergessen haben. Die Sache in London ist sicher schon eine ganze Weile her, so kalt, wie es geworden ist. Und dass die Menschen zurück ins Mittelalter gebombt wurden, ist mir auch neu.«
»Du lebst …!«, sprach Addy das Unfassbare aus. Sie musste es laut hören, um es zu glauben.
Sobald ihr die Worte über die Lippen gekommen waren, wich ihre Skepsis der Freude. Sie fiel ihm in die Arme und er stolperte erschrocken zurück.
»Woah«, stieß er überrascht aus und streckte die Hände von sich. Erst nach einer Weile senkte er sie und erwiderte die Umarmung.
Addy konnte es kaum fassen. Auch wenn sie nicht wirklich die Gelegenheit gehabt hatte, Ben richtig kennenzulernen, war sie überglücklich. Dass er noch am Leben war – nach allem, was sie verloren hatten und was schiefgegangen war –, schenkte ihr neue Hoffnung.
»Ist irgendwas zwischen uns gelaufen, von dem ich wissen sollte?«, fragte er.
Addy löste sich von ihm. Ein verlegenes Lächeln huschte ihr über die Lippen. »Nein, das ist es nicht.«
»Sicher? Weil ich mich nämlich kenne und von so einem hübschen Mädchen wie dir hätte ich sicher nicht die Finger lassen können.«
Er grinste schief und Addy musste schmunzeln.
»Nein, wir haben uns erst in Birmingham wiedergesehen«, erklärte sie. »Und es sind auch nur ein paar Tage vergangen. Kannst du dich wirklich an nichts mehr erinnern?«
Er verengte die Augen. »Nein, da ist nichts. Obwohl, vielleicht ein paar Gefühle, verschwommene Bilder. Wie nach einem Traum. Ich erinnere mich an Schmerzen, Hunger … aber nichts Greifbares. Vielleicht habe ich so etwas wie ein Trauma und alles einfach verdrängt?« Er grinste, als wäre das alles nur ein Scherz, schien aber ganz in Gedanken zu sein.
Schließlich griff er nach seinem Shirt und zog es hoch. Darunter kam eine fast verheilte Verletzung zum Vorschein. Vorsichtig ließ er seine Finger über die Narbe wandern.
Von seiner Hüfte quer über den Bauch bis hin zu den Rippen zog sich die daumenbreite rote Linie. Die Wunde war offenbar nie fachmännlich versorgt worden, denn hätte man sie genäht, wäre wohl kaum eine so breite und gezackte Narbe zurückgeblieben.
»An die Schmerzen kann ich mich erinnern …«, murmelte er abwesend. »Aber wann zum Teufel habe ich mir den halben Bauch aufgeschlitzt und wie kann das schon verheilt sein, wenn erst ein paar Tage vergangen sind?«
Addy starrte wie gebannt auf die Verletzung. Ein Schauder überkam sie bei dem Gedanken daran, wie sehr so eine Wunde geschmerzt haben musste und wie hilflos Ben gewesen war, wo er doch keine Gewalt über seinen eigenen Körper gehabt hatte.
»Tut es noch weh?«
Irgendwie fühlte sie sich verantwortlich, obwohl sie ja nichts für das konnte, was mit ihm geschehen war. Sie fragte sich allerdings, ob sie es hätte merken müssen, ob sie hätte nachhaken sollen, anstatt Carson einfach zu glauben, dass Ben tot war.
»Es juckt nur etwas«, meinte er und schob sein Shirt wieder zurecht. »Du weißt doch mehr, als du zugibst. Ich seh’s dir an der Nasenspitze an.«
»Addy!«, rief Casimir.
Erleichtert atmete sie auf. Casimir kam vom anderen Ende des Lagers zu ihnen gelaufen und das gerade rechtzeitig, um sie davor zu bewahren, Ben die Wahrheit sagen zu müssen. Wie hätte sie ihm das alles auch erklären können? Sie wusste ja nicht einmal, wo sie anfangen sollte.
»Wir reden später weiter, ja?«, bat sie.
Ben legte die Stirn in Falten. Er ahnte, dass sie Geheimnisse vor ihm hatte, nickte aber schließlich.
Addy erwiderte das mit einem schmalen Lächeln.
Sie wandte sich Casimir zu, der ihren Ellbogen griff und sie von Ben wegzog, als wäre er gefährlich. Sein Blick ging über ihre Schulter hinweg zurück zu ihm und erst, nachdem Ben sich abgewandt hatte, widmete er sich Addy.
»Wusstest du, dass Ben gar nicht tot war?«, fragte sie, bevor er etwas sagen konnte.
»Es ist nicht so, wie du denkst.«
»Und wie ist es dann?«, hakte sie nach.
»Ich war mir nicht sicher, ob Carson uns die Wahrheit gesagt hat.«
Addys Herz verkrampfte sich bei diesen Worten und sie wich unweigerlich einen Schritt vor ihm zurück.
»Nicht sicher?« Ihre Stimme drohte zu versagen. Wieso hatte er nichts zu ihr gesagt? Wieso verschwieg er ihr etwas so Entscheidendes? »Ist dir klar, dass er alle Schmerzen mitempfunden hat? Er hat gelitten, verstehst du? Carson hat ihn benutzt, hat ihn hungern und frieren lassen und seine Verletzungen ignoriert! Es war ihm egal, was das für Ben bedeutete.«
»Das wissen wir nicht. Er kann sich nicht erklären oder seine Taten rechtfertigen, weil er jetzt derjenige ist, der handlungsunfähig in diesem Körper feststeckt. Und das, weil er mir das Leben gerettet hat. Erst wenn er wieder bei Kräften ist und die Kontrolle zurückgewinnt, können wir ihn fragen.«
Addy glaubte nicht, was sie da hörte. »Die Kontrolle zurückgewinnen?«, fragte sie ungläubig. »Bennet hat von einer Invasion gesprochen, und genau das ist es, wenn ihr unsere Körper nehmt, ohne Rücksicht auf die Menschen zu nehmen, die sie bewohnen! Carson hat kein Recht darauf, sich Bens Körper zurückzuholen!«
Sie wandte sich von Casimir ab und ihre Gedanken kreisten um alles, was Bennet behauptet hatte und was plötzlich gar nicht mehr so abwegig klang.
Die Kälte kroch ihr tief in die Knochen und ließ sie schaudern. Sie fühlte sich wie eine Betrügerin, zwischen all den freundlichen Menschen, die sie mit offenen Armen aufgenommen hatten. Diese Leute schienen die Naturgeister zu bewundern, vielleicht sogar zu verehren. Was würden sie sagen, wenn sie Carson kennenlernten? Ein Meliad, der menschliche Gefühle belächelte und denen ihr Leben nichts wert war.
»Addy …« Casimir berührte ihre Schulter, doch sie entzog sich ihm.
Konnte sie sich denn so getäuscht haben? In den Meliad, aber vor allem in ihm? Nein, Casimir war nicht so wie Carson. Und dennoch verteidigte er dessen Verhalten.
»Ich habe es geahnt«, erklärte er. »Dass Carson so viel über eure Art zu fühlen und zu denken wusste, schien mir ungewöhnlich. Es ließ sich nur damit erklären, dass er sich diesen Körper teilte und Zugriff auf die Gefühle eines lebenden Menschen hatte. Aber sicher war ich mir nicht und es hätte auch nichts geändert. Was hätten wir denn tun können? Wenn unsereins in eurer Welt landet, bleibt nur ein kurzer Augenblick, um in einem Körper Zuflucht zu finden. Carson hatte wahrscheinlich gar keine andere Wahl, als sich Bens zu bemächtigen. Hätten wir von ihm verlangen sollen, diesen Körper wieder zu verlassen, zu sterben, wo es doch nicht sein freier Wille war, in eurer Welt zu stranden, und wo wir ihn doch brauchten, um Bennet aufzuhalten?«
»Du hättest es mir nicht verheimlichen sollen«, sagte sie mit brüchiger Stimme.
»Und dann? Schau dich um. Schau, was hier passiert.« Er breitete die Arme aus und Addy ließ ihren Blick über das Lager schweifen. Eiskristalle überzogen den Boden und die Zeltplanen und noch immer fielen sanft die Lichter vom Himmel. »Was du hier siehst, ist ein Massensterben. Es sind die Ignis, die Bewohner einer weiteren Sphäre, die durch die Taten der Menschen in Gefahr geraten ist.«
»Durch die Taten von Elekreen«, verbesserte sie ihn. »Wir haben doch versucht, das Kraftwerk abzustellen. Wir hatten es beinahe geschafft.«
»Nein, Addy. So einfach ist das nicht …« Er sah sie mit einem Blick an, in dem Mitgefühl und Bedauern lagen. »Sie sterben, weil sie ohnehin schon geschwächt sind. Weil das Licht, im Gegensatz zur Dunkelheit, keinen Platz mehr findet in einer Welt, die sich selbst zerstört – eine Welt, die ihr zerstört. Ihr Menschen. Und das weißt du auch. Es ist nicht nur Elekreen, auch wenn du dich in den letzten Tagen darauf versteift hast. Selbst wenn es uns wie durch ein Wunder gelingen sollte, alle Kraftwerke abzuschalten, ist das nur der erste Schritt. Was unsere Welt tatsächlich sterben lässt, das seid ihr. Ihr alle, mit euren Giften, die ihr in die Meere pumpt, euren Chemikalien, die die Erde verbrennen, eurer Genmanipulation, der Massentierhaltung, der Ausrottung unzähliger Arten, der Verwüstung ganzer Landstriche. Mit alldem habt ihr unsere Welt geschwächt und erst das hat es Elekreen überhaupt ermöglicht, bis zur Sphäre der Energie vorzudringen. Vielleicht können wir Elekreen stoppen, aber dadurch bekämpfen wir nur ein Symptom, nicht die Krankheit. Und was, glaubst du, passiert, wenn bis dahin alles Licht und damit alle Wärme aus dieser Welt gewichen ist? Wie wird es noch Leben geben können, wenn alles zu Eis erstarrt? Du kannst nicht von uns erwarten, dass wir uns dem Tod ergeben, um euch zu schonen, die ihr uns das alles angetan habt. Das kannst du nicht, Addy. Weder von Carson noch von mir.«
Addy hatte das Gefühl, keinen Boden mehr unter den Füßen zu spüren. Er hatte ja recht mit dem, was er über die Zerstörung der Umwelt sagte, und Addy schämte sich auch für die Taten der Menschen. Sie fühlte sich mitschuldig und hätte alles getan, um die Zeit zurückzudrehen und vieles ungeschehen zu machen. Aber das konnte sie nicht. Niemand konnte das. Trostlosigkeit schuf sich in ihr Platz.
»Du hast niemandem den Körper gestohlen«, sagte sie leise. »Eric lebt nicht mehr. Ben schon.«
»Und wenn er noch leben würde? Würdest du dann von mir verlangen zu sterben?«
Addy schüttelte den Kopf. Das würde sie von niemandem verlangen wollen, aber vielleicht hätte sie Bennets Behauptungen nicht so schnell abgetan, wenn Eric noch am Leben gewesen wäre. Wie wäre ihr Weg verlaufen, wenn sie nicht Casimir, sondern Carson zuerst getroffen hätte? Wenn nicht Eric, sondern Sarah oder ihre Mum von einem Meliad besessen gewesen wäre? Hätte sie die Naturgeister dann bekämpft? Hätte sie genau das getan, was Elekreen und das Militär taten?
Vielleicht war es einer der größten Irrtümer zu glauben, dass es immer eine richtige und eine falsche Seite gab. Vielleicht war alles im Leben nur eine Frage der Sichtweise und es zerriss Addy innerlich, nun langsam begreifen zu müssen, dass Casimir und sie auf verschiedenen Seiten standen.
»Und wenn ich es wäre?«, fragte sie. »Wenn Carson mir meinen Körper und meinen freien Willen genommen hätte, würdest du ihn dann einfach machen lassen? Weil … es ja okay ist, uns unsere Körper zu nehmen, wo wir uns doch an so vielem schuldig gemacht haben?«
»Ich würde niemals zulassen, dass dir jemand ein Leid zufügt. Egal wer«, schwor er.
»Dann stell dir einfach vor, Ben wäre ich. Was würdest du tun, um mir zu helfen?«
»Addy, verlang das nicht von mir. Verlang nicht, dass ich mich gegen meinesgleichen und für die Menschen entscheide. Carson hat genauso ein Recht auf Überleben wie dein Freund Ben.«
»Ist das so?«, fragte sie und wusste im selben Moment, dass sie nicht entscheiden durften, wer leben und wer sterben musste. Dennoch suchte sie Ausreden. »Carson hat uns belogen. Er ist …«
»Was ist er?«, unterbrach Casimir sie. »Dir weniger sympathisch? Weniger Mensch? Er kann nicht so fühlen und so denken wie du. Ist es das? Dann muss ich dir sagen, dass es bei mir nicht anders ist. Vieles von dem, was du sagst oder tust, verstehe ich nicht. Einiges werde ich vielleicht nie verstehen. Auch ich bin kein Mensch. Das darfst du nicht vergessen.«
Addy atmete tief durch. Als ob sie das je hätte vergessen können. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, die sie hastig wegwischte.
»Es muss einen Weg geben, beide zu retten«, erwiderte sie, obwohl sie wusste, dass das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein war. Mittlerweile gab es sicher Unzählige, die in einer ähnlichen Lage waren. Und wie viele würden noch folgen? Am Ende schien ihr Kampf gegen Elekreen doch nur einer gegen Windmühlen zu sein. Was, wenn Terra Mater alle Kraftwerke zerstören würde, bevor sie abgestellt werden konnten, und dadurch die Grenzen zwischen allen Sphären fielen? Daran wollte sie gar nicht denken.
»Wenn Ben erfährt, dass ein fremdes Wesen in ihm steckt, wenn er beginnt, sich zu wehren, während Carson noch zu geschwächt ist, dann könnte Carson sterben«, erklärte Casimir.
Addy schüttelte den Kopf. Casimir hatte nichts Böses an sich. Nichts Falsches. Alles, was er wollte, war zu verhindern, dass Carson starb. Schließlich hatte er ihm das Leben gerettet. Aber war Addy ebenfalls bereit, alles für Carson zu tun?
Sie wusste es nicht. Ja, er hatte ihnen geholfen, gegen Elekreen vorzugehen, aber er hatte auch weggesehen, als Orsett zerstört worden war, hatte mehr als einmal deutlich gemacht, wie sehr er die Menschen verachtete, und Ben leiden lassen.
»Und wenn wir es Ben verschweigen?«, fragte sie.
»Dann wird sich Carson erholen und wieder die Oberhand gewinnen. Beide würden überleben und wir können versuchen, Carson davon zu überzeugen, Ben freizugeben. Aber ich kenne keinen Weg, ihn dazu zu zwingen. Nicht ohne Bens Körper irreparabel zu beschädigen. Eine Kopfverletzung, die beide töten würde.«
Addy bezweifelte, dass Carson freiwillig zurücktreten würde. Wenn sie Ben nicht die Chance gaben, sich zu wehren, solange er es noch konnte, sah sie keinen Weg, ihm zu helfen. Casimir musste das ebenfalls klar sein, doch er würde nichts unternehmen. Und sie? War sie fähig, Carsons Leben aufs Spiel zu setzen, um Ben zu retten?
»Du frierst«, sagte Casimir.
Er war wieder näher an sie herangetreten und legte seine Hände an ihre Arme, doch Addy konnte seine Berührung nicht ertragen und wich ihm aus.
Sie hatte sein Vertrauen nicht verdient. Wenn er ahnen würde, dass sie mit dem Gedanken spielte, Carson zu opfern, indem sie Ben alles erzählte, was würde er dann von ihr halten? Was hielt er überhaupt von ihr, wo sie doch ein Mensch war und damit mitschuldig an so vielen Verbrechen gegen die Natur? Sie hatte nie darüber nachgedacht, mit welchen Augen er sie betrachtete, doch jetzt konnte sie an nichts anderes mehr denken.
»Was ist mit dir?«, fragte er.
Sie schüttelte nur den Kopf. Würde er sie hassen? Würde er ihr genauso wenig verzeihen können wie sie sich selbst? Sie wusste es nicht, wusste ja nicht einmal, ob er so etwas wie Hass, Liebe und andere starke Gefühle überhaupt empfinden konnte oder es je können würde. Wie viel von dem, was sie in ihm sah, interpretierte sie nur in ihn hinein? Er hatte selbst gesagt, dass sie es nicht vergessen durfte: Er war kein Mensch und er konnte nicht so fühlen wie sie. Er würde es vielleicht nie können.
»Es tut mir leid«, sagte sie, wirbelte herum und rannte davon.