8. Kapitel
Ich wurde von einer Empfangsdame durch hohe Räume mit ebenso hohen Regalen voller Aktenordner geleitet und dann ins Büro von Frau Gessler. Sie trug wirklich die alles kaschierende Anwaltsrobe, wirkte aber ansonsten gar nicht anwaltsmäßig: windzerzauste rote Haare, Sommersprossen, blitzende Augen. Sie wühlte auf ihrem ganz schön chaotischen Schreibtisch herum und mampfte dabei eine Rosinenschnecke.
»Annette Borgmann? Hallo, ich bin gleich so weit, komme grad vom Amtsgericht … - Ah, hier ist, was ich suche! - So, erst mal Guten Tag!« Sie schüttelte mir kräftig die Hand, wobei ihre recht große Pranke ein bisschen klebte von der Rosinenschnecke. »Du willst also ein Betriebspraktikum bei uns machen …« Frau Gessler hängte ihre Anwaltsrobe ziemlich nachlässig auf einen Kleiderbügel und steckte sie dann in einen Schrank. »Warum gerade bei uns?«
»Weil ich mich in einem Supermarkt zu Tode langweilen würde«, platzte ich raus und hätte mich sofort dafür prügeln können.
Aber Klebe-Pranken-Gessler lachte nur. »Das ist die richtige Einstellung! Bloß nicht langweilen! Nun sagt man ja, dass Juristen auch langweilig sind, aber das ist Quatsch. Für mich ist das der spannendste Beruf, den ich mir vorstellen kann!«
Und dann erzählte sie so lebhaft von ihrem Studium, von ungewöhnlichen Streitfällen und durchgeknallten Mandanten, dass mir echt der Mund offen stehen blieb. Alles lief total locker und ich stellte zwischendurch ganz entspannt ein paar Fragen. Und zwar nicht, weil man das soll bei einem Vorstellungsgespräch, sondern weil ich wirklich Fragen hatte, wie etwa: »Stimmt es, dass man im Jurastudium nur endlos auswendig lernen muss?« Oder: »Was war denn bisher Ihr spannendster Fall?«
Die Antwort auf die eine Frage war übrigens: »Klar muss man da viel lernen, aber das ist ja kein dumpfes, zusammenhangloses Pauken. Hinter allem, was wir da lernen, steht ja ein Sinn. Das hilft enorm dabei. Genauso wie die Tatsache, dass es in letzter Konsequenz immer um Gerechtigkeit und faires Zusammenleben geht.« Hörte sich gut an! Und Frau Gesslers spannendster Fall? »Kann ich gar nicht sagen. Ich find alle meine Fälle spannend.« Das hörte sich mindestens so gut an!
Zum Schluss schüttelte mir Rosinenschnecken-Gessler wieder die Hand und meinte: »Langweilen wirst du dich bei uns nicht, das kann ich garantieren! Wir freuen uns auf dich!« Und zack, war ich wieder raus und stolze Inhaberin eines Praktikumsplatzes. Ye-haa!! Klar, dass ich sofort Pia anrief, um ihr alles haarklein zu berichten. Und um mich für die Radikalkur zu bedanken, die sie mir im schwedischen Klamottenladen und im Kaufhaus verpasst hatte.
Man kann sich das Hochgefühl sicher vorstellen, mit dem ich nun durch die Straßen lief. Ich hatte einen Praktikumsplatz, ein neues Outfit und auch noch einen Supergrund, meine Mutter nach der Arbeit in ihrem Schönheitssalon abzuholen. So würde ich völlig unauffällig mit ihr nach Hause und ganz ohne eigenen Schlüssel in unsere Wohnung kommen.
Aber man soll sich ja nie zu früh freuen. Denn als ich an der nächsten Kreuzung um die Ecke bog, kamen sie mir auch schon entgegen: Nina, Michelle und Svea, das ultimative Tussentrio aus unserer Klasse. Sie gingen alle drei untergehakt, trugen jede Menge Tüten aus allerlei Läden - klar, für die ist Shoppen reine Routine - und sprachen laut über ihre Kostüme für die kommende Karnevalsfete. »Ich werde Piratenbraut! So eine Korsage ist genau mein Ding!« - »Und ich werde Marienkäfer! Das ist sooo süß, und Rot steht mir!« - »Ich geh als Burgfräulein, das passt zu meinen Haaren!« Sie bemerkten mich erst spät, offenbar weil ich so anders aussah.
Aber sie bemerkten mich. Und sie bauten sich in einem Tussenhalbkreis vor mir auf. »Wie siehst du denn aus?« - »Guckt mal, Annette ist jetzt schon kostümiert! Als Landfrau!« - »Biste unterwegs zur Fuchsjagd?«, und so weiter, kreisch, kreisch, kreisch … Ich wartete einfach wortlos ab, bis sie sich ausgekreischt hatten.
»Dann macht’s mal gut«, sagte ich und ging einfach weiter. Ich hab inzwischen Erfahrung mit so was: einfach nicht reagieren. Und immerhin: Den Countrylook hatten sie wahrgenommen!
Trotzdem war meine Laune auf dem absteigenden Ast. Das konnten auch die Begeisterungsschreie meiner Mutter nicht mehr ändern, die sie bei meinem Anblick ausstieß. War ja schön, dass ihr die neuen Sachen und mein Make-up gefielen, aber musste sie darüber dermaßen austicken? Halloo! Ich hatte immerhin auch einen Praktikumsplatz, aber das war offenbar längst nicht so toll wie meine Streifenbluse und die Wimperntusche … Den Praktikumsplatz fand sie dann zwar auch gut, als ich endlich dazu kam, ihr davon zu erzählen, aber über die Prioritäten meiner Mutter kann man sich schon wundern.
Am Abend hockte ich in meinem schlabbrigsten Schlaf-T-Shirt wieder in meinem Sitzsack und grübelte. Die Rosen waren ein Stück aufgegangen und sahen noch prächtiger aus. Auch entströmte den sich nun öffnenden Blüten ein wundervoller Duft. Sie wurden immer schöner. Aber ich? Ich war immer noch ich, da konnte auch Wimperntusche nicht helfen. Und meine war außerdem eh längst abgeduscht.
Und in der Rosenfrage war ich keinen Schritt weiter. Wer schenkt mir solche Rosen? Bin ich wirklich eine Rosen-geschenkt-kriege-Frau? Ich bin doch Annette, die Fette, die sich im Kleiderladen vorkommt wie Falschgeld. Annette, die sich ohne ihre energische Freundin Pia nie von einer Make-up-Lady im Kaufhaus hätte schminken lassen. Annette, die ohne ihren Papa wohl immer noch nicht bei der Anwaltskanzlei angerufen hätte. Annette, die Schlüsselvergesserin. Und natürlich Annette, der angesichts des Tussentrios gute Sprüche immer viel zu spät einfallen. Und am schlimmsten: Ich bin immer noch Annette, die in genau den Jungen verliebt ist, dem die wunderschöne Nina Herzen auf Klotüren malt.
Mitten in diesen schwarzen Gedanken fiel mein Blick auf die neuen Kleider, die über einem Stuhl lagen. Ich hatte im Hochgefühl des zugesagten Praktikumsplatzes überlegt, alles morgen zur Schule anzuziehen, aber das war jetzt vom Tisch. So niedergeschlagen, wie ich mich fühlte, musste ich mich morgen unbedingt in meinen großen, ollen Sachen verstecken. Und so blieb mir zum Abschluss dieses Tages nur noch eins: noch mal zum Poesiealbum von Pias Großmutter greifen und eine Runde Poesie-Roulette spielen. Augen zu, blättern, Augen auf. Mein Finger zeigte auf folgenden Spruch:
Rosen, Tulpen, Nelken,
alle Blumen welken.
Nur die eine nicht,
die heißt Vergissmeinnicht.
So ein Schwachsinn. Ich musste unbedingt aufhören, in diesem Poesiealbum zu lesen! Weg damit in die hinterste Ecke!
Aber zu spät. Denn als ich dann im Bett lag, ging mir der Schwachsinn nicht mehr aus dem Kopf: Vergissmeinnicht … blaue Blümlein … so blau wie … wie die Augen von Dominik. Ach … Und spätestens da konnte ich mich einfach nicht mehr wehren, sondern malte mir ganz hemmungslos aus, wie ich mit Dominik und dem Golden Retriever aus dem Park über eine Sommerwiese laufe und wir uns an den Händen fassen - ich und Dominik, nicht ich und der Hund - und dann im warmen Gras liegen und uns tief in die Augen sehen - äh, auch jetzt nicht der Hund -, die ja bei ihm - also Dominik - so blau sind wie besagte Vergissmeinnicht … Kitschalarm, ich weiß, ich weiß … seufz. Aber eben auch wunderschön.
Am nächsten Morgen genoss ich zwei ganze Snooze-Phasen - dreimal darf man raten, woran ich dabei dachte - und ich begann mich zu wundern, warum meine Mutter mich noch nicht aus dem Bett gescheucht hatte. Als ich endlich aufgestanden war, wurde mir klar, warum. Sie war schon weg und hatte mir einen Zettel hingelegt: »Hallo Süße! Hab schon früh einen Termin im Salon. Gratuliere noch mal zum Praktikumsplatz! Bin stolz auf dich! Mama.« Das war ja mal nett zu lesen! Der Hammer kam dann ganz unten auf dem Zettel: »PS. Deine Kleider aus der Tüte hab ich in die Wäsche getan, die waren ja völlig verschlammt.« Ich erstarrte. Und hörte das rhythmische Summen unserer Waschmaschine. Neiiiiiiiiiin!
Doch es war wie befürchtet: Alle im Haus befindliche dunkle Wäsche drehte sich bei 40 Grad im Fleckenprogramm. Und das bedeutete: alle meine Hosen. Und die Oberteile. Und meine Jacke. Das Einzige, was ich jetzt noch zum Anziehen hatte, waren die neuen Sachen!
Mal wieder Gelegenheit, meine Optionen durchzugehen.
a. Ich bleibe zu Hause und stelle mich krank, bis die Wäsche gewaschen und getrocknet ist. - Blöd, weil wir heute eine Mathearbeit schreiben und ich den Stoff gut draufhabe. Wer nachschreibt, kriegt immer viel schwierigere Aufgaben gestellt.
b. Ich lege mich vor die Waschmaschine und sterbe. - Das hätte ja schon gestern auf unserer Fußmatte nicht geklappt, warum also jetzt vor der Waschmaschine?
c. Ich gehe in den neuen Sachen zur Schule. - Nur, wie soll ich das nervlich durchstehen, die Blicke, die dummen Kommentare und so weiter und so weiter?
Ich zog A) ernsthaft in Erwägung. Aber dann dachte ich an die gut gelaunte Frau Gessler in ihrem Anwaltsbüro und beschloss, mich nicht von ein paar Kleidern in meiner schulischen und vielleicht sogar beruflichen Laufbahn behindern zu lassen.
Also radelte ich kurz darauf in meiner grün melierten Hose und dem hellbraunen Mantel durch den Park und war ganz schön stolz auf mich, weil ich so mutig war. Doch dann dachte ich plötzlich, ich bin im falschen Film, nämlich in »Und täglich grüßt das Murmeltier« - diese Story, wo ein Reporter immer wieder am selben Morgen zum selben Radiosong aufwacht und denselben beknackten Tag durchstehen muss. Denn genau wie gestern schoss ein struppiges, graubraunes Etwas aus dem Ententeich und sauste Millimeter vor meinem Fahrrad an mir vorbei. Vollbremsung, Hechtsprung und - klatsch - genau wie gestern lag ich nach einem Bogen über den Lenker auf dem Boden. Und wie in besagtem Film wiederholte sich auch das weitere Geschehen: Malte sprang dazu und versuchte, den Hund am Halsband zu packen, der struppige Mops-Terrier schlabberte mich ab, ich war total eingesaut …
Da endlich wiederholten sich die Ereignisse nicht mehr, denn ich brüllte: »Mann, halt doch endlich den Hund fest!«
Malte kriegte den Hund zu fassen und sah mich so entsetzt an, dass es mir sofort leid tat, so gebrüllt zu haben. Ganz erschrocken fragte er: »Hast du dir wehgetan? Alles o. k.?« Dabei half er mir aufstehen. Ich sah mich schon wieder nach Hause fahren, um da irgendwie meine Klamotten sauber zu kriegen. Doch während ich noch nach meinem Hausschlüssel tastete - er war da, ein Glück! -, meinte Malte: »Immerhin bist du nicht so dreckig wie gestern.«
Das stimmte. Denn erstens war der neue Mantel zufällig genauso braun wie die Flecken vom Hinfallen und zweitens war der Weg diesmal viel trockener. Ich konnte also wirklich den meisten Dreck abklopfen. Dabei musste ich fast lachen, denn Malte stand da, als wollte er mitklopfen, aus Schuldgefühl und Hilfsbereitschaft, aber gleichzeitig traute er sich nicht.
»Es geht schon, alles fast weg …«, beruhigte ich Malte. »Nur du musst echt was machen mit dem Hund. Leine oder Hundeschule oder so. - Guck, so sollte der sich benehmen!« Ich zeigte auf meinen Lieblingshund, den Golden Retriever, der mit seinem Frauchen gekommen war und nun ganz in der Nähe total brav und wohlerzogen Stöckchen holte.
Ich weiß nicht genau, wieso, aber ich bekam einen richtigen Schwärmanfall bei diesem Anblick: »Ist das nicht ein schöner Hund? Das Fell, wie das glänzt in der Sonne! Und guck, wie der auf Frauchen hört! Und da! Wie hoch der springen kann!«
Wieder schien sich der hübsche Hund vor meinen Augen in Dominik zu verwandeln, denn es rutschte mir heraus: »Und wie nett der ist zu seinen Mitschülern … äh, Mithunden!«
Der Golden Retriever war nämlich auf uns zugekommen und stand nun freundlich wedelnd vor Maltes nassem Wauwau. Der Vergleich war wirklich hart: Der Golden Retriever war so viel schöner als das graubraune Etwas von Maltes Nachbarn mit seiner platten Mopsnase und dem struppigen Terrierfell. Und Dominik vor meinem inneren Auge war tausendmal schöner als Malte hier am Ententeich …
Irgendwas von meinen Gedanken musste Malte gefühlt haben, denn er wirkte ganz niedergeschlagen. Er murmelte halblaut: »Immerhin hat der hier’ne super feine Nase. Der kann Sachen seinem Besitzer zuordnen … Guck, hier, dein Rucksack, da weiß er, das ist deiner.« Malte ließ den Mops-Terrier an meinem Rucksack schnüffeln und sagte: »Such!«, und sofort sprang der Hund an mir hoch.
»Fein!«, sagte ich zum Mops-Terrier, aber so richtig warf mich das nicht vom Hocker. Denn da war der Golden Retriever wieder ganz in unserer Nähe und holte Stöckchen. Ich konnte mich einfach nicht sattsehen an ihm! Als ich mich schließlich umdrehte, war Malte mit seinem struppigen Hund gegangen. Einen winzigen Moment lang taten sie mir leid, weil ich ihnen gegenüber unaufmerksam und unhöflich gewesen war, doch dann war der Golden Retriever da. Ganz nah. Weniger als zwei Meter von mir entfernt. Ich rief ihn, er blieb stehen und schaute mich an. Mich! Ich sah in seine treuen, lieben Hundeaugen. Ich konnte nicht widerstehen und ging ein paar Schritte auf ihn zu. Er wedelte mit dem Schwanz und hechelte freundlich, aber er kam nicht näher. Ich ging vorsichtig noch ein Stück auf ihn zu und fast hätten meine Finger sein seidiges Fell berührt … Da ertönte der schrille Pfiff von seinem Frauchen. Und der Hund war wirklich total brav. Er lief sofort weg.
Schade. Richtig schade. Ich war so nah dran gewesen.