Castle House,
Muirinish,
West Cork
11. Februar 1974
Liebe Patricia,
ich wollte mich herzlichst bei Dir dafür bedanken, dass Du uns in Castle House besucht hast. Ich hoffe, Du bist gut nach Hause gekommen und die Reise war nicht allzu langweilig. Ich weiß, dass ich beim Autofahren sehr still werde. Ich glaube, es liegt halb an meinen Nerven und halb daran, dass ich sichergehen will, mit solch kostbarer Fracht keinen Unfall zu bauen.
Es hat mir echte Freude bereitet, Dir den Hof zu zeigen und alles durch Deine Augen zu sehen. Manchmal vergesse ich, wie schön es hier ist mit dem Meer vor unserer Haustür. Mam möchte, dass ich Dir sage, wie sehr auch sie sich gefreut hat, Dich kennenzulernen. Seit Deinem Besuch hat sie kaum von etwas anderem gesprochen. Haben Deine Ohren gebrannt?
Ich habe so viel an Dich gedacht, seit Du weg bist. Es klingt albern, das weiß ich, aber ich vermisse Dich. Die Minuten, in denen wir zusammen in der alten Ruine Schutz gesucht haben, gehen mir nicht aus dem Kopf. Die Erinnerung, wie ich Dich im Arm hatte und wie weich Du Dich in meiner Hand angefühlt hast, kehrt immer wieder. Ich weiß, dass ich vermutlich für keine Frau der Mann ihrer Träume bin, aber ich kann Dir versichern, dass Du die Frau meiner Träume bist.
Wann, glaubst Du, kannst Du uns wieder besuchen? Der Gedanke daran, Dich wiederzusehen, ist das Einzige, was mich diese dunklen, kalten Morgen ertragen lässt. Lass uns eine neue Reise so bald wie möglich planen. Ich will Dich so sehr berühren und meine Lippen auf Deine legen, dass es weh tut.
Ich habe solche Gefühle noch nie zuvor gehabt. Bitte schreibe bald zurück.
Mit wärmsten Grüßen
Edward
Patricia wusste nicht, was sie denken sollte, als sie den Brief zu Ende gelesen hatte. Die Dinge, über die er sprach, waren geschehen, doch er hatte sie so völlig anders wahrgenommen als sie. Auf jede blitzartige Verbindung zwischen ihnen, einen scheuen Blick oder eine aus Versehen berührte Hand kamen Stunden, in denen Edward ihre Existenz gar nicht wahrzunehmen schien. Sie hatte von dem Wochenende hauptsächlich in Erinnerung, dass sie es mit Edwards Mutter oder im Gästezimmer versteckt verbracht hatte. Ihr war klar, dass sie mit Männern wenig Erfahrung hatte, aber bestimmt verhielten sie sich nicht alle so verwirrend wie dieser. Dann fragte sie sich, ob sie wohl ungerecht war oder ob ihre Erwartungen zu hoch waren. Sie hatte haarsträubende Geschichten über Männer gelesen, und immerhin war Edward süß und hatte nicht versucht, seine Finger in ihre Unterhose zu stecken. Das taten manche Kerle, hatte sie gehört, in der Sekunde, in der man sich von ihnen küssen ließ. Patricia faltete den Brief zusammen und legte ihn auf den kleinen Stapel mit den anderen. Sie würde ihm zurückschreiben, ihn aber nicht ermutigen. Edward Foley, beschloss sie, war nicht der richtige Mann für sie.
Am nächsten Tag, einem Donnerstag, nutzte Patricia das trockene Wetter, um ein paar Sachen an der Wäscheleine zwischen den Mauern des kleinen Gartens hinter dem Haus aufzuhängen. Die Türglocke unterbrach ihre Arbeit. Sie eilte nach vorne, noch immer mit ein paar Wäscheklammern im Mund. Patricia öffnete die Tür und stand einem schlanken Mann mit fettigen Haaren gegenüber, der beinahe von dem größten Blumenstrauß verdeckt wurde, den sie jenseits von Trauerzügen je gesehen hatte.
«Patricia Keane?»
«Ja», antwortete sie, und die Wäscheklammern fielen zu Boden. Sie ertappte sich dabei, wie sie vor der riesigen Menge roter und weißer Blüten zurückwich.
«Die sind für Sie», sagte der Mann und schob ihr den Strauß in die Arme.
Sie versuchte zu protestieren. «Aber von wem sind sie?»
«Ist eine Karte dabei.» Der Mann war bereits auf dem Weg zurück zu seinem Lieferwagen, auf dem ein riesiges Interflora-Logo prangte.
Patricias Hände zitterten vor Aufregung, als sie das Kärtchen aus dem niedlichen Umschlag zog.
«Alles Gute zum Valentinstag, Einsame Lady aus Leinster, von Ihrem Bewunderer aus Munster!»
Es war Valentinstag! Patricia hatte das vollkommen vergessen. Sie hatte in ihrem Leben zwei Valentinskarten erhalten, beide von ihrem Onkel, nachdem ihr Vater gestorben war. Als ihre Mutter herausfand, wer sie ihr geschickt hatte, bat sie ihn, damit aufzuhören, und das tat er. Nun hielt sie einen mächtigen Blumenstrauß von einem echten Mann in den Händen, der echte Gefühl für sie hatte. Der Geruch der Blumen erfüllte die ganze Diele, und ihr süßer, frischer Duft vertrieb all ihre negativen Gedanken. Sie war keine alte Jungfer. Sie war eine Frau, die von einem Mann begehrt wurde. Er war nicht perfekt, na ja, er war weit davon entfernt, perfekt zu sein, aber er war freundlich und fleißig, und er hatte ihr Blumen geschickt!
Patricia wusste, dass es dumm von ihr war, aber über die nächsten Tage nahm ihre Vorstellung von ihrem wundervollen Freund immer mehr Gestalt an. Die alte Mrs. Curtain hatte den Lieferwagen von Interflora gesehen und fragte sie nach ihrem geheimen Verehrer. Rosemary hatte gekreischt wie ein Vogel, als sie das ehrfurchtgebietende Blumenarrangement auf dem unbenutzten Tisch im Esszimmer ausgestellt sah. Selbst ihre Schwägerin Gillian hatte von der Lieferung gehört und sie nach ihrem «Liebesleben» gefragt. Nach all den Jahren, in denen sie zugesehen hatte, wie die anderen Mädchen mit ihren Freunden herumstolzierten, mit ihren Verlobungsringen angaben, Kinderwagen schoben, hatte Patricia nun das Gefühl, endlich auch ihrem exklusiven Club anzugehören. Sie hatte einen Mann! Obwohl sie sich wiederholt selbst daran zu erinnern versuchte, wer dieser Mann war und was für Unzulänglichkeiten er aufwies, stellte sie fest, dass sie Gefühle entwickelte, wenn schon nicht für ihn, dann für die Vorstellung, jemandes Freundin zu sein.
Als sie ihm schrieb, um ihm für die Blumen zu danken, zog sie keinen Schlussstrich unter sein Liebeswerben. Sie sagte ihm, wie sehr sie ihr Wochenende genossen habe. Der Stift schien auch die Worte zu formen, die ihm mitteilten, dass sie tatsächlich gerne wiederkommen und ihn noch einmal besuchen würde. Als sie den Umschlag ableckte, fragte sie sich, ob es diesmal anders sein würde.
In seinen letzten paar Briefen schien Edward jedenfalls zu einer neuen Offenheit gefunden zu haben. Er sprach direkt aus, wie sehr er sich körperlich nach ihr sehnte, und Patricia stellte fest, dass sie, als sie die Worte las, sein Begehren teilte. Er versprach ihr, gesprächiger zu werden, und schrieb, er plane ein paar kurze Tagesausflüge, damit sie Zeit zu zweit verbringen konnten.
Als sie dieses Mal im Zug saß, weigerte sich Patricia, auf ihre Zweifel zu hören. Edward würde anders sein, und sie würden ab jetzt unverkrampft miteinander umgehen. Sie wickelte ihr Käse-Schinken-Sandwich aus der Folie und verspeiste es mit Appetit. Sie kam sich vor wie eine Frau, die den Code entschlüsselt hatte.
Die Anzeichen dafür waren schwer zu erkennen, denn er brachte seine Mutter mit zum Bahnhof.
«Unsere Nachbarin Mrs. Maloney ist seit Wochen im Mercy-Krankenhaus. Tests und noch mehr Tests. Sie wissen noch immer nicht, was mit der armen Frau nicht stimmt. Die Familie hat es kaum geschafft, sie zu besuchen, also dachte ich, wenn Teddy schon herfährt, nutze ich das aus. Ich glaube, sie hat sich sehr gefreut, jemanden von zu Hause zu sehen. Allein wegen all der Neuigkeiten …»
Mrs. Foleys unbarmherzig vorrückende Armee aus Wörtern machte jede Möglichkeit zunichte, ein Gespräch mit Edward zu führen, also saß Patricia geduldig mit ihrem beigen Koffer auf der Rückbank.
«Macht es Ihnen etwas aus? Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Wenn ich hinten sitze, wird mir furchtbar schlecht. Vorne geht es, nicht wahr, Teddy?»
Wieder hieß der Wind sie in Muirinish willkommen. Die drei gingen hintereinander vom Auto zur Hintertür; ihre Mäntel und Schals flatterten wie Wäschestücke an der Leine im Wind. Patricia war beeindruckt davon, wie Edwards Mutter mit großen Schritten durch den Sturm stapfte, anscheinend ungerührt von seiner Macht. Als sie im Haus waren, verschwand Edward beinahe augenblicklich. «Das Melken, ich sollte …» Er sah Patricia an, und sie hatte das Gefühl, als wollte er mehr sagen, aber bevor sie das Wort ergreifen konnte, war er schon fort.
«So, Sie wollen sich vermutlich einrichten. Ich habe Sie wieder in demselben kleinen Zimmer nach vorn hinaus untergebracht. Brauchen Sie Hilfe mit Ihrem Koffer? Natürlich, er ist ja leicht. Sie werden prima zurechtkommen. Gehen Sie nur hoch.» Edwards Mutter begleitete Patricia aus dem Zimmer, und sie stieg die knarzende Treppe hinauf. Das Haus wirkte düsterer als zuvor, und nun, da sie allein war, erschien ihr das Heulen des Sturms draußen lauter, als sie es in Erinnerung hatte. Auf dem Treppenabsatz oben sah sie sich in der Dunkelheit um. Fünf Türen. Eine führte zum Bad, das sogar noch kälter und feuchter war als ihres in Convent Hill. Die mittlere Tür vor ihr gehörte zu ihrem kleinen Zimmer mit dem Einzelbett und dem hohen, schmalen Fenster hinaus aufs Meer. Sie fragte sich, was sich wohl hinter den anderen dreien befand. Sie war sich nicht einmal sicher, in welchem Zimmer Edward schlief und welches seiner Mutter gehörte. Von außen sah das Haus viel größer aus. Führte eine der Türen zu einem Flur mit weiteren Zimmern? Sie öffnete ihre Tür und schaltete das Licht ein. Der Lampenschirm mit Fransen warf einen großen Schatten ins Zimmer. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und ihr glänzend goldener Stoff bewegte sich leicht neben dem Fenster, das unter dem Ansturm der Elemente erzitterte. Von draußen ertönten die klagenden Schreie der Möwen, die hoch über das Haus getrieben wurden. Sie setzte sich, noch im Mantel, auf das Bett. Ein banges Gefühl hatte ihren Optimismus vom Morgen ersetzt. Es würde ein weiteres Wochenende voll unbehaglichem Schweigen werden. Sie seufzte und hob ihren Koffer aufs Bett.
Sie öffnete ihn und griff nach ihrem Toilettenbeutel. Wie so vieles andere in ihrem Leben hatte er ihrer Mutter gehört. Sie erinnerte sich noch an den Tag, an dem sie ihn gekauft hatten. Sie beide waren bei Deasy’s, der Drogerie, gewesen, in der Abteilung rechts von der Tür, wo sie sonst nur vor Weihnachten hingingen, um feine Seifen oder Badesalz zu kaufen. Ihre Mutter hatte den Beutel wegen des Schmetterlings und der Kornblume darauf ausgesucht. «Das wird mich bestimmt aufheitern, wenn ich im Krankenhaus bin.» Es war eine ungewöhnlich optimistische Bemerkung für ihre Mutter, deswegen erinnerte sich Patricia vermutlich daran. Sie griff nach Zahnbürste und Zahnpasta, um sich frisch zu machen, bevor sie wieder nach unten ging, doch der kleine Beutel rutschte vom Bett auf den Boden. Patricia beugte sich hinunter, um ihn aufzuheben, und dabei bemerkte sie etwas unter dem Bett. Was war das? Der Gegenstand war gerade eben außerhalb ihrer Reichweite, und sie musste sich flach auf den Bauch legen, um ihn zu fassen zu bekommen. Als sie von unter dem Bett wiederauftauchte, schaute sie auf ihre Hand hinunter und starrte sie einen Augenblick an. Es war etwas so Vertrautes, und trotzdem waren so viele Jahre vergangen, seit sie so etwas gesehen, geschweige denn in der Hand gehalten hatte. Ein Babyschnuller. Ein Beruhigungssauger. Rosa Plastik, der Kautschuk des Saugers hatte sich noch nicht aufgelöst. Er konnte hier noch nicht lange herumgelegen haben. Sie würde Edward danach fragen. Immerhin war das etwas, worüber sie reden konnten.
Unten standen zusammengewürfelte Töpfe auf dem AGA-Herd, Dampf stieg zur Decke auf, aber es gab keine Spur von Edward oder Mrs. Foley. Patricia war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Sie hasste die heikle Situation, Gast zu sein. Durch das Fenster sah sie aus der Tür eines der Nebengebäude ein Licht scheinen und einen Schatten, der sich bewegte. Vielleicht konnte sie ja bei irgendetwas helfen, statt nur herumzusitzen und darauf zu warten, dass sie zu essen bekam. Sie wollte ihrer Gastgeberin nicht den Eindruck vermitteln, sie sei faul.
Draußen war der Wind so stark, dass sie auflachen musste. Irgendwo in der Ferne hatte sich eine Tür oder ein Fensterladen gelöst und schlug nun polternd auf und zu. Patricia bahnte sich ihren Weg über den Hof und versuchte mit einer Hand, ihr Haar unter Kontrolle zu halten und mit der anderen zu verhindern, dass ihr Rock nach oben flog. Sie konnte Mrs. Foleys Rücken sehen und ein paar Hühner, die auf dem schmutzigen Boden um sie herum pickten. Plötzlich weit ausgebreitete Flügel, und Patricia begriff, dass die alte Frau einen der Vögel an den Füßen hochhielt. Beinahe bevor sie verstand, was vor sich ging, packte Mrs. Foley den Hals des Huhns und drehte ihn kräftig um. Das Gegacker hörte sofort auf, und der Hals hing schlaff herab, aber die Flügel brauchten etwas länger, um zu begreifen, dass jede Hoffnung auf Flucht erloschen war. Die anderen Hühner kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten und schienen sich der Tatsache nicht bewusst, dass eines aus ihrer Mitte auf grausige Art das Zeitliche gesegnet hatte. Patricia stand draußen vor der Tür und fragte sich, wie sie Mrs. Foley auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen sollte, da klatschte die alte Dame den Vogel auf die raue Bank vor sich und schnitt ihm mit einem großen Messer brutal den Kopf ab. Die Gewalttätigkeit der Handlung ließ Patricia nach Luft schnappen.
Mrs. Foley drehte sich um und hielt den kopflosen Leichnam an den Füßen hoch. Der rote Saft dampfte und tropfte geräuschvoll in einen bereitstehenden Eimer.
«Oh, da sind Sie ja», sagte sie anstelle einer Begrüßung.
«Ja.» Patricia fragte sich, ob sie diese schauderhafte Szene vielleicht hatte sehen sollen. Wie um das zu bestätigen, hob Mrs. Foley abwesend ihre freie Hand und leckte das tropfende Blut davon ab. Etwas in Patricias Magen verschob sich.
«Damit wäre der Sonntagsbraten im Topf», sagte Mrs. Foley und hob den Vogel mit einem Lächeln in die Höhe, doch Patricia konnte nur das Blut auf ihren Zähnen sehen.
Wieder im Haus verschwand Mrs. Foley mit dem toten Huhn, und als sie wiederauftauchte, sah sie prüfend in die Töpfe und stocherte mit einem abgenutzten Holzlöffel darin herum. Patricia blieb neben der Tür stehen, sie war sich nicht sicher, ob sie sich setzen sollte oder nicht.
«Ich habe Teddy gesagt, es dauert noch ein Weilchen, bis es Essen gibt, also vielleicht nimmt er Sie noch auf ein Getränk mit zu Carey’s. Ich habe keinen Alkohol im Haus. Ich und Teddy trinken nie welchen. Weihnachten vielleicht. Mal einen Sherry. Ich habe ihm gesagt, es wäre doch nett, wenn er Sie ausführen würde. Ihnen den Ort zeigen. Es ist ein netter kleiner Pub, sogar mit einer Lounge Bar. Einigermaßen ruhig. Man würde dadrin niemals in Schwierigkeiten geraten. Nicht wie in einem Pub in der Stadt. Ich vermute, Sie gehen in Buncarragh nie in den Pub, oder?» Patricia schüttelte den Kopf, sie hütete sich, Catherine Foleys Monolog zu unterbrechen, aber ihre Gastgeberin fragte hartnäckig nach. «Haben Sie zu Hause viele Freunde?» Die Tatsache, dass sie zum Luft holen eine Pause machte, legte nahe, dass tatsächlich eine Antwort vonnöten war.
«Nein. Eigentlich nicht. Ich konnte nicht allzu viel ausgehen, als ich meine Mutter gepflegt habe.»
«Natürlich, natürlich. Aber Sie haben doch Familie, nicht? Wie geht es Ihrem Bruder? Geht es ihnen allen gut?»
«Ja, danke. Es geht allen gut.» Patricia kam sich vor wie eine Betrügerin, wenn sie von Jerry und Gillian sprach, als seien sie eine große glückliche Familie.
Mrs. Foley hatte mitten im Rühren innegehalten und starrte Patricia an. Anscheinend benötigte sie eine ausführlichere Antwort.
«Wir stehen uns nicht so sehr nah. Es gab ein paar Meinungsverschiedenheiten über das Testament meiner Mutter», gestand sie.
Die alte Frau nickte mitfühlend. «Das ist aber traurig. Kommt natürlich häufig vor. Kommt häufig vor.»
Als Edward vom Melken zurückkam, trug er ein frisches Hemd mit Pullover, und sein Haar war aus dem Gesicht gekämmt. Bevor er den Mund öffnen konnte, erklärte seine Mutter, sie habe Patricia bereits alles über den Ausflug in den Pub erzählt, und scheuchte die beiden jungen Leute zur Tür.
Draußen mussten sie sich gegen den Wind stemmen.
«Ist es ein langer Spaziergang?», fragte Patricia und hoffte inständig, dass dem nicht so war.
«Ein bisschen zu weit, würde ich sagen. Wir nehmen das Auto.»
Als sie nebeneinander in der Dunkelheit saßen und die schmalen Lichtkegel der Scheinwerfer einen leuchtenden Tunnel auf die vor ihnen liegende Straße warfen, fühlte sich Elizabeth besser. Jetzt waren sie zu zweit. Sie sah Edward an. Sein Profil sah, beleuchtet von den Anzeigen des Armaturenbretts, kräftig und attraktiv aus. Sie mochte die Falten um seine Augen, die von den langen Jahren sprachen, in denen er die Augen gegen die Winterstürme und die Sommersonne zusammen gekniffen hatte. Sein stoppeliges Kinn, das in das weiche Rosa seiner Lippen überging, ließ sie in ihrem Sitz herumrutschen, beinahe verlegen.
«Ich bin froh, dass ich wieder hergekommen bin.»
«Ich auch.»
Ein kurzes Schweigen, dann war es Edward, der fortfuhr. «Tut mir leid mit meiner Mutter. Ich glaube, sie ist einfach so froh, dass sie jemanden hat, mit dem sie reden kann.»
«Sie ist eine beeindruckende Person. Es war nett von ihr vorzuschlagen, dass wir ausgehen sollen.»
«Ja.»
Der Wagen kurvte durch enge Straßen. Patricia verlor schnell jede Orientierung. Sie waren hinter dem Tor von Castle House rechts abgebogen, weg von dem Feldweg, der durch das Marschland führte, aber danach durchquerten sie in Richtung Landesinneres einen Irrgarten von vollkommen identisch aussehenden Hecken und Gräben. Nach nicht allzu langer Zeit wurde der Wagen bei der Anfahrt auf eine Kreuzung langsamer, und ganz unerwartet tauchte ein kleines, mit Stein verkleidetes Haus auf, in dem sich der Pub befand. Das Licht aus den beiden großen Fenstern rechts und links der Tür fiel auf einen kiesbedeckten Vorplatz mit einer einsamen Tanksäule und mehreren geparkten Autos.
Der Innenraum war zweigeteilt. Auf der einen Seite führte eine lange Bar mit hölzernen Hockern auf einen gemauerten Kamin zu, während auf der anderen Seite niedrige Tische und kleine gepolsterte Sessel vor eine lange, mit dunkelgrünem Vinyl bezogene Fensterbank geschoben waren. Ein Barkeeper, der gerade das Alter hinter sich gelassen hatte, in dem man ihn als jung beschrieben hätte, stand über eine Zeitung gebeugt. Zwei alte Männer mit flachen Kappen auf den Köpfen saßen am Ende der Bar in der Nähe des kümmerlichen Feuers vor ihren Gläsern mit Stout. Alle drei blickten auf, als die beiden hereinkamen.
«Teddyboy», sagte der Barkeeper zu Begrüßung und trat beflissen von der Theke zurück.
«Andy. Geht’s gut?»
«Ja. Das Wetter ist ganz schön schlimm heute Abend.»
«Ist es. Ist es.»
«Was kann ich euch bringen?»
Patricia spürte drei Augenpaare auf sich gerichtet. Sie ging selten in Pubs, im Grunde nie, auch nicht in welche, die mit einer Lounge Bar aufwarten konnten, und sie hatte keinerlei Ahnung, was sie trinken sollte. Sie spürte, wie ein Funken Panik in ihr aufkeimte.
«Ein Pint Murphy’s», bestellte Edward und sah dann Patricia an. Ihre Augen zuckten die Bar entlang. Sie versuchte sich an die Namen von Drinks zu erinnern. «Ich hätte gern einen …», sagte sie und versuchte wie eine Frau zu wirken, die sich für diesen Abend zwischen den vielen Drinks entschied, die sie mochte. In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf das Plakat mit dem kleinen Reh darauf hinter der Bar. Die Werbung war auch im Fernsehen zu sehen. «Einen Piccolo, bitte!»
Edward sah sie ein wenig unsicher an. «Und einen Piccolo, bitte.»
Der Barkeeper blickte hinter sich auf das Bild des kleinen Rehs, das auf Sternen tanzte. «Einen Piccolo, ja? Na gut, ich schaue mal nach.»
Patricia hörte, wie die alten Männer kicherten und das Wort «Piccolo» murmelten. Sie ärgerte sich plötzlich. Das Plakat hing an der Wand, und im Fernsehen wurde darüber berichtet. Es war ja nicht so, als hätte sie einen Becher Tee bestellt, den sie viel lieber gehabt hätte.
Edward führte Patricia zu den niedrigen Tischen hinüber, zog von einem einen Sessel zurück und fragte sie, ob sie sich setzen wolle. Als sie sich daraufsinken ließ, drückte ihr Gewicht Luft aus einem Loch irgendwo in dem Vinyl. Ein langer, hoher Furzlaut erfüllte den Raum. Edward tat so, als hätte er ihn nicht gehört, aber die beiden Alten an der Bar schüttelte es so sehr, dass sie von ihren Barhockern zu fallen drohten. Patricia strich sich den Rock glatt.
Der Barkeeper erschien und knallte eine kleine Flasche und ein Glas mit Piccolo-Logo auf das Tischchen.
«Für die Dame.»
«Danke.» Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
«Das Murphy’s ist in einer Minute fertig.»
«Bestens. Bestens. Lass dir Zeit.»
Als man sie allein ließ, schien die Stille der Bar sie einzuhüllen. Irgendwo tickte eine Uhr.
«Warte nicht auf mich», sagte Edward und zeigte auf die Flasche auf dem Tisch vor ihr.
«Danke», sagte sie und schenkte sich die perlende Flüssigkeit in das Glas. «Ich habe das Zeug ehrlich gesagt noch nie probiert», gestand sie. «Ich bin nur in Panik geraten!» Sie kicherte, und er schenkte ihr ein entspanntes Lächeln, das sie einmal mehr froh machte, hier bei ihm zu sein.
«Und ein Pint.» Der Barkeeper stellte das Getränk vor Edward ab.
Als er es an die Lippen hob, sagte er zu niemandem im Besonderen «Sláinte».
Patricia nahm ihren Pikkolo und tat es ihm nach. «Sláinte!» Sie wagte zu hoffen, dass es lustig werden könnte. Sie nahmen beide einen Schluck und lächelten einander an.
«Gut?», fragte er.
«Süß. Ganz in Ordnung», versicherte sie ihm.
Edward nahm wieder einen Schluck von seinem Pint und sah sich in der Bar um. Patricia spürte, dass sie wieder in ihr Schweigen zurückglitten. Worüber sprachen die Leute bei ihren Dates? Welche Gesprächsthemen hatten all die beschränkten Mädchen aus der Schule, wenn sie mit Männern sprachen? Und warum fiel ihr keins davon ein? Ein Stück Torf verrutschte im Kamin.
Auf der Bank neben sich entdeckte Patricia eine liegengelassene Ausgabe der Zeitschrift Titbits. Ihr war vage bewusst, dass es nicht die Art von Publikation war, von der man zugeben sollte, dass man sie las, aber Rosemary brachte sie ihr öfter aus dem Salon mit, und sie hatten Spaß daran, einander die Horoskope vorzulesen. In der Hoffnung, dass es ihre Unterhaltung wieder ankurbeln würde, nahm sie die Zeitschrift und hielt sie Edward hin.
«Lies mir mein Horoskop vor!»
«Was?» Er sah verwirrt aus.
«Mein Sternzeichen. Schau nach, was da steht.» Sie war beinahe ein wenig in Flirtlaune. Vielleicht wurde darin eine neue Romanze erwähnt.
«Du kannst es doch selber lesen, oder?»
«Es macht mehr Spaß, wenn du es liest und ich dir deins vorlese.» Das war eine einfache Regel, die ihr und Rosemary gute Dienste geleistet hatte. Sie wedelte mit der Zeitschrift auffordernd vor seiner Nase herum.
Hinter ihnen hatte der Barkeeper damit begonnen, Bierdeckel auf den anderen Tischen auszulegen.
«Ach, piesacken Sie den armen Teddy doch nicht so.»
Patricia war sich nicht sicher, was er gesagt hatte.
«Entschuldigung? Was?»
«Lesen ist nicht so Teddys Sache.»
Edwards Gesicht war blutrot geworden, und er starrte zu Boden.
Patricia sah ihn an und dann das grinsende Gesicht des Barkeepers.
«Edward, was meint er damit?» Ihre Stimme war leise, die Frage klang beinahe wie ein Zischen.
«Na ja, Teddy kann gar nicht lesen und schreiben, stimmt’s, Teddy?», lachte der und schlug Edward auf den Rücken. Ein Echo aus Gelächter von Seiten der alten Männer schallte durch den Raum.
Edward riss den Kopf hoch und fuhr den Barkeeper an. «Lass uns einfach in Ruhe. Wir wollen nur was trinken.»
«Tut mir leid, dass ich was gesagt habe.» Der Barkeeper zog ein übertrieben reumütiges Gesicht und schlenderte zurück hinter die Bar.
Patricia war wie erstarrt. Fragen schwirrten in ihrem Kopf wie kleine, in einem Netz gefangene Vögel. Edward hielt sich an der Tischkante fest und atmete schwer. Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Schließlich sprach sie.
«Stimmt das?»
Die Frage hing in der Luft. Die Stille lastete quälend auf ihnen und wurde dadurch noch schlimmer, dass ihnen beiden klar war, dass dies der letzte Moment war, bevor sie beide der Wahrheit ins Gesicht blicken mussten. Edward schluckte schwer.
«Ja.»
Patricia spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Sie dachte daran, wie sie in der Diele von Convent Hill gestanden und Briefumschläge aufgerissen hatte. Die Dinge, die er geschrieben hatte. Die privaten Dinge. Dinge, die wer geschrieben hatte? Natürlich kannte sie die Antwort auf diese Frage, die unerträgliche Wahrheit. Plötzlich konnte sie es nicht mehr ertragen, Edward auch nur einen Augenblick länger anzusehen. So, wie er da vor ihr saß, kam er ihr vor wie ein großes, überdimensionales Baby. Sie rappelte sich eilig hoch und rannte aus der Tür. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hinwollte, aber jeder Schritt in die schwarze Nacht hinein bedeutete, dass sie näher an zu Hause war. Die Tür schlug hinter ihr zu. Sie konnte Edwards Stimme hören, die ihren Namen rief, und dann das laute, zügellose, brüllende Gelächter.