Streiten war immer Elliots Abkürzung zum Sieg gewesen. Er beschuldigte sie dann, ein Kontroll-Freak zu sein. Elizabeth hatte das immer ungerecht gefunden, aber als sie jetzt in ihrem geparkten Mietwagen saß, fragte sie sich, ob er damit doch recht gehabt hatte, denn dies war für sie der tiefste Abgrund der Hölle. Sie hatte überhaupt keine Kontrolle mehr. So viele Nachrichten hatte sie ohne Antwort auf unterschiedlichen Telefonen hinterlassen, und sie war Tausende von Meilen entfernt. Sie klammerte sich an das Lenkrad und versuchte, sich an die Atemtechniken aus dem einzigen Yoga-Kurs zu erinnern, den sie je besucht hatte. Ganz ruhig. Sie war machtlos, und diese Tatsache musste sie akzeptieren. Mit Hysterie war nichts zu gewinnen. Schlimme Dinge stießen nur Töchtern zu. Jungen waren stark. Jungen waren hart im Nehmen.

Einen Augenblick später rüttelte sie am Lenkrad und schluchzte laut auf. «Wo zum Teufel steckst du, Zach?» Sie stieß einen langen, tiefen Schrei aus, und es fühlte sich gut an. Elizabeth wischte sich die Tränen ab und dachte über ihren nächsten Schritt nach. Der Flughafen in Dublin. Sie konnte direkt hinfahren. Ihr Reisepass und die Kreditkarten waren alles, was sie brauchte, und die

Elektronisches Gebimmel. Ihr Telefon verkündete, dass Elliot anrief. Sie haute auf die Taste und hielt es sich ans Ohr.

«Elliot! Gott sei Dank! Hast du was gehört?»

«Beruhige dich, Elizabeth. Es geht ihm bestimmt gut.» Der sanfte, ausgeglichene Tonfall weckte in ihr das Bedürfnis, etwas zu zerschlagen. Wie konnte ein Vater so klingen, wenn sein Sohn verschwunden war?

«Hast du etwas Neues gehört? Hast du seine Freunde angerufen?»

«Also, ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen und erklärt, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind. Er wird sich also wohl bald melden.»

Sie verdrehte die Augen und umfasste ihr Telefon fester. Der Mann war zu nichts zu gebrauchen.

«Ich komme zurück.»

«Warum? Was hilft das?»

«Warum? Mein Sohn, unser Sohn», korrigierte sie sich, «ist verschwunden. Er ist erst siebzehn. Ich glaube, es ist als Mutter meine Aufgabe, alles zu tun, was mir möglich ist, um ihn zu finden.»

«Ein E-Ticket, ja. Ich dachte, es sei echt, aber wer weiß? Ich habe E-Mails von dir bekommen! E-Mails, in denen stand, wie sehr du dich freust, dass er dich besuchen kommt!»

«Elizabeth, ich habe dir nichts geschickt. Bitte glaub mir, ich wusste nichts von seinem Plan.»

«Ich weiß. Ich weiß. Ich war ein Idiot. Du hast mir geschrieben, um mir deine ‹neue› E-Mail-Adresse mitzuteilen, und es kam mir nie in den Sinn, dass Zach etwas so Dummes, so Gefährliches machen würde!»

«Okay, nehmen wir an, das Ticket war echt, dann ist er irgendwo hier in der Bay Area. Es ist vollkommen überflüssig, dass du herkommst.»

«Ich komme!»

«Aus Irland? Das kostet dich ein Vermögen.»

Das gab Elizabeth zu denken.

«Wann hattest du vor, nach New York zurückzufliegen?», fuhr Elliot fort.

«In fünf Tagen.»

«Sieh mal, bis dahin habe ich unseren Ausreißer gefunden. Und dann schicke ich ihn dir zurück, damit du ihm Vernunft einbläust.»

«Ich weiß nicht. Ich fühle mich komisch, so weit weg.»

«Elizabeth, möglicherweise hätten wir nie herausgefunden, dass er das gemacht hat. Er hatte ziemliches Pech – es ist ja nicht so, als würden wir täglich miteinander sprechen.»

Sie musste gegen ihren Willen grinsen.

«Das stimmt wohl. Bestimmt macht er sich in die

«Tu, was du tun musst. Ich melde mich in der Sekunde, in der ich etwas höre. Es geht ihm gut. Zach ist ein kluger Junge. In New York zu überleben ist eine gute Vorbereitung für das allermeiste.»

«Er ist durchs gesamte Land geflogen, ohne jemandem etwas davon zu sagen!» Sie spürte ihre Hysterie zurückkehren.

«Elizabeth», sagte Elliot mit besänftigender Stimme, «es wird alles gut werden. Wir bleiben in Verbindung. Er weiß, dass wir sauer auf ihn sind, aber er wird anrufen. Du wirst schon sehen. Versuch dir keine Sorgen zu machen.»

So etwas konnte nur ein Mann sagen. Wie sollte es möglich sein, sich keine Sorgen zu machen?

«Okay. Danke. Ich rufe dich an.»

«Wir reden. Tschüs.»

«Tschüs.»

Elizabeth stellte sich vor, wie Elliot die Augen verdrehte und – wie hieß der Letzte? Andrew? Barry? Vielleicht Will? – auf der anderen Seite des Raums zuzwinkerte. Es waren schon so viele gewesen.

Draußen waren die Straßenlaternen angegangen, und ein dünner Sprühregen überzog die Straßen mit einem öligen Schimmer. Sie musste zugeben, dass Elliot recht hatte. Sie konnte sich genauso gut um ihre Angelegenheiten kümmern. Sie legte den Gang ein und fädelte sich in den Nachmittagsverkehr ein. Buncarragh. Sie beschloss, ihrer Familie kein Wort von ihrem Versagen als Mutter zu erzählen.

«Ratten! Ich musste mich beinahe übergeben, als Paul es mir erzählt hat. Und du warst da oben die ganze Nacht allein! Sie hätten dein Gesicht anknabbern können!»

«Es war nur eine Ratte, Noelle. Ich glaube nicht, dass ich in großer Gefahr war.»

«Der junge Dermot hat schon vier von diesen Ungeheuern getötet, und er jagt sie erst seit ein paar Stunden.»

Elizabeth spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

«Wirklich?»

«Vier Stück, so groß wie Kätzchen. Komm hoch in die Wohnung, Gillian macht uns Tee.»

Die beiden Frauen stiegen die Treppe hinauf.

«Wir haben dich heute Abend gar nicht erwartet. Paul sagte, du wolltest in Kilkenny übernachten.»

«Es hat nicht so lange gedauert, wie ich dachte.»

«Alles in Ordnung?», fragte Noelle mit einstudierter Beiläufigkeit.

«Ja, bestens.» Elizabeth überlegte kurz, ob sie das Haus in Cork erwähnen sollte, entschied sich dann aber

«Oh.» Noelle konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.

Als sie zusammen mit ihrer Tante und ihrem Onkel um den Küchentisch saßen, waren das wichtigste Gesprächsthema die Ratten und wie knapp Elizabeth ihnen entkommen war. Jeder schien eine Geschichte zu kennen, bei der jemandem die Kehle durchgebissen wurde oder unschuldige Kälber im Schlaf umgekommen waren. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass Ratten für Irland dasselbe waren, was Haie für Australien bedeuteten. Auch wenn sie die Unterhaltung nicht gerade in vollen Zügen genoss, musste Elizabeth zugeben, dass es sich gut anfühlte, von Zach und seinem Verbleib abgelenkt zu werden.

Sie mochte es, ihren Verwandten beim Geschichtenerzählen zuzuhören. Das war etwas, das sie unter ihren amerikanischen Freunden vermisste. Sie waren alle so wortgewandt, aber irgendwie fehlte ihnen die Fähigkeit, gute Geschichten zu erzählen. Wenn man sie nach ihren Gefühlen fragte, wurden sie allerdings zu sprachlichen Virtuosen. Als sie in New York eingetroffen war, hatte sie das begeistert. Jede emotionale Narbe zu benennen, die Kartographie der eigenen Beziehungen zu erforschen. Es war alles so neu und erfrischend gewesen, aber nun verspürte sie bei einer gut erzählten Geschichte so etwas wie Heimweh. Geschichten, die über einen Tisch voller Tassen hinweg ausgetauscht wurden wie Aufschläge beim Tennis, die man zurückschlagen musste.

«Oh, das hätte ich fast vergessen!», rief ihre Tante

«Ja.» Elizabeth fragte sich, wohin das wohl führen würde. Zu Fragen über ihren Ausflug nach Kilkenny vielleicht?

«Edward Foley war sein Name?»

«Ja.»

Noelle lehnte sich vor. Sie hatte eindeutig keine Ahnung, was als Nächstes kommen würde.

«Also, ich habe den Brief gefunden, von dem ich dir erzählt habe. Den von seiner Mutter.»

Sie beugte sich hinunter und holte ihre Handtasche vom Boden neben ihrem Stuhl. «Ich habe ihn irgendwo hier reingesteckt», sagte sie, zog den Reißverschluss auf und wühlte darin herum. Sie betrachtete verschiedene Briefumschläge. «Nein, das ist er nicht, nein.» Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht. «Hier ist er. Ich habe ihn die ganzen Jahre über zusammen mit den alten Fotoalben aufbewahrt. Ich wusste doch, dass ich ihn irgendwo hatte.» Sie reichte Elizabeth den dünnen Umschlag über den Tisch.

Sie sah ihn an.

«Der ist von Edward Foleys Mutter?»

«Ja, ist mit Catherine Foley unterschrieben, glaube ich.»

Elizabeth starrte auf den Brief. Es ergab keinen Sinn, aber es war nicht zu übersehen, was sie da in der Hand hielt. Blassblaues Papier von Basildon Bond und die ordentliche Handschrift in schwarzer Tinte. Beides identisch mit den Briefen, die sie in Convent Hill gefunden hatte. Eine kalte Hand fasste durch die Jahrzehnte hindurch nach ihr und schloss sich um ihren Magen. Ihre arme Mutter.