12. Kapitel
Am nächsten Tag war Sonntag und ich genoss es, lange zu schlafen und dann beim Aufwachen endlos von Dominik tagzuträumen. Ich malte mir aus, wie wir im Park spazieren gehen … uns dabei an den Händen halten … wie dann der Golden Retriever auf uns zu läuft … sich streicheln lässt und mit uns spielt … wie Dominik und ich uns später auf einer Bank tief in die Augen sehen … und, und, und.
Als ich endlich aufstand, war es schon fast Mittag. Meine Mutter war schon lange weg, sonntags hatte sie immer ihr langes Schönheits- und itnessprogramm mit Saunabesuch, 1000-Meter-Schwimmen, danach mit Freundinnen Entschlackungstee trinken und was weiß ich nicht alles. Also hatte ich meine Ruhe und konnte es mir gemütlich machen, bis ich um zwei zu unserem regelmäßigen Jeden-zweiten-Sonntag-Mittagessen mit meinem Vater verabredet war. Und als ich da so gemütlich allein zu Hause rumhing, hab ich mal heimlich Lidschatten und Wimperntusche meiner Mutter ausprobiert. Ich versuchte, es so hinzukriegen wie die Make-up-Lady im Kaufhaus. Das gelang nicht 100 Prozent, sah aber trotzdem ganz gut aus. Meine Mutter hatte eine unglaubliche Menge an verschiedenen Farben und Pinselchen. So betonte ich das Oberlid mit ein bisschen Hellbraun in der Mitte und Mittelbraun am äußeren Rand und dazu gab’s Wimperntusche in Dunkelbraun. Passte erstaunlich gut zu meinen blauen Augen und machte sich auch gut hinter der dicken Brille. Um es auf die Spitze zu treiben, zog ich meine neuen Sachen an und machte mich dann, inzwischen schon ganz schön nervös, auf den Weg in die Pizzeria.
Also von Kaffee krieg ich ja kein Herzklopfen, aber offenbar von Schminke. Ich fühlte mich, als ob mich alle im Restaurant anstarren und gleich »Guck mal, die ist angemalt!« brüllen würden. Aber nichts passierte. Dann stand ich unsicher vor meinem Vater, der freudig die Zeitung zur Seite legte, um mich zu begrüßen und zu umarmen.
»Hey Annettekind, gut siehst du aus!«
Meinte er meinen neuen Look? Anderseits hatte er dasselbe gesagt, als ich letztens total nass geregnet bei ihm im Laden aufgetaucht war.
»Und herzlichen Glückwunsch!«
Zu den Rosen von Dominik?, fragte ich mich irritiert. Woher weiß er davon? Ich geriet völlig aus dem Konzept und hätte mich fast neben den Stuhl gesetzt. Ein Kellner grinste, als er das sah. Aber nicht unfreundlich. Mehr ein Lächeln als ein Grinsen.
»Äh, Glückwunsch zu was?«, fragte ich meinen Vater.
»Na, zum Praktikumsplatz!«
Ach so.
Wir bekamen die Karte, suchten aus, bestellten und ich wartete die ganze Zeit, dass mein Vater was zu meinem neuen Aussehen sagen würde. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus.
»Sag mal, fällt dir nichts auf?«
Mein Vater war völlig überrascht. »Auffallen? Was soll mir auffallen?«
»Na, an mir soll dir was auffallen!«
Jetzt inspizierte mein Vater mich genau, wobei er erst etwas gestresst und dann richtig hilflos wirkte. »Tja, also … hast du die Haare anders?«, fragte er schließlich.
Es stimmte also, was ich schon oft gehört hatte. Männer merken nicht, wenn man sich schön gemacht hat. Ich hatte Mitleid mit ihm und zeigte ihm die neuen Kleider und das Augen-Make-up. Eifrig bestätigte er: »Ja, jetzt seh ich’s auch! Schön! Steht dir gut!« Und ich ließ mir entspannt meine Spaghetti bolognese schmecken. Ohne Serviette als Lätzchen, denn mein Vater merkt auch garantiert keine Soßenflecken.
Seltsam war allerdings, dass dieser Kellner immer zu mir hinguckte. Irgendwie war das spannend, und so hatte ich Schwierigkeiten, meinem Vater zuzuhören.
»Wie viel möchtest du denn? 200 Gramm? 400 Gramm? Eher helle oder lieber dunkle?«
»Äh, dunkle was?«
»Na, Pralinen aus Belgien!«
»Belgien?«
Mein Vater seufzte. »Hab ich doch grade erzählt, ich fahr nächste Woche nach Belgien, zur Antiquitätenmesse.«
»Ach so, klar, ja, Pralinen sind super, gern 400 Gramm, danke!« Ich riss mich zusammen und guckte nicht länger, ob der Kellner guckte. Trotzdem ging mir das weiter im Kopf herum: Hat der früher schon so geguckt und mir ist das nur nie aufgefallen? Will er nur plump den Umsatz steigern und guckt alle weiblichen Gäste so an? Oder sehen manche Männer eben doch, wenn man sich schön gemacht hat??
Fragen über Fragen, die ich am Nachmittag unbedingt mit Pia besprechen wollte. Außerdem wollte ich mit ihr zusammen ein Strategiepapier erstellen. Diesen Ausdruck hatte ich auch bei der Recherche zum Thema Schulhofsanierung gefunden. Ein Strategiepapier darüber, wie ich morgen bei der SV-Konferenz vorgehen sollte, also zum Thema Dominik, nicht zum Thema Fahrradschuppen. Obwohl auch dafür ein Strategiepapier nützlich wäre … Auweia, ich dachte schon wieder wie eine Juristin!
Aber später dann druckste Pia ganz komisch rum am Telefon und laberte was von wegen keine Zeit und so … Pia ist keine gute Lügnerin und ich merkte sofort, dass sie mich nicht treffen wollte. Warum nicht? War da wieder dieser Ole im Spiel? Da durfte ich nicht schmollen, schließlich nahm ja auch Dominik in meiner Freundschaft zu Pia zurzeit einen ziemlich großen Platz ein. Ich bohrte also nicht groß nach und richtete mich darauf ein, den Rest des Tages mit meiner nun doch wachsenden Aufgeregtheit allein zu sein.
Umso überraschter war ich, als meine Mutter ein paar Stunden früher als normal von ihrem selbstquälerischen Sportprogramm zurückkam. Sie murmelte was von »grauenhaften Kopfschmerzen«, warf sich erst mal zwei Tabletten ein und rollte sich auf dem Sofa in eine Decke. Ich war ihr gegenüber ungewöhnlich milde gestimmt und machte ihr einen Tee, denn von Kaffee kriegt sie ja Herzklopfen. Mir machte ich einen Kaffee, denn von Tee kriege ich Brechreiz.
Nachdem wir dann eine Weile auf dem Sofa gelümmelt und Teechen und Käffchen getrunken hatten, ging es ihr besser und ich erwartete jeden Moment den Spruch: »Kind, was trinkst du denn da Kaffee, davon bekommst du doch Herzklopfen«, aber das kam nicht. Das war so ungewöhnlich, dass es mich ganz nervös machte, und so hielt ich die Kaffeetasse extra in ihr Sichtfeld und schlürfte laut und da - starrte sie mich an.
»Kind, was …«, begann sie.
»Ich krieg kein Herzklopfen von Kaffee«, sagte ich schnell. Aber sie starrte mich weiter an und meinte dann: »Du hast dich ja zurechtgemacht!«
Oh Scheiße! Ich hatte vergessen mich abzuschminken! Was kam jetzt? Spitze Schreie der Begeisterung nach dem Motto »Endlich!«? Ein strenger Blick und dann harsche Kritik an meiner Schminkkunst? Eine Standpauke, weil ich ungefragt an ihre Sachen gegangen war? Nö. Nix von alledem. Stattdessen sagte sie nur: »Sieht gut aus.« Das freute mich ja nun doch. Zu meiner eigenen Überraschung so sehr, dass ich schon wieder Herzklopfen bekam. Ob vom Kaffee oder von der Schminke oder der Aussage meiner Mutter war schwer zu sagen.
»Meinst du, ich sollte das öfter machen?«
Meine Mutter sah mich lange an, seufzte dann tief und kuschelte sich noch etwas enger in die Decke. »Also, als Inhaberin eines Schönheitssalons müsste ich jetzt natürlich sagen: ›Klar, und nicht nur öfter, du solltest das immer machen! Morgens, mittags, abends, nachts!‹« Dann starrte sie seltsam ins Leere. »Aber in letzter Zeit frag ich mich, ob man’s mit dem ganzen Zurechtmachen nicht auch übertreiben kann.«
Mir fiel fast der Kaffee vom Mund zurück in die Tasse, so baff war ich. So ein Spruch von meiner Mutter? Die sogar bei meiner Geburt perfekt geschminkt war, davon habe ich Beweisfotos: Ich selbst bin eine halbe Minute alt, rot, zerknautscht und völlig fertig, mein Vater sieht aus, als hätte er gerade den London-Marathon hinter sich, nur meine Mutter, die lächelt mit perfekt gezogenem Lidstrich in die Kamera, frisch gepudert wie der junge Morgen. Und jetzt? Meine Mutter, die noch nie ohne Lippenstift zum Bäcker gegangen ist, sagt solche Sachen?
Noch bevor ich was erwidern konnte, ging’s weiter mit ihren seltsamen Kommentaren: »Weißt du, Annette …« - nicht »Nettchen« - »… irgendwie bewundere ich dich ja dafür, dass du so eins zu eins rumläufst. Ganz ohne Deko und Schleifchen und Püderchen. Dass du nicht versuchst, immer alles besser zu machen, als es ist …«
»Äh, findest du das jetzt blöd mit dem Schminken?«, fragte ich vergrätzt, denn der kann man’s ja nun wirklich nicht recht machen!
»Nein, nein! Das sieht gut aus, wirklich!« Jetzt sah sie mich ganz lieb an und nahm sogar meine Hand. »Ich denk nur, der goldene Mittelweg, der ist der richtige. Und damit meine ich vor allem mich selbst …«
Waren es die Kopfschmerztabletten, der Tee, die Kombination aus beidem, oder was war los mit ihr? Meine Mutter bekam einen richtigen tief philosophischen Offenheitsflash mir gegenüber: »Ich werde ja bald vierzig und ich geb’s nicht gerne zu, aber ich komm damit gar nicht gut klar. Jede neue Falte macht mich fertig, jedes neue graue Haar zieht mich runter …«
»Aber du hast doch gar keine Falten und keine grauen Haare«, rief ich, ganz wahrheitsgemäß.
Sie lächelte wieder. »Man sieht sie nicht, weil ich ein Profi bin. Aber klar hab ich die. Egal wie viel ich creme, töne oder jogge, ich werde nicht jünger.«
»Och Mama! Du bist jung!« Jetzt tat sie mir richtig leid.
»Nein, nein, ich bin höchstens noch halb jung. Aber das ist es auch gar nicht. Ich hatte vorhin plötzlich so eine Art Erleuchtung … Beim 1000-Meter-Schwimmen …«
»Och nöö, bitte jetzt nicht wieder einen Vortrag über die tollen Wirkungen von Ausdauersport, so von wegen Glückshormone ausschütten und so«, rief ich, denn den Scheiß hatte ich oft genug gehört.
»Nee, keine Angst«, lächelte sie, »ganz anders! Ich hatte plötzlich, also ehrlich gesagt schon nach der dritten Bahn, so richtig die Schnauze voll von der Schinderei. Ich rackerte mir da einen ab, trotz Kopfschmerzen, kennst mich ja …«
»Allerdings.« Im Ernst, meine Mutter ruht sich nie aus, egal wie krank oder kaputt sie ist. Und erwartet das dann auch von allen anderen …
»Jedenfalls wollte ich einfach nur noch im Whirlpool rumhängen und gar nichts mehr machen …«
»Und warum hast du’s nicht gemacht?«
»Hab ich ja! Und es war herrlich!« Das war allerdings neu. Meine Mutter entspannt sich im Whirlpool? Wo das doch erweiterte Äderchen an den Beinen hervorrufen könnte, wie ich sie schon so oft zu Kundinnen hab sagen hören?
»Und da in diesem wohlig warmen Geblubber hab ich dann was beschlossen …«
Ich bekam Angst. »Keine Schönheits-OP, oder? Kein Fettabsaugen statt 1000-Meter-Schwimmen, Mama! Das ist gefährlich! Ich hab da Sachen im Fernsehen gesehen, was da alles passieren kann! Blutgerinnsel und Schlaganfall und …«
Meine Mutter unterbrach mich. »Nein. Keine OP. Ich hab einfach beschlossen, nicht länger gegen das Älterwerden anzukämpfen. Klar werde ich weiter Sport machen. Klar werde ich mich weiter cremen und tönen und föhnen. Aber prinzipiell werde ich mir jetzt erlauben, einfach älter zu werden. Hilft ja alles nix.«
Ich war baff. Aus dem Mund meiner Mutter waren das total revolutionäre Sprüche. Und während ich noch versuchte, sie zu verdauen, stand sie auf und sagte: »Das meine ich mit dem goldenen Mittelweg: Du machst dich zurecht, wenn du da Lust zu hast, und lässt es, wenn du keine Lust hast, und ich … ich geh mal völlig ungeschminkt vor die Tür. Zum Beispiel jetzt. Hast du auch Lust auf Thailändisch?«
Was für’ne Frage! Ich liebe thailändisches Essen! Statt einer Antwort machte ich nur Männchen wie ein begeisterter Hund und hechelte eifrig dazu. Meine Mutter lachte, nahm eine Jacke und verließ allen Ernstes ungeschminkt das Haus. Das hatte sie noch nie gemacht. Im Ernst: noch nie! Also irgendwas war bei uns echt im Umbruch!
Später lag ich im Bett, konnte ewig nicht einschlafen und beschloss irgendwann zwischen halb zwölf und zwölf, mir lieber noch mal die Zähne zu putzen. Im thailändischen Essen war zwar gar nicht viel Knoblauch gewesen, aber ich wollte auf keinen Fall morgen mit einer Gewürzfahne bei der SV-Konferenz erscheinen. Als ich also meine Beißer schrubbend vor dem Badezimmerspiegel stand, wälzte ich weiter die große Frage, die mich seit Stunden wach hielt: Schmink ich mich morgen oder nicht? Ich weiß, es klingt schrecklich banal, aber das ist es nicht. Das bisschen Lidschatten und Wimperntusche sind ja für mich ein großer Schritt. Weg von Graumaus und chronisch freundloser Streberin, die sich außerdem gegen den Schönheitswahn ihrer Mutter wehren muss. Hin zu … äh, wohin eigentlich?
Egal, auf jeden Fall hatte ich den Mut für diesen großen Schritt ja vor allem durch Dominiks Rosen bekommen. Warum soll ich also nicht weitermachen auf diesem Weg zum harmlos-lockeren Gebrauch von ein bisschen Make-up? So wie alle »normalen« Mädchen in meinem Alter das machen? Oder verrate ich dadurch mein altes Ich, die nicht zurechtgemachte Annette, in die Dominik sich verliebt hat? Findet er Schminken vielleicht total tussenmäßig? Das wäre allerdings reichlich kleinkariert … Und so ist Dominik ja nicht … Also, wenn ich morgen Lust hab, dann schmink ich mich … Aber was, wenn ich alles verschmiere, weil ich so nervös bin? Da fiel mir ein, was Pia jetzt sagen würde: »Annette, du denkst zu viel.« Richtig.
Also versuchte ich es einfach mal mit dem Poesiealbum-Orakel. Das Ergebnis:
Bis die Flüsse aufwärts fließen,
bis die Hasen Jäger schießen,
bis die Mäuse Katzen fressen,
dann erst werd ich dich vergessen!
Oh wie bescheuert! Doch in Bezug auf Dominik auch: oh, wie wahr! Ich verschob das Make-up-Dilemma auf morgen und dachte beim Einschlafen an wirklich wichtige Dinge. Genau: an Dominik.