Irgendetwas stimmte nicht. Was nur? Patricia lag so steif da wie ein Leichnam. Dann fiel es ihr auf. Der Wind hatte aufgehört. Die Stille verursachte ihr Unbehagen. Sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund, und ihr Kopf fühlte sich auf dem Kissen geschwollen und schwer an. Sie hörte, wie sich unten eine Tür öffnete und schloss. Sie presste die Augen zusammen und versuchte den Schrecken der vorangegangenen Nacht zu bannen. Wie konnte sie diesen Raum jemals wieder verlassen?
Die Erinnerungen kamen und verschwammen wieder wie ein halb vergessener Traum. Sie hatte noch klar vor Augen, wie sie durch die Dunkelheit gestolpert war, wie der Wind in den Bäumen und der schwarze Schlund der Nacht ihr Schluchzen verschlungen hatten. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so erbärmlich gefühlt. Selbst als ihre Mutter gestorben war, war sie nicht so aufgelöst gewesen. Natürlich begriff sie, dass ihre Tränen nicht allein der Demütigung vorhin im Pub galten, sie galten ihrem Leben. Einem Leben, so ohne jede Hoffnung, dass sie sich erlaubt hatte zu träumen, Edward sei ihr strahlender Ritter. Sie kam sich so dumm vor. Wie hatte sie sich nur so viel vormachen können? Sie setzte einen Fuß vor den anderen und tastete sich langsam vorwärts. Die Hände hielt sie ausgestreckt, um sich vor Zweigen und allem anderen zu schützen, was in der undurchdringlichen Schwärze der Nacht auf sie wartete. Allzu bald jedoch spießten sie die Scheinwerfer eines Autos an einer Hecke auf, und dann war Edward auf der Straße und bettelte mit im Scheinwerferlicht flatterndem Mantel, sie möge doch einsteigen. Sie wusste, dass sie ihn angeschrien hatte, erinnerte sich aber nicht mehr genau an ihre Worte. Sie endete als zitternde, zusammengerollte Kugel vor dem Auto. Edward half ihr halb auf den Beifahrersitz, halb hob er sie einfach hoch. Sie erinnerte sich an den vertrauten Geruch des Mantels, den sie sich auf der Fahrt zurück zum Castle House über den Kopf zog.
«Es tut mir so leid. Ich wollte es dir sagen. Wir haben nicht versucht, dich auszutricksen. Wir dachten nur, es sei das Beste, es so zu machen. Wir …» Eine Litanei aus Entschuldigungen und Erklärungen rauschte an ihr vorbei, und das Einzige, was sie wirklich hörte, war die ständige Wiederholung des Wortes «Wir». Es verursachte ihr Übelkeit, sich vorzustellen, dass sie als Team daran gearbeitet hatten, was sie ihr schreiben wollten. Noch schlimmer war der Gedanke, dass Edward stumm dagesessen hatte, während ihm seine Mutter ihre Briefe laut vorlas. Privat! Es hatte etwas Besonderes und Intimes sein sollen, und nun fühlte sie sich so bloßgestellt. Sie wollte nur noch nach Hause und diesen Albtraum vergessen. Wenn sie nur bei ihrem Entschluss geblieben wäre, es zu beenden, wäre ihr all dies erspart geblieben. Sie sackte tiefer in den Sitz. «Mammy kann es erklären. Mammy wird dir erzählen, wie alles gekommen ist.»
Patricia stöhnte.
Mrs. Foley stand wartend vor dem Haus, ihr Schatten fiel über das Gras wie der einer dürren Riesin. Hatte sie bereits gehört, dass im Pub etwas vorgefallen war?
«Was ist? Ist alles in Ordnung?» Sie packte mit festem Griff Patricias anderen Arm und half ihr zusammen mit Edward ins Haus.
«Sie weiß es», sagte Edward bloß.
«Weiß was?»
«Die Briefe, Mammy. Sie weiß über die Briefe Bescheid.»
Mrs. Foley sagte nichts mehr.
Die drei wankten wie Betrunkene durch den Flur in die hell erleuchtete Hitze der Küche. Patricia sank auf einen Stuhl und starrte auf ihre ineinander verkrampften Hände im Schoß. Ihr war bewusst, dass Edward und seine Mutter ein Stück entfernt voneinander dastanden und sie anstarrten. Der Deckel eines Kochtopfs ratterte erwartungsfroh.
Wenig überraschend war es Mrs. Foley, die das Schweigen brach.
«Werden Sie etwas essen?»
Patricia funkelte sie ärgerlich an. Wie konnte diese Frau es wagen anzunehmen, dass ein Teller Abendessen sie veranlassen würde, über diesen Betrug hinwegzugehen? Mrs. Foleys Gesichtsausdruck verriet, wie verblüfft sie von den verschwollenen roten Augen und der laufenden Nase der jungen Frau an ihrem Tisch war. Sie ging einen Schritt auf sie zu.
«Edward hatte nichts Böses im Sinn. Es war meine Schuld. Ich werde nicht für immer da sein, und ich wollte, dass er versorgt ist. Er hat Sie sehr gern, Patricia.»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein. Das kann nicht sein.» Ihre Stimme war ein hohes Krächzen. «Wenn ich ihm etwas bedeuten würde, hätte er mich nicht angelogen.» Sie warf Edward einen vorwurfsvollen Blick zu, aber er fixierte die entfernteste Ecke des Raumes.
«Nein, nein, Patricia», sagte Mrs. Foley besänftigend. «Edward hat alles genau so gemeint, wie es in diesen Briefen stand. Das waren seine Gefühle.» Sie senkte die Stimme. «Ich habe nur versucht zu helfen. Er ist kein dummer Junge. Es war nur so, dass die Schule, na ja, nichts für ihn war.» Ihre Hände vollführten eine eigenartig beschwichtigende Geste, als wollte sie einen imaginären Hund tätscheln.
«Aber Sie haben auch meine Briefe gelesen! Laut, wenn Sie zusammen hier saßen. Diese Briefe waren für ihn gedacht, nur für ihn.» Sie zeigte mit dem Finger in Edwards Richtung. «Mir ist schlecht. Ich will nach Hause. Ich will einfach nur nach Hause.» Die Vorstellung, in ihrem eigenen Bett in Buncarragh ein Kissen zu umarmen, ließ sie erneut aufschluchzen. Ein langer dünner Rotzfaden lief über ihre Oberlippe und langsam weiter in ihren Schoß. Sie konnte hören, wie sich Mrs. Foley durch den Raum bewegte.
«Wir setzen Wasser auf. Eine heiße Wärmflasche. Eine Tasse Tee. Eine Nacht darüber schlafen. Sie haben einen kleinen Schock erlitten, das ist alles. Teddy, machst du dich nützlich und holst die Tassen herunter?»
Patricia hörte seine dick besohlten Schuhe auf dem Linoleum. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, ihn anzusehen. Was für ein nutzloser Klotz von einem Mann er doch war! Patricia hatte sich selbst nie für eine gewalttätige Frau gehalten, aber sie hätte ihm am liebsten körperlichen Schaden zugefügt. Sie wollte ihn verletzen, ihn etwas fühlen lassen. Wie hatte er es nur fertiggebracht, niemals lesen und schreiben zu lernen? Sie fragte sich, ob etwas mit ihm nicht stimmte. Sie warf einen verstohlenen Blick auf seinen breiten Rücken, die rauen Hände, mit denen er die zarten Porzellantassen hielt. Wie hatte sie ihn jemals für gut aussehend oder sensibel halten können? Er war Frankensteins Monster. Er wandte sich um, und sie sah sein großes, dämliches Gesicht. Patricia vergrub das Gesicht in den Händen. Sie hatte einen heißen Knoten aus Wut und Reue im Bauch.
Die Morgensonne kroch durch die Vorhänge hindurch und tauchte das kleine Zimmer in goldenen Glanz. Patricia versuchte sich daran zu erinnern, wie sie nach oben gekommen oder zu Bett gegangen war, aber es gelang ihr nicht. Sie fragte sich, was noch gesprochen worden war. Erst als sie überlegte aufzustehen, wurde ihr klar, dass sie es nicht konnte. Ihre Beine fühlten sich beinahe wie totes Gewicht an, und wenn sie den Kopf nur vom Kissen hob, wurde ihr schwindelig. Ein leises Wimmern entfuhr ihren Lippen. Das war nicht der Zeitpunkt, um krank zu werden. Sie sehnte sich danach, nach Hause zu fahren, aber selbst sie musste sich eingestehen, dass die Reise vermutlich nicht heute stattfinden würde. Ein leises Klopfen an der Tür.
«Herein.»
Die Tür öffnete sich mit einem Knacks, und Mrs. Foleys Fuß schob sie weiter auf, so dass sie mit einem Tablett hereinkommen konnte, auf dem eine Kanne Tee und ein Toastständer standen.
«Ich habe Ihnen hier ein kleines Frühstück nach oben gebracht. Ich dachte, Sie möchten vermutlich noch nicht wieder nach unten kommen.»
Was bedeutete das? War gestern Abend noch etwas anderes passiert? Anstatt irgendwelche Fragen zu stellen, sagte Patricia bloß: «Danke.»
Die ältere Frau sah erschöpft aus und hatte etwas Rouge und Lippenstift aufgelegt, was sie aussehen ließ wie die Sprechpuppe eines ältlichen Bauchredners.
«Ich stelle es einfach hier ab.» Sie schob das Tablett seitlich auf die Matratze, sodass Patricia an der Wand eingepfercht war. «Konnten Sie etwas schlafen?»
«Ja. Es geht mir nicht besonders gut», platzte sie heraus wie ein Kind.
«Nun, essen Sie etwas Toast. Das beruhigt Sie vielleicht.» Mrs. Foley legte ihr die kalte, knochige Hand auf die Stirn. «Kein Fieber. Das ist gut.» Sie drehte sich um und schloss leise die Tür hinter sich.
Der Toast schmeckte gut. Sie aß zwei Scheiben und trank dann ihren Tee. Krank oder übel waren nicht die richtigen Worte, um zu beschreiben, wie sie sich fühlte, aber irgendetwas stimmte nicht. Sonderbar. Ja, entschied sie, das war genau das Wort dafür: sonderbar.
Sie merkte erst, dass sie eingeschlafen war, als das Tablett zu Boden krachte und sie weckte. Ihr Körper fühlte sich noch schwerer an als zuvor. Sie glaubte, Mrs. Foley sei hereingekommen, um die Sauerei zu beseitigen, aber das konnte sie sich auch eingebildet haben. Der Rest des Tages verschwamm in einer Mischung aus Schlafen und Wachen. Den ganzen Tag ließ sich Edward nicht blicken, aber seine Mutter flößte ihr mit einem Löffel eine Suppe ein. Draußen war es dunkel. Die alte Frau half ihr zu einem Nachttopf am Fenster hinüber. Patricia wusste, sie müsste eigentlich wütend auf diese alte Dame sein, doch sie stellte fest, dass sie lediglich Dankbarkeit für ihre Freundlichkeit empfand.
Der nächste Tag verstrich in einem ähnlichen Nebel. Sie schlief tief, unterbrochen von Mrs. Foleys Besuchen. Sie brachte unterschiedliche Gaben wie belegte Brote oder Suppe. Patricia war es verschwommen bewusst, dass dies der Tag war, an dem sie hätte nach Buncarragh zurückfahren sollen. Sie hatte fragen wollen, ob sie das Telefon benutzen dürfe, um ihre Tante anzurufen und zu erklären, was passiert war, aber sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich gefragt hatte. Der Wind war wieder da, und das Rattern des Fensters schien ihren Kopf auszufüllen, egal, ob sie schlief oder wach war.
Am dritten Tag wachte sie auf, um festzustellen, dass sie ein Nachthemd trug, das ihr nicht gehörte, und dass der Stuhl, auf dem säuberlich gefaltet ihre Kleider gelegen hatten, nun leer war. Mehr Tee. Sie erinnerte sich daran, sich über die Bettkante erbrochen zu haben, und nun hing ein Geruch von Desinfektionsmitteln in der Luft.
War es am vierten Tag, dass Mrs. Foley ihr von dem Besuch des Arztes erzählte? Anscheinend hatten sie ihn gerufen, und sie hatte seinen Besuch verschlafen. Er hatte nichts feststellen können, sagte man ihr, aber vielleicht war sie ein wenig blutarm. Sie hatte eine Tasse Fleischbrühe getrunken, und Mrs. Foley hatte ihr währenddessen mit einem Handtuch Tropfen vom Kinn gewischt. Patricia wollte weinen, stellte aber fest, dass sie dazu nicht die Kraft hatte. Schlaf.
Rückblickend konnte sie nicht sagen, wann sie die Übersicht über die Tage verloren hatte. War es der fünfte Tag oder der sechste oder sogar schon eine Woche? Mehr? Sie wusste es nicht. Zeit spielte keine Rolle mehr, ihre Welt war auf das schmale Bett geschrumpft und auf den kurzen Weg hinüber zum Nachttopf. Manchmal hörte sie Edward und seine Mutter unten sprechen. Sie erkannte, dass es keine normalen Gespräche waren. Sie stritten. Sie konnte die Wut hören, aber nicht die Worte verstehen. Das Telefon hatte ein paarmal geklingelt. Das musste für sie sein. Es musste, war es aber nie. Als es ihr einfiel, wiederholte sie ihre Bitte, dass sie ihren Bruder in Buncarragh wissen lassen sollte, wo sie war. Man machte sich bestimmt Sorgen um sie. Noch als sie die Worte aussprach, bezweifelte sie sie. Würde es irgendjemanden wirklich kümmern? Noch schlimmer, sie fragte sich, ob überhaupt irgendwem ihre Abwesenheit aufgefallen war. Sie war verschwunden, und die Welt sah noch immer genau gleich aus.
Mrs. Foley gab ihr Bestes, um sie zu beruhigen.
«Ich habe im Laden angerufen. Ich habe mit einer sehr freundlichen Frau gesprochen, Ihrer Schwägerin, glaube ich …»
«Gillian?», fragte Patricia und versuchte sich deren Reaktion auf diesen Anruf einer fremden Frau aus dem County Cork vorzustellen.
«Gillian, das war die Frau. Jedenfalls hofft sie, dass es Ihnen bald bessergeht, Sie sollen sich keine Sorgen machen. Und jetzt können Sie wirklich damit aufhören, es ist alles geregelt.»
Patricia legte ihren Kopf zurück auf das Kissen und war erleichtert, dass man wusste, wo sie war.
In dieser Nacht träumte sie, sie sei zurück in Convent Hill. Das Haus sah so aus wie immer, aber sie wusste, dass sie fort gewesen sein musste, denn sie war sehr froh, wieder zu Hause zu sein. Patricia suchte nach ihrer Mutter. In ihrem Traum war sie nicht tot, Patricia konnte sie bloß nicht finden. Sie schaute in die Zimmer im Erdgeschoss und rannte dann nach oben, um in den Schlafzimmern nachzusehen. In der Wand zwischen dem Bad und ihrem eigenen Zimmer befand sich eine Tür, die sie nie zuvor gesehen hatte. Sie stellte fest, dass sie unverschlossen war, und trat hindurch. Hatte sie dieses Zimmer einfach vergessen? Es war mit dunklem Holz vertäfelt, und in der Mitte stand ein runder, mit Büchern bedeckter Tisch. Wie konnte es sein, dass sie diesen Raum niemals zuvor gesehen hatte? Hatte ihre Mutter ihn vor ihr geheim gehalten? An der gegenüberliegenden Wand bemerkte sie eine weitere Tür. Als sie sie öffnete, fand sie sich oben auf einer schmiedeeisernen Wendeltreppe wieder, die in ein großes Gewächshaus voller tropischer Pflanzen hinunterführte. Unter der Glasdecke flatterten Papageien in leuchtenden Farben. Vorsichtig stieg sie die Treppe hinab. Der Geruch erinnerte sie an den Botanischen Garten in Dublin. Als Patricia die letzte Stufe erreichte, sah sie hinter sich einen langen dunklen Raum voller Terrakotta-Töpfe und Gartenwerkzeug, doch als sie hindurchging, wurde der Raum zu einer Küche, aber einer, wie man sie in Hotels sah, mit Metalloberflächen und riesigen Öfen. Am gegenüberliegenden Ende war eine graue Holztür. Sie klapperte, und zum ersten Mal verspürte Patricia Angst vor dem, was hinter der Tür liegen könnte. Sie hatte kaum die Klinke berührt, als die Tür in den Raum hinein explodierte, und Patricia stellte fest, dass sie vor Castle House stand und aufs Meer hinausstarrte, während der Wind an ihr zerrte. Sie war wieder da! Sie war in Buncarragh gewesen, aber nun war sie wieder hier. Sie versuchte zu schreien, bekam aber keinen Laut heraus. Als sie erwachte, heulte der Wind aus ihrem Traum noch immer vor ihrem Fenster.
Als am nächsten Morgen die Tür aufgestoßen wurde, wusste sie sofort, dass etwas anders war. Sie hörte das Klappern des Löffels auf der Untertasse, mit dem das Tablett ins Zimmer manövriert wurde. Als sie aufblickte, war sie überrascht, nicht Mrs. Foley, sondern Edward zu sehen. Er stand neben dem Bett und hielt ihr Frühstück in den Händen. Patricia klopfte auf die Matratze, und er setzte das Tablett ab. Trotz allem ertappte sie sich dabei, dass sie sich darum sorgte, wie sie aussah. Sie stellte sich vor, wie ihr ungewaschenes Haar an ihrer Stirn klebte, wie ihr blasser, verschwitzter Teint ohne jedes Make-up aussah. Unbeholfen tatschte sie an ihrem Scheitel herum.
«Wie geht es dir?»
Sie starrte zu ihm auf.
«Wo bist du gewesen?» Ihre Stimme klang verglichen mit seiner leise und trocken.
«Gearbeitet. War beschäftigt. Das weißt du ja selbst.» Er zuckte mit den Schultern. «Das hier ist mehr Sache meiner Mutter.»
«Sie war sehr fürsorglich.»
Edward sagte nichts. Sie dachte an die erhobenen Stimmen. Patricia griff nach der auf dem Tablett wartenden Teetasse. Edward gab ein Husten von sich. Als sie aufblickte, sah sie, dass er den Kopf schüttelte.
«Was?», fragte sie.
Edward legte schnell einen Finger an den Mund, um ihr zu bedeuten, sie solle still sein. Dann beugte er sich vor und nahm ihr die Teetasse aus der Hand. Wieder schüttelte er den Kopf. «Möchtest du ein Glas Wasser?» Seine Stimme klang ein bisschen lauter als gewöhnlich. «Okay, ich hole dir eins.» Er nahm die Teetasse und verließ das Zimmer. Sie hörte, wie er über den oberen Treppenabsatz hinüber ins Bad ging. Er kam mit einem kleinen Glas Wasser zurück und stellte die nun leere Teetasse daneben auf das Tablett. «Dann lasse ich dich jetzt frühstücken.» Er öffnete weit die Augen, zeigte noch ein paarmal auf die Teetasse und schüttelte dabei heftig den Kopf, dann ließ er sie allein und schloss leise die Tür.
Was war da gerade passiert? Patricia blickte auf das Tablett und dann auf die abblätternde Farbe auf der Rückseite der geschlossenen Tür. Konnte sie Edward vertrauen? Tat seine Mutter ihr etwas in den Tee? Es fiel ihr so schwer zu denken. Ihr Kopf tat weh und fühlte sich schläfrig an, und trotzdem sagte ihr ein kleiner Funken Verstand, dass es sich vermutlich so anfühlte, wenn man unter Drogen gesetzt wurde. Warum wollte Mrs. Foley nicht, dass sie abreiste? Sie nahm ein paar Schluck aus dem Wasserglas, das Edward ihr gebracht hatte, und legte dann den Kopf auf das Kissen zurück. Vor lauter Anstrengung, die das Nachdenken sie kostete, keuchte sie beinahe.
In den nächsten beiden Tagen machte sie es zu ihrer Mission, keine der Tassen Tee zu trinken, die man ihr brachte. Erst goss sie sie in den Nachttopf, aber das war zu offensichtlich, also begann sie, sie einfach neben dem Bett die Wand hinunterzugießen. Sie hoffte, lange fort zu sein, bis Mrs. Foley die braun getränkte Ecke des Teppichbodens unter dem Bett entdeckte.
Zuerst fühlte sie sich ein wenig stärker, wacher – aber dann wurde sie von schlimmen Kopfschmerzen, Magenkrämpfen und Durchfall gepeinigt. Mrs. Foley versorgte sie weiter mit Tee, um ihre Genesung zu unterstützen, aber Patricia trank keinen Tropfen. Am Ende des dritten Tages fühlte sie sich ein wenig besser. Sie fragte sich, ob sie fit genug war, ins Bad zu gehen, denn sie machte sich allmählich Sorgen, dass die Teelache unter ihrem Bett sich ins Zimmer hinein ausbreiten oder an der Decke unten einen Fleck verursachen würde. Sie stand auf, und einen Augenblick war ihr so schwindelig, dass sie zu stürzen glaubte. Sie hielt sich an dem Stuhl neben dem Bett fest, um ihre Balance zu finden, und wartete, bis der Raum aufhörte, sich zu drehen. Vorsichtig bewegte sie erst den einen Fuß und dann den anderen, bevor sie den Stuhl losließ. Ihr Atem ging flach und schnell. Sie öffnete so leise wie möglich ihre Zimmertür und trat auf den Treppenabsatz hinaus.
Patricia war erstaunt, wie groß ihr das Treppenhaus vorkam nach den vernebelten Tagen, die sie in ihrer schlichten Zelle verbracht hatte. Sie machte einen Schritt auf das Bad zu und hielt ihre Tasse dabei sorgsam fest. Sie wollte keine verräterischen Flecken auf dem Teppich hinterlassen. Noch einen Schritt, dann konnte sie sich am Geländer festhalten. Sie hielt den Atem an und lauschte. Nur der Wind und die fernen Schreie einer Möwe. Langsam machte sie sich auf den Weg zum Bad. Ihr Herz schlug laut, und das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr Mund war trocken. Einmal mehr hielt sie inne und lauschte angestrengt, aber abgesehen von dem Stöhnen und Klappern, das der andauernde Sturm hervorrief, konnte sie keine Geräusche im Haus ausmachen. Stille. Noch ein paar Schritte. Sie war beinahe da. Eine Diele knarrte. Sie umklammerte die Tasse und hielt den Atem an. Nichts. Noch ein paar Schritte, und sie hatte ihr Ziel erreicht. Sie stürzte auf die Toilette zu und schüttete den Tee in die Schüssel. Sofort bereute sie es. Sie war ein Dummkopf. Warum hatte sie nicht das Waschbecken genommen? Wenn sie die Toilettenspülung betätigte, würde Mrs. Foley angerannt kommen, aber wenn sie es nicht tat, würde der Tee in der Schüssel schwimmen und sie verraten. Panik kroch in ihr hoch, und ihr Atem kam in abgehackten Zügen. Plötzlich flutete helles Licht das Badezimmer, und als sie den Kopf wandte, war Mrs. Foleys Gesicht nur Zentimeter von ihrem eigenen entfernt. Sie schrie auf.
«Sieh einer an, Sie sind aufgestanden», sagte die alte Frau, und ihre Stimme verriet keinerlei Gefühl. «Ist das nicht …» Sie verstummte, und Patricia begriff, dass sie das wolkige teefarbene Wasser in der Schüssel erblickt hatte. Ihre Augen wanderten zu der leeren Tasse in Patricias Hand. Mrs. Foley presste ihre Lippen fest zusammen, und ein kalter, harter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Edward hatte die Wahrheit gesagt. Patricia wurde übel. Plötzlich wusste sie, dass sie aus Gründen, die sie nicht verstand, in echter Gefahr schwebte. Ihr gesamter Körper wurde von einer Furcht erfasst, die ihr den Atem nahm.
«Dann bringen wir Sie wohl besser zurück in Ihr Zimmer, nicht?» Und ohne auf Antwort zu warten, legte Mrs. Foley ihren Arm um Patricias Schultern, die Knochen ihrer Finger gruben sich in ihr Fleisch, und sie führte sie mit einigem Nachdruck über den Treppenabsatz. Als sie wieder im Bett lag, stopfte Mrs. Foley die Laken um sie herum energisch fest. Als sie dann ging, lächelte sie treuherzig. «Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie einfach.»
Patricia starrte an die Decke und hörte, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde.