26. Kapitel
Pia fing mich auf.
Also ich bin jetzt nicht wirklich umgekippt, so wie die Damen im Film immer umkippen, stilvoll und elegant, um dann unheimlich schön auf dem Boden zu liegen. Ich bin nicht mal einfach so umgekippt, um dann unheimlich blöd auf dem Boden zu liegen. Ich habe offenbar einen stabilen Kreislauf und hatte daher nur ganz kurz weiche Knie vor Schock. Dank Pia war weiter nichts passiert. Ich stand an sie geklammert und war völlig bei Bewusstsein. Leider. Denn der Anblick da eben, also den wünscht man seinem schlimmsten Feind nicht. Dominik und Nina … als perfektes Paar … Wieder wurde es mir flau und ich fürchtete, dass gleich die Butterbrote wieder hochkamen, die meine Mutter mir verfüttert hatte.
Inzwischen hatten auch ein paar andere Leute bemerkt, dass ich da wie ein nasser Lappen an Pia dranhing. Unter ihnen erkannte ich auch Ninas Mutter, die sehr besorgt auf mich einredete: »Kindchen, was hast du denn? Hast du’s mit dem Kreislauf?« Diese Stimme … irgendwoher kannte ich die. Mein auf allen Kanälen gestresstes Hirn versuchte, diese Stimme einzuordnen. Aber keine Chance.
Irgendwie muss Pia die Leute dann abgewimmelt und mich in die Schule gezerrt haben. Denn ich saß kurz darauf mit Pia in der alten Hausmeisterloge. Aufgrund städtischer Sparmaßnahmen hat unsere Schule keinen eigenen Hausmeister mehr und so ist die Loge neben dem Haupteingang nun eine Art Rumpelkammer, voll mit kaputten Landkarten, dreibeinigen Stühlen und vertrockneten Zimmerpflanzen. Pia suchte im Gerümpel nach einem Spiegel, damit wir unsere Kostüme checken konnten. Sie war offensichtlich fest entschlossen, auf diese Fete zu gehen. Aber was war mit mir? Ich wusste wirklich nicht, ob ich das jetzt durchstand. Gleichzeitig merkte ich, dass Pias Geduld mit mir und meinen Liebesdramen ein ganz klein bisschen abnahm. Oder besser: am Ende war. Konnte ich irgendwie auch verstehen. Pia war ja selbst nervös, von wegen Rosenköniginnenkostüm und schulterfrei und alles. Und dann immer diese Freundin, die alle zehn Minuten die Krise kriegt … Pia räumte. Ich hockte. Wir schwiegen. Im Hintergrund spielte Karnevalsmusik.
Ich saß da also auf einem Tisch mit klappriger Tischplatte und ging mal wieder meine Optionen durch.
a. Einfach abhauen. - Verlockende Idee, selbst wenn ich nicht wusste, wie ich in dem Kleid nach Hause kommen sollte. Busfahren im schulterfreien Kleid, nur mit einem Pashminaschal bekleidet, und das nachts im Februar? Und ohne Buskarte. Oh please, no! - Also Taxi. Aber dann müsste Pia mitkommen. Wir hatten nur Geld für ein Taxi.
b. Auf die Fete gehen. - Und dann Nina und Dominik sehen? Wie sie zusammen tanzen oder noch Schlimmeres tun?? Wieder meldete sich Brechreiz.
c. Hier in der Rumpelloge sitzen bleiben und warten, bis Pia ausgefeiert hat. - Hmmm … wäre eine Möglichkeit. Aber etwas, das man getrost einen Scheißabend nennen könnte.
d. …
Ich hatte D) noch nicht mal angedacht, als Pia plötzlich rief: »Mann, sind wir doof! Hier ist doch ein Waschbecken mit Spiegel!« Stimmt, in der Hausmeisterloge gab es ein Waschbecken und darüber einen alten Spiegel. Pia zerrte mich hin. Im Halbdunkel der Rumpelloge sahen wir sehr schön aus, da in dem schrammligen Spiegel. Wie zwei Edelfräulein auf einem alten Gemälde. Wir sahen uns eine Weile ganz fasziniert an.
»Wär’ irgendwie Verschwendung, jetzt nicht zur Fete zu gehen …«, meinte Pia langsam. Ich hörte deutlich raus, wie viel Lust sie auf Karneval hatte. »Aber ich trau mich nicht allein«, fügte sie hinzu. Damit ging meine Option C) also den Bach runter.
»Und ich trau mich überhaupt nicht«, murmelte ich leise.
Pia knuffte mich. »Mensch Nette! Du hast’ne Nacht allein im Fahrradschuppen verbracht, dann kannst du doch jetzt nicht vor einer harmlosen Fete kneifen!« Sie hatte ja recht. Aber …
»Ich könnte mich blamieren, vor der ganzen Schule.« Pia sah mich nur an. Also dachte ich den Gedanken selbst laut weiter. »Aber mehr blamieren als da vorm Zeichensaal kann ich mich ja nicht.«
»Nein«, bestätigte Pia.
»Aber steh ich das durch?« Ich wurde richtig jammerig. »Wenn ich Nina und Dominik sehe? Nina in ihrem Superkostüm, wie sie dann mit Do…«
Ich brach ab. Denn in diesem Moment fiel mir ein, woher ich die Stimme von Ninas Mutter kannte. Sie war die Kundin meiner Mutter, die über ihre Tochter geklagt hatte! Über Nina! Es musste Nina sein, sie war Einzelkind. Was hatte ihre Mutter gesagt? »Die hat nichts anderes im Kopf als Klamotten, Jungs und Partys. In der Schule schreibt sie eine Fünf nach der anderen. Sie wird sitzen bleiben!«
Bildungsfixiertheit hin oder her, die man mir jetzt vorwerfen kann - aber die tolle Nina in ihrem sensationellen Kostüm, die Super-Nina, vor deren Urteil alle Mädchen Angst haben und in die alle Jungs verknallt sind, diese Super-Nina schrumpfte vor meinem inneren Auge zu dem, was sie in Wirklichkeit ist: eine absolute Normal-Nina. Mit stinknormalen Problemen, wie z. B. schlechten Noten und deswegen Stress mit Mutti. Wie aus einem aufgeblasenen Luftballon entwich die Luft aus der Super-Nina mit einem Furzgeräusch. Und übrig blieb, wie beim Luftballon, nur Schrumpel. Und die Schrumpel sagte mit Ninas Stimme: »Ich brauch kein Abi, ich werd eh Model.«
Ich musste grinsen.
»Was ist los?«, fragte Pia in den Spiegel, in den wir beide immer noch guckten.
»Ich glaub, ich hatte grad eine Erleuchtung.« Im Ernst. Eine wunderbare Welle von Energie beflügelte mich. Ich erkannte: Eine zur Schrumpel geschrumpfte Nina darf nicht darüber bestimmen, auf welche Fete ich gehe! Und wie ich mich da fühle!
Ich sah Pia direkt an. »Weißt du was? Wir gehen da jetzt rein.« Pia blickte mich mit großen Augen an. Ich strahlte. Alle Angst war verflogen. »Und amüsieren uns!«
Pia umarmte mich.
Wir stellten unsere Krönchen senkrecht und rannten los.