24. Kapitel
Tja, da saßen wir nun und mussten erst mal schlucken. Denn das Ergebnis unserer Orakelbefragung hätte nicht eindeutiger sein können: Wir sollten zur Karnevalsfete, und zwar eisenhart als Rosenköniginnen. Und nicht nur das. Wir sollten uns da sogar amüsieren. »Denn das ist ja unser Recht«, überlegte ich laut. »Jeder hat das Recht, ja geradezu die Pflicht, sich auf einer Karnevalsfete zu amüsieren.«
Pia unterbrach meine schlauen Ausführungen. »Spar dein Geschwalle für dein späteres Studium und probier das Kleid an!« Auweia. Jetzt wurde es ernst.
Kurz darauf hatten wir geduscht, uns die Achseln rasiert - ich sag nur: schulterfrei -, uns eingecremt, die Creme gut einziehen lassen - sonst macht es Flecken, Rat meiner erfahrenen Mutter - und uns geföhnt. O. k., es war nicht wirklich kurz darauf, sondern eine gute Stunde später, aber ernst wurde es trotzdem. Pia und ich stiegen in unsere Kleider. Und wieder kam es zu der unglaublichen Verwandlung vom Durchschnittsteenie zur Dame. Diesmal sogar noch mehr, denn die Kleider passten wie angegossen: Reißverschluss zu, sssst, und … aaahhhh! Kein Kneifen, kein Rutschen, kein Schlottern und kein Klemmen. Einfach nur das sichere Gefühl, was Tolles anzuhaben. Meine Mutter wuselte um uns herum und suchte uns aus ihrer umfangreichen Schuhsammlung was raus. Zum Glück hatten wir drei dieselbe Schuhgröße und Pia und ich fanden auch bald je ein passendes Paar. Für mich bloß nicht zu hoch, denn ich hatte ja keine Erfahrung mit hohen Schuhen. Schon die paar Zentimeter hier fühlten sich ganz schön ungewohnt an. Danach eröffnete uns meine Mutter, dass wir zu den Kleidern dünne Strumpfhosen bräuchten. Ich fragte, wieso, denn die Kleider waren ja nun bodenlang, selbst die Schuhe sah man kaum! Aber da ließ sie sich auf keine Debatte ein: kein elegantes Kleid ohne passende Strumpfhose! Leider hörte kurz über den Füßen die Ähnlichkeit zwischen mir und meiner Mutter auf - ich bin dicker - und auch zwischen Pia und meiner Mutter - Pia ist größer. Also mussten wir wieder raus aus den Kleidern und rein ins nächste Kaufhaus, um uns dort mit Strumpfhosen in der richtigen Farbe und Größe einzudecken: »Kauft jeweils zwei und nehmt eine mit als Reserve! Falls ihr’ne Laufmasche kriegt!« Man sieht, meine Mutter ist der absolute Profi, was Schicksein im Abendkleid anging. Und großzügig war sie auch, denn sie gab uns das Geld für die Strumpfhosen. Eine ganze Menge Geld … Ich war platt, was so ein Frauenkram kosten kann!!
Etwas später - und die Uhr tickte! - versuchten Pia und ich, in der Feinstrumpfabteilung des Kaufhauses einen Überblick zu gewinnen. Das war nicht leicht, allein die Abteilung für Strumpfhosen war ungefähr so groß wie 20-mal unser Fahrradschuppen. Wir tappten also etwas kopflos durch die endlosen Reihen mit Tischen und Regalen, Pia links, ich rechts, als mir das Herz in die Hose fiel. Denn da waren sie, nur einen Tisch mit gemusterten Leggings entfernt: die Obertussen. Nina, Michelle und Svea. Sie waren auch völlig überrascht, mich dort zu sehen.
»Was machst du denn hier?«, fragte Nina, wobei sie das »Duuu« endlos in die Länge zog. Also so, wie man einen Grottenolm fragen würde, was er auf der Sonnenbank macht: »Was machst duuu denn hier, du hast ja nicht mal Augen, geschweige denn Hautpigmente, weil du immer im Dunkeln lebst! Du kriegst eh keine Sonnenbräune!« Oder in meinem Fall: »Was machst duuu denn in der Feinstrumpfabteilung, du hast ja nicht mal Schick, geschweige denn Eleganz, weil du die nerdige Annette bist! Du siehst doch eh immer trampelig aus!«
Also genauso klang ihre Frage und ich hätte verdammt was drum gegeben, wenn mir jetzt eine schlagfertige Antwort eingefallen wäre, damit sie alle die Klappe hielten. Aber so sagte ich nur: »Ich such mir mit Pia grad ein paar Strumpfhosen aus, als Masken zum Überziehen, wir wollen nachher noch’ne Bank überfallen.«
Hey! Das war eine schlagfertige Antwort! Und sie hielten die Klappe!
Vorerst.
Michelle, die trotteligste von den dreien, fand als Erste die Sprache wieder und fragte ganz arglos: »Das macht ihr nicht in echt, oder?«
Inzwischen war Pia dazugekommen und hörte mit, was Nina dazu meinte. Sie sagte zuerst zu Michelle: »Natürlich nicht, du blöde Kuh!« Und zu uns sagte sie dann: »Hauptsache, ihr kommt nicht zur Karnevalsfete. Vor allem du nicht, Annette. Denn ich bin da mit Dominik verabredet und habe keine Lust auf noch so’ne Szene wie letztens vorm Zeichensaal.« Dann rauschten sie ab. Und nun waren leider wir es, die die Klappe hielten.
Irgendwie hat Pia dann Strumpfhosen für uns gekauft und mich aus dem Kaufhaus gezerrt. Auf dem Weg zu mir nach Hause war ich vollkommen betäubt von dem Bild, das Ninas Worte in meinem Kopf angeknipst hatten: Nina und Dominik zusammen auf der Karnevalsfete. Lachend, flirtend, tanzend, eng umschlungen, sich küssend … Mir wurde schlecht. Ich musste stehen bleiben, denn es prickelte verdächtig in meiner Nase, ein sicheres Zeichen dafür, dass ich gleich anfing zu heulen. »Ich kann nicht zur Karnevalsfete. Das überleb ich nicht.«
Pia zog mich einfach weiter. »Oh doch, das kannst du. Und das überlebst du. Weil es nämlich gar nicht stimmt.«
Meine Nase setzte kurz aus mit Prickeln. »Wie meinst du das?«
»Nina sagt das nur, damit wir nicht kommen. Sie weiß, dass sie dich damit am Arsch kriegt.«
Hmmm. Interessante These. Aber schnell drängten sich wieder diese Bilder vor mein inneres Auge und ließen meine Nase wieder prickeln. Pia hielt an, stellte sich vor mich und sagte: »O. k., Annette. Wir machen es so: Wir fragen ein letztes, ein allerletztes Mal das Poesiealbum-Orakel, o. k.? Und was das sagt, das tun wir. Wir haben uns so tief reingeritten mit diesem Orakelquatsch, das ziehen wir jetzt durch.«
»O. k. …«, sagte ich zögernd.
»Du musst mir nur versprechen, dass wir tun, was es sagt.«
»O.k.«, sagte ich etwas fester. Irgendwie tat es gut, die Verantwortung für den weiteren Verlauf des Tages und des Abends an ein Poesiealbum abzugeben, so bescheuert das jetzt klingen mag. Pia zog mich nach Hause.
Dort setzten wir uns nicht mal hin, sondern holten sofort, noch in Jacke und Mantel, das Poesiealbum meiner Mutter. Wir tauschten einen Blick. Ich nickte, Pia war an der Reihe. Sie schloss die Augen, begann zu blättern, blätterte weiter, da fiel ihr das Album aus der Hand … Mein Herz klopfte inzwischen bis zum Hals. Ich gab Pia das Album und wieder blätterte sie mit geschlossenen Augen. Dann legte sie ihren Finger auf die Mitte einer Seite, öffnete die Augen und wir lasen:
Es gibt nichts Gutes,
außer man tut es.
Die Sache war klar.