Keine zwei Minuten später ist die Wiebke Tetzlaff völlig in Tränen aufgelöst. Sie ist weit nach vorn über den Terrassentisch gebeugt, hat das Gesicht in den Händen vergraben und schluchzt herzzerreißend.

„Fünfzig Jahre?“, stößt sie dabei stockend hervor. „Unsere Immi hat fünfzig Jahre da im Boden gelegen? Ohne dass irgendwer das wusste? Und all die Zeit haben wir gedacht…“

Ihr bleiben die Worte im Hals stecken.

„Wie zu Beginn gesagt, Frau Tetzlaff“, werfe ich ein. „Wir bräuchten noch eine Speichelprobe von Ihnen, um mittels einer DNS-Analyse mit absoluter Sicherheit sagen zu können, dass es sich bei der Leiche tatsächlich um Ihre Schwester Imke handelt. Alles, was wir bisher haben, sind Indizien.“

„Sie ist es“, erwidert die Wiebke Tetzlaff beharrend. „Das ist die einzige Erklärung, warum da plötzlich kein Kontakt mehr war.

Und die Schreibmaschine… Wir – meine Eltern und ich – haben uns damals auch schon gewundert, dass die Briefe nicht mit der Hand geschrieben waren; aber wir wären doch nie auf die Idee gekommen, dass die von ihrem Mörder sind, um uns ruhig zu stellen und die Polizei ihre Arbeit einstellen zu lassen.“

Die Haas legt ihr tröstend eine Hand auf die vom Schluchzen bebende Schulter.

„Es tut mir so leid, Frau Tetzlaff.“

Die Wiebke Tetzlaff nickt dankbar. Dann weiten sich ihre tränenerfüllten Augen und sie fragt ganz entsetzt:

„Was ist mit dem Kind?“

„Wir haben es nicht bei der Leiche gefunden“, sag ich eilig. „Aber mehr können wir noch nicht sagen. Wir haben nicht die geringste Vorstellung, wo und wie es jetzt lebt.“

Die Wiebke Tetzlaff hebt den Kopf und schaut nachdenklich in Richtung Südwesten. „Da steckt der alte Stadelmann hinter.“

„Der Direktor von der LPG damals?“, hakt die Haas nach.

Die Wiebke Tetzlaff nickt düster. „Dem und seiner Frau war ihr Thorsten zu schade für unsere Immi … wo sie doch bloß eine von den Niederen war. Die haben nie an den Sozialismus geglaubt und daran, dass wir alle gleich sind. Die waren schon immer gleicher als alle anderen … sind es heute noch.“

„Sie sind noch am Leben?“, fragt die Haas verwundert.

„Der Alte ist bettlägerig und seine Frau sitzt im Rollstuhl – aber sie herrschen noch immer mit eiserner Hand über das Gut in Althagen.“

„Wie das?“, fragt die Haas.

„Manche sagen: Sie haben es nach der Wende von der Treuhand ermogelt. Für einen Knopf und einen Klicker. Andere sind der Meinung, es hat der Familie schon in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gehört und sie haben es sich nach dem Mauerfall als ihr Eigentum zurückgeholt. Was davon wahr ist, weiß ich nicht.

Aber was ich sagen kann, ist, dass sie sich auch in der DDR-Zeit uns gegenüber immer verhalten haben wie Graf und Gräfin Koks vom Gaswerk. Und dass sie damals, obwohl wir doch alle angeblich so gleich waren, stinkereich waren.“

„Und wissen Sie, was aus dem Sohn, dem Thorsten Stadelmann, geworden ist?“, frag ich.

„Na, der lebt da auch noch. Immer noch der kleine Prinz, der er damals schon war. Verheiratet, und ein paar Kinder.“

„Und der Verwalter, den Sie gestern als zweiten möglichen Vater von Imkes Kind erwähnt haben?“, hakt die Haas nach. „Richard Aurich?“

„Der ist tot“, antwortet die Wiebke Tetzlaff. „Schon seit zwanzig Jahren. Sein Sohn Lars ist jetzt Verwalter auf dem Gut in Althagen.“

„Und Sie sind wirklich der Meinung, die alten Stadelmanns könnten hinter dem Mord an der Imke stecken?“, frag ich.

Die Wiebke Tetzlaff nickt erneut. „Auch die Polizei hat damals in ihrer Richtung ermittelt … aber dann kam ja der Brief aus Hamburg und die Ermittlungen wurden eingestellt.“

 

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