ADDY
TAG 6: DO, 08:15 UHR, SUTTON PARK, ENGLAND
Addy hatte die Nacht unter Decken in einem der Vorratszelte verbracht. Bei der Kälte und den vielen Dingen, die ihr durch den Kopf gingen, war es schwer gewesen zu schlafen.
Am Abend hatte sie es nicht über sich gebracht, noch einmal mit Ben zu reden. Egal, was sie tat, sie würde ihn oder Carson opfern, und diese Entscheidung zu treffen, quälte sie auf unerträgliche Weise.
Sie richtete sich auf und stellte fest, dass Sarah nicht mehr neben ihr lag. Von draußen drangen Stimmen zu ihr vor, also verließ sie das Zelt und sah sich um. Nebel lag über der Lichtung, die Lagerfeuer waren niedergebrannt und die Bewohner dieser versteckten Zuflucht allesamt längst auf den Beinen und bei der Arbeit.
Neue Hütten wurden errichtet, damit die Neuankömmlinge nicht mehr in den Vorratszelten schlafen mussten, Öfen aus Lehm gebaut und vor einem der Zelte saß eine Gruppe Männer und Frauen, die Kleidung flickte und Körbe flocht. Trotz der Kälte und dem Reif, der alles bedeckte, lachten und scherzten die Leute miteinander. Als gäbe es all das Schreckliche nicht, das die Welt in den letzten Tagen auseinanderbrechen ließ.
»Addy!« Sarah winkte ihr zu. Selbst sie wirkte nicht mehr so mitgenommen wie am Abend zuvor.
»Du siehst aus, als wärst du noch nicht richtig wach«, stellte Sarah fest.
Addy schüttelte benommen den Kopf und rieb sich den Nasenrücken. »Wie lange habe ich denn geschlafen?«
»Wenn ich eine Uhr hätte, würde ich es dir sagen«, meinte Sarah mit einem Lächeln auf den Lippen. »Komm, ich zeige dir, wo du dich waschen kannst und etwas zu essen bekommst.«
Sie hakte sich bei Addy ein und zog sie quer über den Platz. Unter einer Plane standen Waschschüsseln, Tücher hingen vor Kabinen, in denen man sich mithilfe von Eimern duschen konnte, und schmutzige Handtücher lagen in Wäschekörben daneben.
»Essen gibt es dort drüben«, sagte Sarah und deutete auf ein offenes Zelt, in dem ein Tisch mit dampfenden Töpfen darauf stand.
»Hast du mit jemandem gesprochen?«, fragte Addy. Sarah kam ihr ungewöhnlich gelassen vor, dafür, dass sie gerade erst ihren Vater verloren hatte und mit diesen Menschen hier nichts zu tun hatte haben wollen.
»Wie meinst du das?« Sarahs Mundwinkel zuckten beim Versuch zu lächeln.
»Du wirkst so … glücklich?«
Sarah winkte ab. »Ich habe einfach nur eingesehen, dass du recht hattest. Elekreen hat die Tore in die andere Sphäre aufgestoßen. Sie sind für alles verantwortlich, was danach geschehen ist, und nach dem, was die Menschen hier erzählen, sind diese Naturgeister gar nicht so übel. Bestimmt ist es nicht ihre Absicht, unsere Welt zu erobern. Ich wünschte nur …« Sie brach ab und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Das trübe Lächeln auf ihren Lippen verlor sich. »Ich wünschte, ich hätte es meinem Dad erklären können, bevor es zu spät war.«
Addy strich ihr über den Arm. Sie konnte so gut nachvollziehen, wie zerrissen Sarah sich fühlen musste, und es tat ihr weh, sie so leiden zu sehen. Sie wollte ihre Freundin in den Arm nehmen, doch da lächelte Sarah bereits wieder.
»Und jetzt entschuldige mich«, bat sie. »Ich muss Malte suchen. Er wollte mir beibringen, wie man sich diese coolen Perlenzöpfe ins Haar flechtet, die hier alle tragen.« Sie zwinkerte Addy zu und ließ sie dann stehen.
Perlenzöpfe? Gestern noch hatte Sarah die Bewohner dieser Kommune als Neuzeithippies beschimpft und nun wollte sie sich von ihnen Zöpfe flechten lassen? Eigentlich sollte Addy froh sein, dass Sarah sich hier wohlfühlte, doch irgendwie ging das alles zu schnell. Vielleicht machte sie sich nur etwas vor? Vielleicht belog sie sich selbst, so wie Addy sich belogen hatte, als sie Elekreen an allem die Schuld gab, obwohl sie wusste, dass Terra Mater sich nicht nur wegen der Machenschaften des Stromkonzerns gegen die Menschheit richtete.
Addy verzichtete darauf, sich bei der Kälte in einer der Duschkabinen mit eisigem Wasser zu übergießen, wusch sich an einer der Schüsseln und nahm sich dann ein Stück Brot vom Frühstückstisch. Es war ziemlich hart, aber es füllte ihr den Magen.
In den Töpfen dampften Suppen, die bitter und würzig rochen, und beim Umrühren konnte Addy sehen, dass Blätter und Baumrinde darin schwammen. Auch wenn der Gedanke an eine warme Mahlzeit verlockend war, verzichtete sie lieber darauf, eine dieser Suppen zu kosten.
»Du kannst dir ruhig etwas davon nehmen«, sprach Skye sie an. Sie deutete auf die Holzschüsseln, die neben den Töpfen gestapelt waren.
»Oh danke, nein. Ich weiß nicht, ob mein Magen da mitmacht.«
»Sie sind gesund und nahrhaft«, versprach Skye. »Einige von uns leben schon eine ganze Weile hier draußen und haben gelernt, mit dem zurechtzukommen, was der Wald uns bietet.«
»Ihr habt euch wirklich komplett selbst versorgt, während ihr die Bäume besetzt habt?«
»Na ja, fast. Es kamen immer mal Freunde vorbei und haben uns Proviant gebracht. Toilettenpapier und so.« Skye zwinkerte. »Aber im Grunde ist es durchaus möglich, von dem zu leben, was die Natur uns bietet. Wir Menschen haben bloß vergessen, dass wir diese Erde nicht nur bewohnen, sondern ein Teil ihres Ökosystems sind. Wir gehören dazu und sie gibt uns alles, was wir brauchen. Und wenn wir in Maßen davon nehmen, schaden wir ihr nicht, sondern helfen sogar, unseren Beitrag zu leisten. Es gab Zeiten, da wussten die Menschen das.«
Addy betrachtete das angebissene Brot in ihrer Hand. Sie hatte Hunger, aber keinen großen Appetit. Den hatte sie schon lange nicht mehr und sie bereute, an jenem Morgen nicht mit ihrer Mum gefrühstückt zu haben. Es wäre ihre letzte Gelegenheit gewesen, Zeit mit ihr zu verbringen und so zu tun, als wäre die Welt noch in Ordnung. Dabei hatte sie damals insgeheim geahnt, dass etwas Schlimmes passieren würde. Bloß hatte sie dieses Gefühl ignoriert.
»Wir hören nicht mehr auf unsere Instinkte«, murmelte sie nachdenklich. »Das meintest du doch, oder? Wir haben aufgehört, auf unsere Instinkte zu vertrauen, und sie durch Regeln ersetzt, an die wir uns nicht halten.«
Skye nickte. »Genau das. Regeln der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Industrie. Wir haben uns der Macht des Geldes gebeugt, dabei ist Geld nur eine Fiktion. Das Leben ist es, worauf es ankommt.« Sie lächelte Addy an. »Dein Freund Casimir hat uns einiges erzählt. Von der Sache mit Elekreen, der Natur und den fünf Sphären. Ich wusste ja, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als wir ahnen, aber das zu erfahren, war wirklich sehr … erschreckend.«
»Du hast gleich erkannt, wer er ist«, sagte Addy nachdenklich. »Ich hätte nicht geglaubt, dass ich mal auf einen Menschen treffe, der sieht, was ich sehe.«
Skye schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht wirklich etwas gesehen. Es ist mehr so, dass ich die Aura spüren kann, die alle Lebewesen umgibt. Deine Aura zum Beispiel ist violett mit etwas Rot darin. Du bist mutig, hast Visionen, die du auch verfolgst, bist intuitiv und kreativ. Aber da ist auch etwas Klares an den Farben, die dich umgeben, etwas Weiß, das sicher auf deine Verbindung zu den Meliad hinweist. Es erklärt, warum du sie erkennen kannst.«
Vor einer Woche hätte Addy das alles noch als Unsinn abgetan. Sie glaubte nicht an Esoterik und all diese Dinge, die nicht wirklich greifbar und zu beweisen waren. Aber nach allem, was sie gesehen und erlebt hatte, hielt sie mittlerweile nichts mehr für unmöglich.
»Casimirs Aura ist von reinem Weiß«, fuhr Skye fort. »Sie ist kristallklar wie die Aura der Pflanzen um uns herum. Bevor unser Kontakt zur Außenwelt abbrach, haben wir von unseren Mitstreitern aus aller Welt Berichte über übernatürliche Wesen erhalten. Wirklich glauben konnten wir es nicht, aber so etwas wie die Aura deines Freundes habe ich bei einem Menschen noch nie gesehen. Es gibt immer Farbeinschläge, in die eine oder andere Richtung.«
»Und Carsons Aura?«
»Wer?«
»Ben«, korrigierte Addy sich.
»Oh, das ist schwer zu sagen. Er war ja geschwächt und seine Aura war es auch. Sie wirkte erst klar, aber nachdem es ihm besser ging, merkte ich nichts mehr davon. Jetzt ist sie orange und genau wie bei dir etwas rot. Ich denke, ihr beide versteht euch ganz gut, nicht wahr?«
Addy zupfte an dem Brot in ihrer Hand, löste Krumen davon und drehte sie zwischen ihren Fingern. In einem anderen Leben vielleicht, da hätten Ben und sie sich gut verstanden, aber es schien, dass ihnen das nicht vergönnt sein sollte.
»Ich finde deine Fähigkeiten faszinierend«, sagte sie und schenkte Skye ein Lächeln. »Du bist wirklich begabt.«
Skye schüttelte den Kopf. »Es ist nichts, was nicht jedem anderen auch offensteht. Wir Menschen besitzen unsere Instinkte noch. Wir haben sie über die letzten Jahrhunderte nur vernachlässigt. Wir könnten einander und unsere Welt viel besser verstehen, wenn wir uns davor nicht länger verschließen würden.«
Es wurde immer kälter und Addy fragte sich, wie viel Zeit ihnen noch blieb, bis so viele Ignis gestorben waren, dass die Welt von Eis bedeckt war. Darüber, dass es vielleicht gar nicht erst so weit gekommen wäre, hätte sie das Kraftwerk nur ein paar Sekunden früher abgestellt, wollte sie gar nicht erst nachdenken.
Sie machte sich auf den Weg zurück zum Zelt, wo sie sich eine wärmende Decke holen wollte, und kam an den Männern und Frauen vorbei, die Lehm anrührten, um Steine zu formen. Eine andere Gruppe baute daraus Öfen. Und das alles nur mit dem, was die Natur ihnen bot. Addy wurde langsamer und beobachtete sie fasziniert. Erst als sie bemerkte, dass unter ihnen auch Ben war, lief sie eilig weiter.
Sie war noch nicht bereit, mit ihm zu reden, auch wenn sie wusste, dass die Zeit gegen sie arbeitete.
»Ah, noch eine helfende Hand!«, sagte einer der Männer, gerade als sie geglaubt hatte, unbehelligt davonzukommen. Wie vom Donner gerührt, blieb sie stehen und wandte sich nur langsam um. Die Arbeiter sahen zu ihr auf und auch Ben hatte sie bemerkt.
»Oh, ich …«, begann Addy, machte einen Schritt rückwärts und suchte nach einer Ausrede.
»Komm schon«, forderte Ben sie auf. »Ich zeige dir, wie das geht.«
Widerwillig ging sie zu ihm. Er kniete vor einem Erdloch, in das andere Leute Wasser einfüllten. Die Ärmel hatte er sich bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und vermischte mit bloßen Händen Sand und Wasser zu Lehm.
»Es ist wie Teigkneten«, erklärte er.
Addy ging ihm gegenüber in die Hocke. Er lächelte fröhlich, geradezu ausgelassen und strich sich mit der lehmverschmierten Hand über die Stirn, sodass ein grauer Streifen zurückblieb. Dass er bald schon nicht mehr sein würde, dass sein Schicksal in den Händen eines Meliad lag, dem Menschen nicht gleichgültiger sein konnten, ließ sie einfach nicht los. Das konnte doch nicht der richtige Weg sein.
»Aber Vorsicht«, meinte Ben. »Es ist ziemlich kalt.«
Einer der Männer seufzte. »Und wenn es noch kälter wird, gefriert die Erde. Dann war’s das mit den Lehmsteinen.«
»Gib mir deine Hände«, bat Ben und streckte ihr seine entgegen. Zögerlich griff sie zu. Sein Lächeln wurde breiter. Trotz des kalten Lehms waren seine Finger warm und legten sich fest um ihre.
Sie konnte das einfach nicht. Sie konnte ihn nicht ansehen und die Wahrheit für sich behalten. »Es tut mir leid.«
Ben legte die Stirn in Falten. »Was sollte dir leidtun?«
Eilig zog sie ihre Hände weg. »Ich muss dir etwas sagen.«
»Geht es um unser Gespräch von gestern?«
Addy nickte und Ben wurde sofort ernst. Er wischte sich den Lehm grob an der Hose ab und deutete in Richtung Wald. Sie nickte und folgte ihm, als er aufstand und vorausging.
Es kam ihr vor, als würde sie jeder Schritt, den sie tat, ein weiteres Stück von Casimir entfremden. Sie fühlte sich wie eine Verräterin, wusste aber, dass sie es sich nie verzeihen würde, Ben die Wahrheit verschwiegen zu haben.
Abseits der Lichtung, zwischen den Bäumen, blieb er stehen und wandte sich ihr zu. »Schieß los. Und sei ruhig schonungslos. Ich verkrafte das schon. Was habe ich angestellt, von dem ich nichts mehr weiß?«
Addy schüttelte den Kopf. »Nichts. Es ist … hat man dir erzählt, was wirklich passiert ist?«
»Du meinst die Sache mit den Naturgeistern? Ja, hat man. Aber ganz ehrlich, ich halte zwar viel von diesen Leuten hier, aber ein bisschen verklärt sind die schon, oder? Ein paar von den Dingen, die sie erzählt haben, scheinen mir ziemlich weit hergeholt.«
»Aber es ist wahr«, sagte Addy und nahm all ihren Mut zusammen. »Und einer von diesen Naturgeistern steckt in deinem Körper.«
Das Lächeln auf seinen Lippen gefror. Addy erwartete, dass er es abstreiten und sie für verrückt erklären würde, doch nichts dergleichen geschah. Sie fühlte sich auch nicht erleichtert, nachdem sie es ausgesprochen hatte. Ganz im Gegenteil.
»Das erklärt einiges«, sagte er nachdenklich und wandte sich von ihr ab.
»Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du noch am Leben bist, sonst hätte ich von ihm verlangt, dich freizulassen.«
Ben nickte, sagte aber nichts dazu.
»Ben?« Vorsichtig legte sie ihm eine Hand auf den Arm.
»Also war er das?«, fragte er, ohne sie anzusehen. »Das mit meinen Narben. Er ist nicht gerade zimperlich mit meinem Körper umgegangen.«
»Ich weiß …«
»Aber das war noch nicht alles, oder?« Ben wandte sich nun doch wieder zu ihr um. Etwas Trauriges lag in seinen Augen. Etwas, das ihn ganz anders wirken ließ als bisher. »Du hast nicht gesagt, dass er in mir gesteckt hat, sondern dass er in mir steckt.«
Addy öffnete den Mund, fand aber nicht die richtigen Worte. Ein Kloß steckte ihr im Hals und schnürte ihr die Kehle zu.
»Schau nicht so traurig. Sag es mir einfach. Ich muss es aus deinem Mund hören.«
»Er … er ist geschwächt«, erklärte sie. »Deswegen hat er die Kontrolle über dich verloren. Aber er wird sich erholen.«
»Und dann verschwinde ich?«
Addy nickte. Sie hätte weinen können, so sehr zerriss es sie, Ben das sagen zu müssen. Sollte sie ihm raten zu kämpfen? Sich zu wehren? Wenn sie das tat, gab sie ihm den Dolch in die Hand, mit dem er Carson töten konnte. Dann machte sie sich wirklich schuldig. Aber war sie das nicht ebenso, wenn sie ihm die Möglichkeit verweigerte, sich zu verteidigen?
»Das heißt nicht, dass er dich gar nicht mehr freigibt. Aber …«
»Ihr könnt ihn nicht dazu zwingen …«, ergänzte Ben und sah zu Boden. Er schob sich die Hände in die Hosentaschen, erinnerte sich daran, dass sie noch voller Lehm waren, grummelte und zog sie wieder hervor.
Abwesend begann er, sich den Dreck von den Fingern zu reiben, bis seine Haut gerötet war, Addy ihre Hand auf seine legte und ihn damit unterbrach.
»Ich konnte dir die Wahrheit nicht verschweigen«, sagte sie. »Du kannst versuchen, die Kontrolle zu behalten. Aber wenn du ihn bekämpfst, könnte das vielleicht bedeuten, dass er stirbt. Und das hat er nicht verdient.«
»Und ich habe verdient, was er mir antut?«, fragte Ben aufgebracht.
»Nein, das auch nicht. Ich wollte nur, dass du verstehst …«
»Schon verstanden«, unterbrach er sie.
»Wir finden eine andere Lösung«, versprach Addy. »Sollte er die Kontrolle zurückgewinnen, finden wir einen Weg, ihn zu zwingen, sich einen anderen Körper zu suchen.«
»Und wie wollt ihr das anstellen?«
»Ich … ich weiß es nicht«, gestand sie ein.
»Wie lange habe ich noch?«
Addy schüttelte nur den Kopf.
Ben löste sich von ihr, presste die Lippen zusammen und schnaubte wutentbrannt. Er kickte einen Tannenzapfen weg und ließ seinen Blick durch den Wald schweifen.
»Ich hatte Pläne«, sagte er schließlich. »Ich wollte ein paar Tage verstreichen lassen und dich dann fragen, ob wir beide, du weißt schon … weil ich dich mag. Irgendwie. Ich hatte mir ausgemalt, wie wir ein Schneepicknick veranstalten. Mit Kerzen und dem ganzen Romantikkram. So schnell, wie es kälter wird, kann es ja nicht mehr lange dauern, bis hier alles zu einem Winterwunderland geworden ist. Aber wahrscheinlich habe ich gar nicht mehr so viel Zeit, oder?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete sie mit rauer Stimme. Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen bei dem Gedanken an das, was er für sie geplant hatte. Sie hätte gar nicht damit gerechnet, dass so etwas in ihm steckte.
»Na ja, wenn mir jetzt die Zeit davonläuft, sollte ich vielleicht alles auf eine Karte setzen.«
Noch bevor Addy realisieren konnte, worauf er hinauswollte, war er nah an sie herangetreten. Sie hätte zurückweichen können, tat es aber nicht.
Er legte seine Hand an ihre Wange, strich ihr das Haar hinters Ohr und kam ihr so nah, dass sie den süß-salzigen Geruch seiner Haut wahrnehmen konnte. Mit einem Lächeln beugte er sich vor, legte seine Lippen sanft auf ihre und umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen.
Addy war wie erstarrt. Sie ließ es zu, wehrte sich nicht gegen ihn und wusste nicht, ob sie das aus Mitleid oder Zuneigung tat.
Er drängte sie gegen einen Baum. Seine Hand wanderte über ihren Körper, bis hin zu ihrer Hüfte und erst, als sie langsam unter ihren Pullover glitt, löste Addy sich von ihm und wandte den Kopf von ihm weg.
»Tut mir leid«, hauchte er ihr atemlos ins Ohr. »Das ging zu schnell, ich weiß.«
Sie antwortete nicht, versuchte noch zu verstehen, was gerade geschehen war und warum sie nichts dagegen getan hatte, als sie eine Gestalt am Rande der Lichtung wahrnahm. Jemand beobachtete sie. Erst jetzt bemerkte sie den Geruch nach Energie. Als wäre die Luft elektrisch aufgeladen.
»Casimir«, stieß sie erschrocken aus und drängte Ben von sich. Wie hatte sie es bloß so weit kommen lassen können?
Ben fuhr sich mit der Hand durchs Haar und lächelte sie schief an. »Ich hätte fragen sollen.«
»Nein, ich …«, stotterte sie. »Es ist … ich muss weg.«
Sie musste es Casimir erklären, musste ihm sagen, dass das nichts zu bedeuten hatte, doch als sie zur Lichtung laufen wollte, hielt Ben sie fest.
»Ben, ich …« Sie wandte sich ihm zu und erstarrte, als sie goldene Blitze in seinen Augen zucken sah.
Carson grinste verstohlen. »Du schmeckst gut. Irgendwie nach Haselnuss.«
Addy riss sich von ihm los. War er es gewesen, der sie geküsst hatte, oder hatte Ben da noch die Kontrolle gehabt? Wie lange hing der süßliche Geruch der Meliad schon in der Luft, ohne dass sie es im Chaos ihrer aufgewühlten Gefühle bemerkt hatte?
Ihr wurde übel bei dem Gedanken daran, dass Carson sie die ganze Zeit an der Nase herumgeführt haben könnte.
Sie stolperte von ihm weg und stieß gegen jemanden in ihrem Rücken. Hände legten sich an ihre Oberarme, und als sie den Kopf umwandte, erkannte sie Casimir.
»Du hast dich also wieder erholt«, stellte er fest und blickte dabei zu Carson.
»Casimir …«, begann Addy und löste sich von ihm.
»Du hast es Ben erzählt, oder?«, fiel er ihr ins Wort.
»Er musste es erfahren«, erklärte sie und versuchte, in seiner Mimik zu lesen. Doch seine Züge waren wie aus Stein geschlagen. Sie konnte darin nicht erkennen, ob er wegen dem Kuss oder ihrem Verrat wütend war oder ob ihn beides gar nicht berührte.
»Wenn du mich vorgewarnt hättest, wenn du gestern nicht einfach davongelaufen wärst, dann hätte ich dir gesagt, dass Carson alles mitbekommen könnte und sich die Kontrolle vielleicht zurückholt, sollte er sich bedroht fühlen und bis dahin stark genug sein.«
Addys Herz machte einen Satz. Erschrocken sah sie zu Carson, der amüsiert schmunzelte und nur mit den Schultern zuckte.
Sie hatte zu lange gewartet. Hätte sie es Ben doch früher gesagt! Gleich zu Anfang, bevor ihr klar geworden war, welche Bürde sie damit trug, die Wahrheit zu kennen und nicht zu wissen, ob sie sie für sich behalten sollte oder nicht.
»Was hätte ich auch sonst tun sollen?«, fragte Carson. »Zulassen, dass dieser Kerl gegen mich ankämpft? Wenn ich nicht wäre, hätte es ihn längst erwischt und jetzt soll er mich einfach vertreiben dürfen?«
»Aber Ben lebt und es ist sein Körper. Du hast kein Recht dazu, ihn zu kontrollieren!«, warf Addy ein.
»Hörst du mir nicht zu?« Carson lachte höhnisch. »Ich bin der Grund, aus dem er noch am Leben ist. Ich habe alles Recht dazu.«
»Ganz sicher nicht!«
»Sie haben beide ein Recht auf Leben«, mischte sich Casimir ein.
»Aber nicht beide ein Recht auf diesen Körper«, beharrte Addy.
»Du magst ihn, nicht wahr?«, fragte Casimir.
Addys Herz begann, schneller zu schlagen. Sie wünschte sich, er hätte nicht mit angesehen, was zwischen ihr und Ben passiert war. Sie hatte das gar nicht gewollt. Und doch hatte sie es nicht verhindert.
Alles, was sie in diesem Moment sagen wollte, war Nein. Sie mochte nicht Ben, sondern ihn – Casimir. Doch die Art, wie er diese Frage gestellt hatte, tat weh. Weil da kein Gefühl in seinen Worten lag. Als würde es ihn nicht berühren. Und er hatte es ja selbst gesagt: Er war kein Mensch und das, was sie fühlte, war ihm fremd. Deshalb brachte sie es nicht über sich, ihm zu gestehen, was in ihr vorging.
»Nein, ich … das hat damit nichts zu tun.«
»Es ist nur menschlich«, erklärte Carson. »Ihre Gefühle für ihn blenden sie. Sie hätte mich einfach geopfert, wenn es nach ihr gegangen wäre.«
»Nein, das stimmt so nicht!«, entgegnete sie und sah zu Casimir. Nichts an ihm wies darauf hin, dass er ihr glaubte. Noch immer kam er ihr unterkühlt und abgeklärt vor. Aber sollte sie das denn wundern? Sie hatte nicht nur bewiesen, dass sie Carson für Ben opfern würde, sie hatte sich auch von ihm küssen lassen. »Ich habe Ben gesagt, dass er Carson nicht bekämpfen soll und dass wir versuchen …«
»… mich aus seinem Körper zu vertreiben«, ergänzte Carson. »Mit allen Mitteln.«
»Du verdrehst mir die Worte im Mund!«
Carson kräuselte die Lippen. »Vielleicht sollte ich mir wirklich einen anderen Körper suchen, wenn ihr dieser Ben so wichtig ist. Sie scheint aufrichtige Gefühle für ihn zu haben.«
»Das stimmt nicht!«, schrie sie und ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
Carson achtete gar nicht auf sie. »Du kannst das nicht verstehen, Casimir. Weil du in einem toten Körper steckst. Menschliche Gefühle müssen sehr verwirrend für dich sein. Das weißt du doch, Addy, oder? Du wirst doch wohl nicht verdrängt haben, dass er genauso wenig ein Mensch ist wie ich?«
»Wieso tust du das?«, fragte sie mit zittriger Stimme. »Das zwischen mir und Ben, das ist … es bedeutet nicht, dass …«
»Es ist schon gut«, versicherte Casimir mit ruhiger Stimme. »Du musst deine Gefühle nicht erklären und dich dafür auch nicht entschuldigen. Es ist, wie es ist.«
»Aber …«
»Aber was?«, fiel Carson ihr ins Wort. »Ich habe doch gesagt, ich suche mir einen geeigneteren Körper, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Soll ich ihn dir jetzt also nicht zurückgeben?«
»Doch! Ich meine, nein, du sollst ihn nicht mir zurückgeben.«
»Versteh einer die Menschen«, seufzte Carson und zwinkerte ihr daraufhin zu. »Dafür, dass du nichts für ihn empfindest, war das aber ein ziemlich langer Kuss.«
Casimir sah zu Addy. Nicht einmal seine Mundwinkel zuckten. Es war wie am Tag ihrer ersten Begegnung, als er noch wirkte wie eine Puppe, ohne jedes Gefühl in sich. Berührte es ihn wirklich nicht? Ihr war, als würde ihr Herz bei diesem Gedanken zerspringen. Alles, was sie geglaubt hatte, zwischen sich und ihm zu spüren, schien mit einem Mal wie ein dumpfer Traum, der ihr langsam entglitt. Sie hatte Gefühle für jemanden entwickelt, der selbst gar keine empfinden konnte.
»Gut, dann ist ja alles geklärt«, meinte Carson und machte sich auf den Weg zurück zum Lager. »Kommst du?«
Casimir reagierte nicht sofort. Sein Blick lag noch immer auf Addy und ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie, es wäre dasselbe warme Lächeln, das sie von ihm kannte und von dem sie glaubte, es wäre nur für sie bestimmt. Doch das war es nicht. Es war kühl und distanziert.
Was auch immer zwischen ihnen gewesen war – falls es da je etwas gegeben hatte –, es war zu Bruch gegangen und daran zerbrach auch sie.
Addy öffnete den Mund. Alles in ihr drängte darauf, ihm zu sagen, dass der Kuss nichts bedeutet hatte. Doch sie schwieg. Sosehr es auch schmerzte, wusste sie, dass es das Richtige war loszulassen, was von Anfang an keine Zukunft gehabt hatte. Je länger sie damit wartete, das zu akzeptieren, desto mehr würde es sie verletzen.
Sie löste sich von seinem Anblick, sah zu Boden und biss sich auf die Lippe. Tränen füllten ihre Augen, während Casimir sich zum Gehen wandte. Sie konnte nichts dagegen tun. Es tat einfach weh, auch wenn sie wusste, dass es für sie beide das Beste war.
Immer wieder sagte sie sich das. Casimir war kein Mensch, er konnte nicht so fühlen wie sie. Und trotz dieser Tatsache wurde Addy immer unruhiger. Sie wollte ihn nicht verlieren und konnte das Gefühl, gerade einen unglaublich großen Fehler zu begehen, einfach nicht abschütteln.
Ohne weiter nachzudenken, riss sie den Kopf hoch und öffnete den Mund, um ihm etwas hinterherzurufen. Doch da hatte er bereits zu Carson aufgeschlossen, der ihm den Arm auf die Schulter legte und etwas ins Ohr flüsterte.
Die Worte blieben Addy im Halse stecken, als Carson ihr dabei einen Blick über seine Schulter hinweg zuwarf. Die goldenen Blitze in seinen Augen zuckten gefährlich und er grinste hämisch.
Hatte er mit voller Absicht einen Keil zwischen sie und Casimir getrieben? Und sie hatte ihm in die Hände gespielt, indem sie Casimirs Vertrauen missbraucht hatte? Sie musste das wieder geraderücken! Irgendwie musste es ihr gelingen.
Ein Knacksen im Wald hinter ihr ließ sie aufhorchen und lenkte sie kurz ab. Sie sah sich um, konnte aber nichts erkennen. Es war so kalt geworden, dass ihr schauderte. Sie hauchte sich warmen Atem in die hohlen Handflächen und wollte Casimir folgen, als sie wieder etwas hörte. Ob das wieder die Belial waren?
Trockenes Laub raschelte, als würde jemand hindurchwaten, und leise Stimmen waren zu hören. Nein, das waren keine Belial. Es war Sarah, die da sprach. Aber was tat sie so tief im Wald, wo sie doch wusste, wie gefährlich das sein konnte?
Addy folgte den Geräuschen und fand Sarah nicht weit entfernt zwischen einer Baumgruppe. In ihrer Hand hielt sie ein Funkgerät. Unwillkürlich griff Addy sich an den Gürtel, wo sie es am Tag zuvor noch bei sich getragen hatte.
War Sarah deswegen so gut drauf gewesen? Sie musste ihr in der Nacht das Funkgerät geklaut und Kontakt zu Elekreen aufgenommen haben. Noch bevor Addy diesen Gedanken verarbeitet hatte, trat eine Gruppe Soldaten aus dem Dickicht. Sie hielt vor Schreck die Luft an, ging in die Knie und versteckte sich hinter einem Baum.
»Sarah Bennet?«, fragte einer der Männer.
»Ja, danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Sarah erleichtert.
Während Addys Gedanken sich überschlugen und sie versuchte, Sarahs Verrat zu verstehen, spürte sie plötzlich etwas Kaltes an ihrem Hinterkopf. Ihr Herz begann zu rasen und Panik übernahm ihr Denken. Vorsichtig drehte sie sich um und blickte in den Lauf einer Pistole.
»Aufstehen!«, verlangte der Soldat von ihr.