18
»Uno, dos, tres, cuatro …«
Mechanisch bewegte Julia ihre Beine. Inzwischen beherrschte sie die Schritte im Schlaf und war erstaunt, was regelmäßige Übung bewirken konnte. Hätte sie das nur früher gewusst! Dann hätte sie den Italienischkurs weitergemacht, den sie mal angefangen hatte, den Kurs in Modern Dancing, die Gesangsstunden. Immer begann sie alles mit Feuereifer und brachte es dann nie zu Ende. Den Salsa-Kurs hatte sie nur gemacht, weil sie Kathrin und Nina nicht kränken wollte. Und siehe da, irgendwann würde sie Salsa tanzen können, obwohl sie es gar nicht hatte lernen wollen!
Am Ende der Stunde gab es wieder den obligatorischen Vortrag von Jorge. Julia staunte jedes Mal, wie viel er über Salsa zu sagen hatte. Es war so ähnlich wie bei Fußballern, die konnten auch stundenlang über ihren Sport reden, dabei fand Julia, dass es völlig genügte, wenn sie gut spielten und sonst die Klappe hielten. Aber so was durfte man natürlich nicht laut sagen, schon gar nicht in Anwesenheit von Fußballfans.
»Salsa ist Energie«, erklärte Jorge mit rollenden Augen. »Göttliche Energie! Salsa verbindet uns mit den Göttern. Wir erfreuen sie mit unserem Tanz, sie sind uns gnädig gestimmt und helfen uns, ein gutes Leben zu führen. Versteht ihr?«
Allgemeines Nicken in der Teilnehmerrunde. Amüsiert beobachtete Julia eines der Paare, das sich beim Tanzen immer leise stritt, weil beide glaubten, es besser zu können als der andere. Auch jetzt warfen sie sich Blicke zu, die zu sagen schienen: Siehst du, das habe ich dir doch schon immer gesagt, aber du wolltest es nicht glauben!
Julia fand, dass es Vorteile hatte, allein zu sein. Sie würde später keine Tanz- oder Golfkurse machen müssen, sondern in Ruhe auf ihrem Sofa sitzen und sich Serien reinziehen. Und dazu würde sie jede Menge Alkohol trinken und Chips und Flips und Nüsse essen, und es wäre völlig egal, ob sie dick werden würde.
Bald darauf saßen sie wieder an ihrem angestammten Tisch im Da Gino.
»Tutto bene, principesse?«, erkundigte sich Gino bei der Bestellung.
Das Nicken der Frauen fiel matt aus. Nina wirkte schon den ganzen Abend niedergeschlagen, Kathrin war ohnehin dauererschöpft, und Julia stand noch unter dem Eindruck ihres Besuchs bei Karl.
»La vita è come una donna bella«, erklärte Gino. »Desiderabile ma inaffidabile.«
»Was heißt das?«, erkundigte sich Julia.
»Das Leben ist wie eine schöne Frau«, übersetzte er. »Begehrenswert, aber nicht vertrauenswürdig.«
»Hallo?«, sagte Kathrin, als Gino außer Hörweite war. »Ist das nicht ein bisschen frauenfeindlich?«
»Nur wenn man sich zu den schönen Frauen zählt«, sagte Julia.
Kathrin verzog das Gesicht. »Was eine schöne Frau ist, bestimmen ja leider die Männer.«
Sie hatte einige Kilo zu viel, die sie nach außen hin selbstbewusst verteidigte, aber Julia wusste, dass sie damit haderte und ernsthaft glaubte, das Übergewicht sei schuld am Scheitern ihrer Ehe.
»Für wen wollen wir denn schön sein?«, ereiferte sich Kathrin weiter. »Doch nur für die Männer!«
»Um andere Frauen zu ärgern?«, schlug Nina vor.
»Dabei geht’s doch auch wieder um Männer«, sagte Kathrin. »Unsere ganze verdammte Welt dreht sich um das, was Männer wollen!«
»Das war doch nur ein blöder Spruch von Gino«, sagte Nina wegwerfend. »So was muss man doch nicht ernst nehmen.«
»So ist es immer«, sagte Kathrin. »Einer macht einen blöden Spruch, eigentlich sollte man was dagegenhalten, aber man lässt es bleiben, weil man nicht verkniffen wirken will.«
»Du hast recht«, sagte Julia. Sie winkte nach Gino, der eilfertig an den Tisch kam. »Sì, principessa?«
Julia lächelte ihn an. »Sag mal, Gino, wenn schöne Frauen nicht vertrauenswürdig sind, wie ist es dann mit schönen Männern?«
Gino grinste. »Schöne Männer gibt’s nicht. Und wenn, sind sie schwul.«
Nina prustete los, Julia verdrehte die Augen.
Kathrin schüttelte den Kopf. »Weißt du was, Gino?«, sagte sie. »Du bist ein hoffnungsloser Fall.«
»Sì, sì«, pflichtete er begeistert bei. »Das sagt meine Frau auch immer!«
Damit entschwand er. Die drei Frauen sahen sich an.
»Vielleicht ist Gino nicht der richtige Partner für den feministischen Diskurs«, sagte Julia.
»Themenwechsel«, befahl Nina. »Eine neue Folge aus der Serie Mein großartiges und total gelungenes Liebesleben. «
Sie erzählte, wie sie sich entschlossen hatte, ihrem Freund die Wahrheit über Karim zu sagen, Felix aber völlig anders reagiert hätte als erwartet.
»Er hat angefangen zu lachen, mich gepackt und im Kreis herumgewirbelt. Ich dachte, er ist verrückt geworden. Verrückt vor Schmerz.«
Dann hatte er ihr gestanden, dass er selbst eine Affäre habe. Er sei in die andere Frau verliebt und wolle sich von ihr, Nina, trennen. Er habe sich nur noch nicht getraut, es ihr zu sagen, weil er ihr nicht habe wehtun wollen.
»Aber dann ist doch alles gut«, sagte Julia.
»Nicht ganz«, gab Nina zurück und verzog das Gesicht. »Zwei Tage später hat Karim mit mir Schluss gemacht.«
»Nein!«
»Doch. Und wisst ihr, was ich herausgefunden habe?«
Zweifaches stummes Kopfschütteln.
»Dass er in Berlin eine Frau und zwei Kinder hat und irgendwo noch eine weitere Freundin. Und mir hat er weisgemacht, ich wär die Liebe seines Lebens …« Tränen schossen ihr in die Augen.
Kathrin streichelte ihr die Hand. »So ein Arsch«, sagte sie.
Julia beugte sich zu ihrer Freundin hinüber und nahm sie in den Arm. »Es tut mir so leid. Männer sind einfach … scheiße. Die meisten jedenfalls.«
Nina schniefte. »Danke. Ihr seid lieb.«
»Was willst du denn jetzt machen?«, wollte Kathrin wissen.
Nina putzte sich geräuschvoll die Nase. »Ich such mir eine Wohnung.«
»Ihr zwei könntet doch einfach zusammenziehen«, schlug Kathrin vor.
Julia und Nina blickten sich an, dann grinsten beide verlegen.
»War ein Scherz«, sagte Kathrin. »Nina, du kannst bei mir unterschlüpfen.«
»Was?«, protestierte Julia. »Ich dachte, da wohne ich schon?«
Kathrin zuckte die Schultern.
»Von mir aus könnt ihr beide einziehen. Eine ins Gästezimmer, eine aufs Sofa.«
Nachdem Ninas Unglück ausführlich besprochen worden war, erzählte Julia von ihrer Recherche, ihrem Besuch bei Karl und der irritierenden Entdeckung, die sie gemacht hatten.
»Er fährt zum Trekking nach Norwegen und nimmt seine Ausrüstung nicht mit?«, vergewisserte sich Kathrin.
»Genau«, sagte Julia.
»Vielleicht hat er sich eine neue gekauft«, sagte Nina.
»Wieso sollte er?«, sagte Julia. »Er hatte ja eine. Und das Zeug ist teuer.«
»Also … was schließt du daraus?«, fragte Kathrin vorsichtig.
»Dass er nie vorhatte, eine Trekkingtour zu machen«, sagte Julia.
»Aber … was hat er dann gemacht?«
Julia ließ ihre Hand auf die Tischplatte fallen. »Das ist die große Frage.«
Beklommenes Schweigen senkte sich über den Tisch.
Nina massierte ihre Schläfen. Kathrin fuhr abwesend mit dem Finger am Rand ihres Weinglases entlang. »Aber er musste doch damit rechnen, dass die Kisten gefunden werden«, sagte sie schließlich. »Und zwar viel früher, als es dann der Fall war.«
Julia nickte. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Entweder, es war ihm egal, oder … es ist eine falsche Spur.«
»Falsche Spur?«
»Ja«, sagte Julia. »Wenn er sich etwas angetan hat, war es ihm sicher egal, ob die Kisten gefunden werden oder nicht. Aber was, wenn er sie absichtlich zurückgelassen hat? Damit wir denken, er hätte sich etwas angetan, denn er hat ja vorher allen erzählt, dass er zum Trekking nach Norwegen fährt. In Wirklichkeit aber …« Sie brach ab und schluckte trocken. »… ist es vielleicht ganz anders.«
Kathrin runzelte die Stirn. »Und wie?«
Julia holte tief Luft. »Meine These klingt ziemlich abenteuerlich.«
»Lass hören«, sagte Nina.
»Es sieht so aus, dass mein Bruder damals in einer schlimmen Lage gewesen ist, ganz anders, als wir bisher angenommen haben. Deshalb ist mir der Gedanke gekommen, dass es vielleicht doch kein Unfall war. Aber wozu dann die Geschichte mit Norwegen? Die zurückgelassenen Trekkingsachen? Das ist alles nicht logisch. Vielleicht wollte er ja nur, dass es nach einem Suizid aussieht. Und in Wirklichkeit hat er sich … irgendwohin abgesetzt.«
»Abgesetzt?« Kathrin machte große Augen. »Kann man sich überhaupt noch absetzen? Man findet doch heute jeden, den man finden will.«
»Dafür müsste man nach ihm suchen«, erwiderte Julia. »Nach Robert wurde aber nicht gesucht. Alle dachten ja, er wäre in Norwegen ertrunken.«
»Du glaubst also …«, begann Nina.
»… dass er vielleicht noch lebt«, ergänzte Julia und sah ihre Freundinnen erwartungsvoll an.
»Sei mir nicht böse«, sagte Kathrin. »Aber traust du Robert so eine Inszenierung zu? Und dass er sich zwölf Jahre versteckt hält, ohne sich zu melden …«
»Und niemandem begegnet, der ihn erkennt?«, gab Nina zu bedenken.
»Ich weiß schon, das klingt total unwahrscheinlich«, sagte Julia. »Aber möglich wäre es doch.«
Kathrin sah sie mitfühlend an und nahm ihre Hand.
»Ich versteh dich, Julia. Du wünschst dir so sehr, dass Robert noch am Leben ist, und deshalb erscheint dir der Gedanke plausibel. Aber ganz ehrlich … das ist er nicht.«
»Ich glaube auch immer alles, was ich mir wünsche«, sagte Nina. »Aber das hat meistens mit der Wirklichkeit nichts zu tun.«
»Du hast doch neulich die Geschichte von dem Jungen in Belgien erzählt, der nach über zwanzig Jahren wiederaufgetaucht ist«, erinnerte Julia sie.
»Ich wollte dich trösten. Tut mir leid.«
Julia presste die Lippen zusammen und schwieg.
»Du solltest dir endlich professionelle Hilfe suchen«, sagte Kathrin eindringlich. »Merkst du nicht, dass diese Sache allmählich dein Leben zerstört?«
In Boston war es halb elf Uhr vormittags, eine Zeit, wo sogar die hippsten Jungs und Mädels allmählich in ihren Co-Working-Spaces eingetroffen sein sollten. Julia wählte die Nummer der Biotech-Firma, in der Höger gearbeitet hatte. Der typische Klingelton eines amerikanischen Telefonanschlusses ertönte.
»Biogen Future, Linda speaking. How can I help you?«
Julia stellte sich als deutsche Journalistin vor, die eine Recherche durchführe und ein paar Fragen bezüglich eines ehemaligen Mitarbeiters habe. Linda fühlte sich nicht zuständig und verband sie mit einem anderen Mitarbeiter.
»Hi, I’m Brian. How can I help you?«
Julia erklärte erneut ihr Anliegen. Als sie den Namen Jens Höger genannt hatte, blieb es in der Leitung still.
»So, you’re asking about Jens«, sagte Brian schließlich. »Well …«
»Right, Jens Höger«, wiederholte Julia. »I just wanted to know what kind of employee he was.«
»Well«, sagte Brian. »Let’s say … we had some issues with Jens.«
Es hatte Probleme mit ihm gegeben? Welche Art von Problemen?
Julia fragte nach. Plötzlich wurde Brian misstrauisch und wollte wissen, ob sie sich ihm gegenüber ausweisen könne. Julia ließ sich seine E-Mail-Adresse geben und mailte ihm einen Scan ihres Journalistenausweises und den Link zu Gesundheit heute.
Sie hörte das Signal, das die Ankunft ihrer E-Mail anzeigte, durchs Telefon.
»Thank you«, sagte Brian nach ein paar Sekunden. »This seems to be okay. So please tell me what your research is about.«
Julia erzählte Brian wahrheitsgemäß, worum es ging. Sie hatte nichts zu verlieren. Sollte er noch Kontakt zu Höger haben, würde er ihn informieren, aber das änderte nichts an der Situation.
»I see«, sagte Brian während ihrer Ausführungen mehrfach. »I see.«
Dann berichtete er, dass Höger ein hervorragender Mitarbeiter gewesen sei, der es leider gelegentlich am nötigen Respekt Frauen gegenüber habe fehlen lassen. Anfangs sei er unauffällig gewesen, aber je höher er in der Firmenhierarchie gestiegen sei, desto häufiger habe es Gerüchte und schließlich Beschwerden gegeben. In Amerika sei man sehr empfindlich, was sexual harassment betreffe, daher sei Höger irgendwann nicht mehr tragbar gewesen.
Vorsichtig fragte Julia, ob sie Brian in ihrem Artikel zitieren dürfe. Er zögerte. Schließlich willigte er ein, allerdings wollte er nicht namentlich genannt werden. Sie könne ihn als Kollegen, der lange mit Jens zusammengearbeitet habe, bezeichnen.
Ihr genügte, dass sie seinen Namen und die E-Mail-Adresse hatte. Sollte Chris Zweifel an Brians Statement haben, könnte er es jederzeit überprüfen.
Sie traf Höger im selben Café wie beim ersten Mal. Er hatte vorgeschlagen, sie solle ins Institut kommen, aber Julia wollte nicht allein mit ihm sein. Ohne weitere Erklärung hatte sie ihn darum gebeten, sich wieder im Café zu treffen – und dabei offengelassen, um welche Art Treffen es sich handelte. Sie ging davon aus, dass er inzwischen wusste, zu welchem Thema sie tatsächlich recherchierte.
Er war bereits da und saß am selben Tisch wie beim ersten Mal. Julia hatte diesmal darauf verzichtet, sich als Tusse zu verkleiden, sie trug Jeans und Turnschuhe.
Er erhob sich und küsste sie rechts und links auf die Wangen. Überrumpelt stand sie da und ließ es geschehen. Wieder rückte er ihr den Stuhl zurecht; sie setzte sich und musterte ihn verstohlen. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts.
»Jetzt bin ich aber neugierig«, sagte er und setzte sich breitbeinig hin. »Ist das ein Interview? Oder ein Date?«
»Was denkst du?«, fragte sie.
Die Anziehung, die Höger auf sie ausgeübt hatte, war heftigem Abscheu gewichen. Wie hatte sie nur auf diese glatt polierte Fassade reinfallen können?
»Ich nehme an, du wolltest mich wiedersehen.« Er griff in seine Tasche und holte den Strumpf heraus, den sie bei ihm hatte liegen lassen.
»Und wieso sollte ich das wollen?«, fragte sie kühl.
»Weil ich so ein netter Junge bin?«
Grinsend ließ er den Strumpf vor ihrem Gesicht hin und her baumeln.
Julia schnappte danach und steckte ihn kommentarlos ein. Dann legte sie das Handy mit eingeschalteter Aufnahmefunktion auf den Tisch.
»Wieso hast du behauptet, dass du meinen Bruder nicht kanntest?«
Sein Lächeln verschwand. Spätestens jetzt musste ihm klar sein, dass sie von seiner Lüge wusste.
»Ich war damals nur ein halbes Jahr am JLI, und das ist ewig her. Da merkt man sich doch nicht jeden Namen.«
»Wieso eigentlich nur so kurz?«
»Weil ich ein Angebot aus den USA bekam.«
Er setzte sich noch breitbeiniger hin und musterte sie mit geradezu aufreizender Gelassenheit. Offenbar fühlte er sich völlig sicher.
»Ist es nicht ungewöhnlich, eine Postdocstelle nach so kurzer Zeit zu verlassen?«
Er zuckte die Schultern. »Kann sein. Kommt trotzdem vor.«
Der Kellner trat an den Tisch. Höger fragte, was sie trinken wolle, und gab ihren Wunsch weiter. Es sollte höflich aussehen, aber Julia begriff, dass es eine Dominanzgeste war. Sie schluckte eine Bemerkung hinunter.
»Wieso steht eigentlich nirgends, dass du damals schon mal am Institut warst?«, fragte sie, als der Kellner weg war. »Nicht bei Facebook, nicht auf der Institutsseite. Ich musste lange suchen, bis ich die Info gefunden habe.«
»Wow!«, rief er aus. »So viel Zeit und Mühe, nur um mich besser kennenzulernen! Du hättest mich auch einfach fragen können, ich hätte es dir gern erzählt.«
Zwei junge Frauen am Nebentisch blickten interessiert zu Höger hinüber. Julia beobachtete, wie er ihnen zulächelte. Sie senkte die Stimme, um zu verhindern, dass die beiden mithören konnten.
»Erinnerst du dich an Yema?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wer soll das sein?«
»Sie war damals Doktorandin und hat sich das Leben genommen, weil sie monatelang sexuellen Übergriffen ausgesetzt war. Durch dich, wie es aussieht.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Nun, bei der Anzahl von Frauen, die du belästigt hast, kann man tatsächlich den Überblick verlieren«, sagte Julia schneidend. »Yema hat jedenfalls keinen Ausweg mehr gesehen und sich mit Unkrautvernichtungsmittel vergiftet. Um möglichen Nachforschungen aus dem Weg zu gehen, hast du das Institut überstürzt verlassen und bist nach Amerika gegangen. Und hast die fragliche Periode in deiner Vita systematisch unterschlagen.«
Er lachte auf. »Was für eine Fantasie! Du solltest Romane schreiben.«
»Erst schreibe ich meinen Artikel über das Institut zu Ende. Ich nehme an, Professor Dettmer hat dich von meinem Besuch in Kenntnis gesetzt?«
Höger blickte demonstrativ gelangweilt. »Er hat was erwähnt.«
Seine Strategie war offensichtlich. Er ließ sich auf nichts ein, konterte alles, was sie sagte, mit ironischen Bemerkungen und zog es ins Lächerliche. Sie musste ihn dazu kriegen, etwas Verwertbares von sich zu geben. Unauffällig tippte sie auf ihr Handy, um zu kontrollieren, ob die Tonaufnahme noch lief.
»Du hast deinen Job in Boston wegen sexueller Übergriffe verloren, und seit du zurück bist, belästigst du wieder Frauen am Institut«, fuhr sie fort. »Ich weiß noch nicht, wie viele es sind, aber zwei Aussagen habe ich bereits. Und es werden wohl noch mehr.«
»Wenn du derartige Behauptungen über mich veröffentlichst, sehen wir uns vor Gericht«, sagte Höger. »Das ist Rufmord.«
Sie lächelte maliziös. »Ich habe eidesstattliche Versicherungen von zwei Frauen vorliegen.«
In Sekundenschnelle ging eine erschreckende Verwandlung mit Höger vor sich. Das Lächeln verschwand, und sein Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. Bis zu diesem Moment hatte Julia immer noch Schwierigkeiten gehabt, die geschilderten Übergriffe mit ihm in Verbindung zu bringen. Nun konnte sie sich plötzlich genau vorstellen, wie er einer Frau seinen Willen gewaltsam aufzwang.
»Du bist so durchschaubar«, sagte er verächtlich. »Erst wirfst du dich mir an den Hals, und weil ich nicht interessiert bin, versuchst du, mir eins reinzuwürgen.«
Julia lachte auf. »Der Mythos von der rachsüchtigen Frau wird am häufigsten bemüht, um den Vorwurf sexueller Übergriffe zurückzuweisen«, sagte sie. »Wenn jemand durchschaubar ist, dann du.«
»Das wird sich zeigen.«
Julia blieb ganz ruhig. »Wenn zwei oder mehr Frauen vor Gericht gegen dich aussagen, dürfte es schwierig werden, dich als Opfer eines Rachefeldzugs darzustellen.«
Högers Kiefermuskulatur arbeitete. Julia beglückwünschte sich zu ihrem Entschluss, ihn in der Öffentlichkeit zu treffen. Wäre sie allein mit ihm, würde sie jetzt Angst bekommen.
Dass betroffene Frauen vor Gericht gegen Höger aussagen würden, war bisher nur ein Wunschtraum. Noch waren ihre Informantinnen nicht mal bereit, für den Artikel ihren Namen preiszugeben. Aber das musste Höger ja nicht wissen. Er sollte ruhig das Gefühl haben, in Bedrängnis zu sein.
Nun wechselte er ganz unvermittelt die Taktik.
»Komm schon, Julia«, sagte er. »Du bist eine vernünftige Frau. Du weißt, wie so was läuft. Man flirtet, man gefällt sich, man geht ein Bier trinken. Manchmal entsteht was daraus, manchmal nicht. Die jungen Dinger am Institut neigen zum Schwärmen, und wenn sie nicht kriegen, was sie wollen, werden sie unfair.«
»So wie ich?«, sagte Julia spitz.
»Sorry, das war blöd von mir, und ich nehme es zurück«, sagte er mit gespieltem Bedauern. »Ich schwöre dir, wenn ich was mit einer Studentin hatte, war es immer einvernehmlich.«
Er wollte seine Hand auf ihre legen, aber sie zog sie weg. »Schwören kannst du ja dann vor Gericht.«
Einen Moment lang belauerten sie sich gegenseitig wie zwei Raubkatzen vor dem Angriff. Plötzlich schnappte er sich ihr Handy und tippte schnell darauf herum.
Sie schrie auf.
Die Blicke der anderen Gäste flogen in ihre Richtung.
Mit einem triumphierenden Lächeln warf er das Telefon zurück auf den Tisch. Julia griff danach und blickte aufs Display. Die Aufnahme war gelöscht.
Höger zog einen Zwanzigeuroschein aus der Brieftasche und legte ihn auf den Tisch.
»Ich darf dich doch einladen?«
Dann stand er auf, lächelte den beiden Frauen am Nebentisch zu und verließ das Café.
Julia sank auf den Stuhl zurück.