2. Kapitel
Bevor ich mich jedoch dem Auweiaweia-Valentinstag stellen musste, hatte ich noch eine kleine Schonfrist: meinen Schulweg. Für viele ist der Schulweg ja nur ein notwendiges Übel, aber ich liebe ihn. Ich radele jeden Morgen mit meinem Fahrrad eine gute Viertelstunde zur Schule, eine echt nette Strecke durch den Grüngürtel und den Beethovenpark. Das ist genau die richtige Mischung aus interessant - verschiedene Jahreszeiten, wechselnde Lichtverhältnisse, unterschiedliches Wetter -, um nicht langweilig zu sein, aber doch wieder so gleichförmig, dass ich dabei immer wunderbar entspannen und nachdenken kann. Heute war es zwar kalt, aber klar und wolkenlos. Die Sonne ging gerade auf, gefrorene Tautropfen glitzerten in den Büschen und überall waren Hunde unterwegs mit ihren Herrchen und Frauchen. Ach ja, seufzte ich, so ein Hund hat es gut … Der braucht sich nicht zurechtmachen, der kann nicht seinen Hausschlüssel vergessen, der wird nicht von seiner Mutter zugeschwallt und den zicken auch keine Klassentussen an … Obwohl, am Ententeich wurde gerade ein Pudel von einem Schäferhund sehr ruppig verbellt. Wer weiß, was bei Hunden so alles abgeht in Sachen Mobbing. Ist sicher auch nicht immer leicht … Ich radelte weiter. Da sah ich meinen Lieblingshund, einen wunderschönen Golden Retriever. Ich fuhr langsamer und sah lächelnd zu, wie der Hund übermütig herumsprang und die Stöckchen holte, die sein Frauchen für ihn warf. So ein süßer Hund! So freundlich, so hübsch, so weiches, goldblondes Fell …
In dem Moment hätte es mich fast hingelegt vor Schreck. Der Golden Retriever! Von dem ich heute Morgen geträumt hatte! Der ist ein Symbol! Ein Traumsymbol für meinen Traumjungen! Denn Dominik ist genau wie ein Golden Retriever, das wurde mir mit einem Schlag klar. Er ist genau wie diese wunderbaren Familienhunde: goldblond, freundlich, sportlich, süß, kommt mit allen klar … Und wenn es in der Hundeschule einen Mittelstufensprecher gäbe, dann wäre das auch ein Golden Retriever. Jetzt musste ich ganz tief seufzen. Denn auch in der Hundeschule wäre ich höchstens ein Rauhaardackel. Oder ein Basset mit kurzen Beinen. Oder ein Mischling mit haferbreifarbenem Fell und schiefen Ohren, den jemand nur aus Mitleid aus dem Tierheim geholt hat. Ein Golden Retriever würde den niemals auch nur angucken, geschweige denn beschnüffeln … Ich musste mir beim Weiterradeln eine Träne abwischen. Es klingt vielleicht abgedroschen, aber unglückliche Liebe tut nun mal verdammt weh …
Obwohl ich dann noch mindestens 100 Meter von unserer Schule entfernt war, konnte ich den Valentinswahn schon deutlich spüren. Um mich herum wurde nämlich noch mehr gekichert und gekreischt als an einem normalen Tag. Rotohrige Sechstklässler hielten in Papier gewickelte Rosen in ihren kleinen, schwitzigen Pfoten, um sie unauffällig ihrer Angebeteten auf den Tisch zu legen. Bis an die Zähne aufgedonnerte Mädchen schielten nach den großen Jungs aus der Oberstufe, auch wenn diesen Zielpersonen das am unteren Rückenfortsatz vorbeiging. Einige unserer Schulschönheiten hatten sogar Extrataschen dabei, um die zu erwartende Flut an Rosen, Karten und Schokoladenherzen überhaupt nach Hause zu bekommen. Oh Mann, deren Optimismus möchte ich haben! Ich habe es in den letzten Jahren immer nur auf eine Rose gebracht. Eine einzige pro Valentinstag, und die war auch noch anonym. Ich habe nie rausgefunden, von wem sie stammt, und fragte mich gerade, ob sie wohl von dem kleinen Sechstklässler sein mochte, der eben rotohrig und schwitzpfotig an mir vorbeigestürmt war … Und wie ich das wohl finden würde, wenn er sich nun dieses Jahr outete. - Dann müsste ich mich am Ende wohl freuen … Und dankbar sein. Ich musste schlucken.
Ich stellte mein Fahrrad in den total überfüllten Fahrradschuppen auf unserem Schulhof. Der Fahrradschuppen - ein weiteres finsteres Thema in meinem Leben. Ich hole mir nämlich jeden Morgen blaue Flecken, wenn ich mein Fahrrad in den vollgestopften Schuppen bringe. Irgendwann vor ein paar Monaten hatte ich so die Schnauze voll davon, dass ich ganz offiziell einen Antrag eingereicht habe bei der Schülervertretung, damit die mal Druck macht für mehr überdachte Fahrradstellplätze. Aber da war rein gar nichts passiert. Außer dass Nina, die Klassentusse, von der Sache Wind gekriegt hatte und laut rumtönen musste: »Oh, Annette geht in die Politik! Na ja, seit Angela Merkel ist das ja das Betätigungsfeld für aussehensmäßig benachteiligte Frauen!«
So ein Spruch tut doch echt weh im Kopf, oder? Und leider auch in der Seele.
Ich rückte meine dicke Brille zurecht - nein, die trage ich nicht aus Protest gegen alle Äußerlichkeiten, wie meine Mutter immer behauptet, sondern weil ich verdammt noch mal keine Kontaktlinsen vertrage - und marschierte tapfer los. Weil aber der Tag schon blöd angefangen hatte, ging er auch gleich genauso blöd weiter, das kennt man ja. Nina, die eben erwähnte Klassentusse, lungerte wie so oft am Eingang rum. Ausweichen unmöglich. Sie musterte mein Outfit von oben bis unten, bestehend aus meiner Lieblingsjeans, einem kuscheligen Holzfällerhemd und meiner Winterjacke, und grinste breit.
»Hauptsache, es umspielt, was Annette?«
Ninas ergebene Sklavinnen, die Hilfstussen Michelle und Svea, kicherten hysterisch. Ich reagierte nicht, denn was soll man dazu schon sagen? Als ich vorbei war, sangen sie auch noch ihren typischen, halblauten Mobbingsong »Annette, die Fette, Annette, die Fette!«. Nee, was waren die wieder originell …
Als ich mich in der Eingangshalle nach Pia umsah, dachte ich, dass ich das ruhig laut zu ihnen hätte sagen können: »Nee, was seid ihr wieder originell.« Aber ich bin leider immer erst mit Verspätung schlagfertig. Und das heißt unterm Strich: Ich bin gar nicht schlagfertig. Und in diesem Fall hätte ich erst recht nichts erwidern können. Denn ich hatte mal wieder dieses fiese Prickeln in der Nase und in der Oberlippe. Das kriege ich immer, wenn ich gleich anfange zu heulen. Ich musste meine ganze Willenskraft aufbieten, damit das blöde Prickeln wieder aufhörte … Doch es ließ nach, so ein Glück.
Und da sah ich ihn. Dominik. Den wunderbarsten Jungen der Welt. Nur ganz von Weitem, denn er ging am Ende des langen Flures vom Tor zum Pausenhof, nach links, zum Chemiesaal, wo die 9a jetzt gleich eine Doppelstunde Chemie hatte. Mein Herz blieb stehen bei seinem Anblick … Und ja, ich gebe es zu: Ich kann seinen Stundenplan auswendig. So schlimm steht es um mich. Nicht mal Pia weiß das mit dem Stundenplan …
Meine Nase prickelte wieder, denn was hab ich schon für Chancen bei Dominik … Absolut total überhaupt gar keine. Weniger als null. Und jetzt hätte ich garantiert angefangen zu heulen, wenn nicht im nächsten Augenblick Pia auf mich zugestürmt gekommen wäre. Sie umarmte mich heftig - Pia ist immer so impulsiv - und alle Nasenprickelei verschwand auf der Stelle.
»Nette, Nette, Nette, das musst du dir reinziehen!« Sie zerrte mich in unsere geheime Ecke unter der Treppe, wobei sie mit einem quadratischen, rosa Büchlein wedelte, dem Poesiealbum ihrer Oma. »Wenn du die Sprüche liest, da wunderst du dich, dass es uns überhaupt gibt! Dass unsere Großmütter sich nicht alle erschossen haben, bevor sie unsere Mütter und Väter kriegen konnten! Hier, hör mal den hier:
Eiche, Buche, Birke, ist ein hartes Holz.
Eine brave Tochter ist der Eltern Stolz.
Hammer. Ich riss Pia das Poesiealbum aus der Hand und blätterte. Echt der Hammer!
Beklage nie den Morgen, der Müh’ und Arbeit bringt.
Es ist so schön zu sorgen für Menschen, die man liebt.
»Und das reimt sich ja nicht mal!«, stellte ich fest. »Oder hier«, rief Pia:
Sei immer bescheiden, verlang niemals zu viel,
dann kommst du zwar langsam, aber sicher ans Ziel.
Inzwischen hatten wir vor lauter Geiern schon Sauerstoffmangel im Kopf, und so kostete mich das Vorlesen des nächsten Gedichts eine Menge Kraft:
Sei wie das Veilchen im Moose,
bescheiden, sittsam und rein.
Und nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein!
Wir waren für einen Moment stumm. So viel Beknacktheit in so wenigen Worten! Wir sahen uns an und mussten brüllen vor Lachen. Zum Glück schellte es in diesem Augenblick zur ersten Stunde, sonst hätten wir uns totgelacht.
Kurz darauf saßen wir bei unserem wie immer sehr engagierten Physik- und Klassenlehrer, Herrn Bommel, im Physiksaal. Doch statt Physik, wie offiziell auf dem Stundenplan stand, hielt er mal wieder eine Stunde seines Lieblingsfachs ab: Berufskunde. Wie gesagt, Herr Bommel, genannt Bömmelchen, ist sehr engagiert und will uns ernsthaft fit machen fürs Leben. Die meisten finden sowohl Bömmelchen als auch seinen Unterricht ätzend, aber ich mag seine Berufskundestunden. Außerdem haben wir im Physiksaal keine feste Sitzordnung, und so konnten die Klassenbeautys nicht schon jetzt hämisch ihre Tonnen von Valentinsbeute einsacken, die sich auf ihren Tischen im Klassenzimmer bestimmt schon angesammelt hatten. All die Rosen, Schokoladenherzen und Postkarten. Dicke Dackel, mopsige Mischlinge und alle sonstigen Singles - also auch ich - hatten demnach eine weitere kleine Schonfrist.
Heute ging es um akademische Berufe. Bömmelchen erzählte uns, dass ein Hochschulstudium heutzutage leider keine Garantie mehr sei für einen sicheren Arbeitsplatz.
»Was ist schon sicher? Nichts auf dieser Welt ist sicher außer dem Tod und den Steuern«, meinte da Malte. Als Sitzenbleiber ist er einer der ältesten unter uns und allseits anerkannter Sprücheklopfer. Bömmelchen sah ihn überrascht an.
»Zitat von Benjamin Franklin«, fügte Malte hinzu. Das stimmte am Ende sogar, denn obwohl Malte eher schlecht in der Schule ist, liest er unheimlich viel und hat von den abstrusesten Sachen eine Ahnung. Besonders von den abstrusen Sachen. Oder nur von den abstrusen Sachen?
Jedenfalls hinterfragte Bömmelchen den Einwurf nicht, sondern wollte wissen, ob einer von uns schon mal an ein Jurastudium gedacht habe. Klar hatte ich das, ich hab schon an alles Mögliche gedacht. Hauptsache es hat nichts mit Kosmetik zu tun. Also hob ich die Hand.
Ein Fehler. Totenstille. Und nur meine Hand war oben. Ups. Offenbar ist Jura uncool. Bömmelchen holte schon Luft, um wie immer einige wohlwollende, ermutigende und auch warnende Worte zu unseren Berufswünschen zu sagen, da quäkte schon Ninas Tussenstimme durch den Physiksaal: »Höhö, du willst doch nur Jura studieren, damit du dann später immer so’ne alles kaschierende schwarze Anwaltsrobe tragen kannst!«
Bömmelchen hatte einige Mühe, die tosenden Wogen der Heiterkeit zu glätten, die Ninas Kommentar ausgelöst hatte. Ich starrte auf die zerkratzte Tischplatte vor mir, las ein dort vor langer Zeit eingraviertes, unanständiges Wort mit »F« am Anfang und »k« am Schluss und dachte, dass ich in diesem Moment gern von Außerirdischen entführt werden würde. Aber die kommen ja nie, wenn man sie braucht. Pia, die neben mir saß, knuffte mich freundlich und raunte mir zu: »Was die immer für einen Scheiß redet!«
Aber das Schlimme daran ist: Diesmal hatte Nina sogar recht! Zu meinem äußersten Entsetzen hatte sie recht! Genau das hatte ich nämlich wirklich mal gedacht. Ärztin? Sicher ein toller Beruf, aber immer diese engen, weißen Kittel? Nein danke. Weiß verbreitert. Trägt auf. Schwarz dagegen macht schlank.
Was war das für ein Tag, an dem die Klassentusse meine geheimsten Gedanken laut in den Physiksaal brüllte? Ach ja, Valentinstag.