27. Kapitel
Mein Herz klopfte dann doch, als ich mit Pia in die rappelvolle Aula trat. Und es klopfte noch mehr, als wir an der aus Tischen und Turngeräten improvisierten Garderobe unsere Pashminaschals abgaben. Denn dann stand ich wirklich im schulterfreien, langen Kleid, mit Reifrock, Hochsteckfrisur, Krönchen und Rosenstrauß mitten unter meinen Mitschülern. Ich, Annette, die Fette. Annette, der Supernerd. Die Luft wehte kühl und fast bedrohlich um meine bloßen Schultern. »Aufrecht gehen! Königlich!«, schossen mir die Worte meiner Mutter durch den Kopf. Also ging ich aufrecht. Und was passierte? Gar nichts. Um uns herum herrschte ein Riesengewusel aus Kostümierten. Leute aus der Unter-, der Mittel- und der Oberstufe. Von unserer Schule und von anderen Schulen. Ab und zu auch mal ein Lehrer, ebenfalls kostümiert. Aus der Musikanlage dröhnten Karnevalsklassiker, die meisten grölten mit und auch Pia und ich konnten nicht lange widerstehen: »Da simmer dabei, dat is’ pri-hi-maaa, Viva Coloniaaa …!« Die gehirnabschaltende Wirkung von Karneval war deutlich zu spüren. Und wahnsinnig angenehm. Vor allem für eine »Annette, du denkst zu viel«-Annette wie mich. Man kann nicht über seine Probleme oder den Sitz seiner Hochsteckfrisur nachdenken, während man gleichzeitig schwachsinnige, aber mitreißende Lieder schmettert und von allen Seiten beschunkelt wird.
Was mir in all dem Gewühl trotzdem auffiel, waren die kurzen, aber interessierten Blicke, die mir galten. Blicke von Jungs meine ich jetzt. Die Blicke von Mädchen waren lang, die checkten eindeutig und ungeniert die Einzelheiten meines Outfits. Die Jungs dagegen guckten nur ganz kurz. Aber interessiert. Und immer wieder. Ich muss zugeben, das hatte was. O.k., ich bin ehrlich: Das war toll! So geht es also Mädchen, die keine Supernerds sind? Fühlt eine Nina sich immer so? Morgens, mittags, abends, nachts? Kein Wunder, dass die meint, sie wäre Queen of the World … Bevor ich dann aber doch wieder zu intensiv nachdenken konnte, spielten sie »Die Karawane zieht weiter«, es bildete sich sofort eine Polonaise und Pia und ich wurden hineingezogen. Ich hing an Pias Schultern und irgendein Kerl aus der 10. hing an meinen Schultern. Die schienen ihm zu gefallen, denn er betätschelte sie ein bisschen. Was wiederum mir nicht gefiel, also drehte ich mich um und sah ihn streng an. Er wurde rot und unterließ das Tätscheln für den Rest der Polonaise. Na bitte, geht doch!
Nach der Polonaise, einem kollektiv gebrüllten »YMCA« und einem gemeinsam gesungenen »Ich war noch niemals in New York« kämpften Pia und ich uns zum Berlinerstand. Dort bei Berlinern und Apfelschorle fanden wir die ersten Leute aus unserer Klasse, Jan und Dennis, die beiden Computerfreaks. Die, die vor lauter Computerei noch nicht gemerkt haben, dass es Mädchen gibt. Offenbar merkten sie es in genau dem Moment, als wir vor ihnen standen, denn beiden fielen Berliner und Apfelschorle fast wieder aus dem Gesicht, so klappten ihnen die Kiefer runter.
»Mann, das sind ja Annette und Pia!«, stammelte Jan dann mit vollem Mund.
»Boah, ja, jetzt seh ich’s auch!«, stammelte Dennis zurück.
»Ihr seht ja klasse aus!«, meinten sie im Chor.
»Danke!«, sagte Pia und strahlte sie an. Gute Antwort auf ein Kompliment, dachte ich. Muss ich mir merken. Einfach »Danke« sagen!
Kurz darauf stärkten auch wir uns mit Berlinern und Apfelschorle. Und dann sahen wir sie: Michelle und Svea. Direkt vor uns. Die konnten erst mal gar nicht sprechen, so baff waren sie. Stattdessen wanderten ihre Augen an uns hoch und runter. Und noch mal hoch und runter. Sie konnten den Anblick gar nicht fassen. Irgendwie kann man’s mit der Beachtung von Äußerlichkeiten auch übertreiben, dachte ich mir. Nur weil ich gerade was anderes anhatte, kriegten sie plötzlich kein Wort mehr raus, das war doch gestört! Schließlich fand Svea, die nicht ganz so dämlich ist wie Michelle, ihre Sprache wieder.
»Wo habt ihr denn die Kleider her?«
Und ich sagte, ganz locker: »Na, die haben wir gekauft, von dem Geld aus unserem Banküberfall.« Und dann ließen wir sie stehen.
Danach ging für Pia und mich die Party richtig los. Wir tanzten und schunkelten und trafen jede Menge Leute, die wir kannten. Die guckten zum Teil etwas verwirrt, aber zum noch größeren Teil waren sie einfach nur überrascht, uns so zu sehen, und sagten nette Sachen wie: »Hey, super Kostüm!«, »Steht dir gut, Annette!« oder einfach »Wahnsinnsklamotte!«. Ich hatte ständig Gelegenheit, freundlich »Danke« zu sagen. Wir lobten unsererseits die teilweise wirklich irren Kostüme der anderen und hatten jede Menge Spaß. Auch mit Leuten von anderen Schulen, denn unsere Karnevalsfete ist in der ganzen Stadt legendär. Pia hatte zwischendurch mal einen Verehrer an der Hand, der aus einem 60 Kilometer entfernten Eifelkaff angereist war, und mich quasselte ein Typ vom Händel-Gymnasium voll, was ja auch ganz schön weit weg ist. Er faselte irgendwas, von wegen er habe einen grünen Daumen und sei darum der Richtige für meine Rosen. Ich lächelte nur huldvoll. Zwischendurch stand auch mal the Schnepfe vor mir, also unsere Englischlehrerin, allen Ernstes in einem Vogelkostüm. Stellte sie wirklich eine Schnepfe dar? Sie sah mich streng an und meinte dann spitz: »Da bist du aber sehr plötzlich wieder gesund geworden, Annette. Die ganze Woche krank und nun hier auf der Karnevalsfeier?!«
Ich lächelte auch ihr huldvoll zu. »Ja, es war eine wundersame Spontanheilung. In der Nacht von Freitag auf Samstag.« Hey, das war schlagfertig!
Gut gelaunt zogen Pia und ich von Grüppchen zu Grüppchen und tanzten und schunkelten. Einmal sah ich dabei ein ganz besonders schönes Kostüm: Ein Junge hatte sich als Golden Retriever verkleidet! Pia verdrehte natürlich die Augen, als ich sie atemlos darauf aufmerksam machte.
»Du hast echt’ne Golden-Retriever-Neurose«, meinte sie. Ich hörte kaum hin, so sehr nahm mich das Kostüm gefangen. Der Junge trug einen Overall aus goldbraunem Plüsch, samt Kopfteil mit den typischen Schlappohren. Dazu war das Gesicht in derselben Farbe geschminkt, mit dunkel umrandeten Augen und schwarzer Nase. Einfach süß! Doch bevor ich den Mut sammeln konnte, ihm zuzulächeln, war er in der Menge verschwunden.
Das gab der Karnevalsfete einen ganz neuen Prickel, denn ab jetzt hoffte ich, den Golden Retriever wiederzusehen. Aber das Schönste war, dass ich mich mit Pia versöhnt hatte und wir uns hier zusammen auf die Fete getraut hatten. Wen wir die ganze Zeit nicht sahen, waren Dominik und Nina. Und das war mir auch mehr als recht. So schaffte ich es, fast gar nicht an sie zu denken.
Irgendwann musste ich dann mal aufs Klo. Kein Wunder nach vier Gläsern Apfelschorle. Und als ich da so den Flur entlanglief in Richtung Mädchenklo, da sah ich am Schwarzen Brett einen Jungen sitzen, der ein bisschen aussah wie Dominik. Nur irgendwie nicht so nett. Er wirkte mit dem wuscheligen Blondhaar fast ein bisschen affig, wie ein zu sehr geföhnter Schauspieler. Und auch das Kostüm war nicht grade originell, er ging als Pirat, wie ja nun geschätzte 87 Prozent aller Jungs …
Ups. Der Junge war Dominik. Das erkannte ich, als ich näher an ihm dran war. So was passiert, wenn man aus Eitelkeit mit einer zu schwachen Brille rumläuft, ärgerte ich mich. Und nun war es zu spät, ich konnte nicht mehr ausweichen. Er hatte mich auch gesehen und erkannt und da stand ich auch schon vor ihm.
»Hallo«, sagte er.
»Hallo«, sagte ich und gewann damit den 1. Preis in der Kategorie »Schlaue Antwort«. Ich überlegte fieberhaft, was ich als Nächstes sagen könnte. Aber meine neu aufgetauchte Schlagfertigkeit funktionierte offenbar nicht bei einem Jungen, in den ich seit Jahren verliebt war. Stattdessen sagte Dominik was.
Er sagte: »Äh, ja, also … Da gab’s wohl letztes Mal ein Missverständnis … am Valentinstag … irgendwas mit Blumen … Aber da kann ich echt nichts für … äh … Ich hätte nie …« Er brach ab. Und ich führte seinen Satz in Gedanken zu Ende: »… so einer wie dir Rosen geschenkt.« Er sah mich an, als hätte er diesen Satz gerade wirklich gesagt. Dann holte er tief Luft und setzte schnell hinzu: »Wir können aber gern Freunde sein … Ich mein’ jetzt … so ganz normal.«
»Freunde sein.« - »Ganz normal.« Verdammt. Das sind doch Sprüche, die kein Mensch hören will! Die werden nur noch übertroffen von den Worten eines Arztes, wenn er sagt: »Sorry, Sie haben nur noch 3 Wochen zu leben.« Ich war noch mitten dabei, seine Worte 1. zu kapieren und 2. zu verkraften, und hatte darum bis jetzt auch noch nichts geantwortet, als schon der nächste Satz kam: »Kannst gern mal mitkommen, wenn wir von der SV was zusammen unternehmen.’ne kleine Radtour mit Picknick oder so. Machen wir ab und zu mal, im Sommer.« Und da endlich kapierte ich, was hier los war. Ich tat ihm leid. Oh Mann.
Ich sagte immer noch nichts. Stattdessen sah ich Dominik an. Zum ersten Mal genauer. Denn ich war ja vorher noch nie so lange so nah an ihm dran gewesen. Und auf diese Entfernung funktionierte meine Brille ganz wunderbar, ich sah alles vollkommen scharf. Und trotzdem … Irgendwas war anders. Dominik war nicht mehr die Lichtgestalt, die er vorher gewesen war. Er war ein ganz normaler Junge. Mit ziemlich affigen, allzu flauschigen Blondlocken und einem unoriginellen Kostüm. Und er bot mir aus Mitleid an, dass ich irgendwann mal mit zu einem SV-Picknick darf. Obwohl ich ja nicht mal SV-Mitglied bin.
Irgendwie regte sich in mir etwas. So was wie Stolz. Also das hatte ich nun nicht nötig. Nicht mal Annette-Super-Nerd hatte es nötig, von flauschig geföhnten Null-Acht-Fuffzehn-Piraten aus Mitleid auf SV-Picknicks geschleppt zu werden!
Und so richtete ich mich auf und rückte mein Krönchen zurecht. Man sollte öfter Krönchen tragen, das unterstützt das Selbstwertgefühl. Dann sagte ich: »Och nö, lass mal. Ich bin ja gar nicht in der SV. Bleibt ihr da mal schön unter euch.«
Und dann ging ich den Flur entlang zu den Mädchenklos.