Sie hörte wieder ihre Nachrichten ab.
«Um die Nachricht noch einmal zu hören, drücken Sie die Zwei.»
Da war seine Stimme, so ruhig und glaubwürdig, obwohl er sie anlog. Das Leben hatte sie gelehrt, Männern zu misstrauen, aber irgendwie hatte sie immer geglaubt, ihr Verhältnis zu Zach sei anders. Wenn sie darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass sie sich etwas vorgemacht hatte. Sie fragte ihn nie über sein Leben aus oder stellte die wirklich schwierigen Fragen, und sie musste sich eingestehen, dass das weniger mit Vertrauen zu tun hatte als mit der Furcht vor dem, was sie herausfinden könnte. Alles, was sie über sein Teenagerleben wusste, hatte sie durch den Filter dessen erfahren, was er zu sagen beschloss. Sie erinnerte sich, wie sie schweigend dagesessen hatte, als Laura und Jocelyn bei der Arbeit Horrorgeschichten über ihre Teenagersöhne erzählt hatten, und wie sie ihnen versichert hatte, ihre Beziehung zu Zach sei anders. «Er erzählt mir alles», hatte sie ihren Freundinnen gesagt. «Wir sind eher Mitbewohner als Mutter und Sohn.» Elizabeth verdrehte die Augen, wenn sie daran dachte, was für eine leichtgläubige Idiotin sie gewesen war. Sie nahm sich vor, Laura und Jocelyn die offizielle Erlaubnis zu geben, offen Häme zu zeigen und sich daran zu weiden, wie sie ihr Fett abbekommen hatte.
Elliot hatte sie zweimal angerufen, aber nichts Neues zu berichten gehabt. Sie hatten Zach weitere Nachrichten hinterlassen, und wie es schien, blieb ihnen nichts übrig, als zu warten. Als könnte er ihre Gedanken lesen, hatte ihr Exmann geduldig ausgeführt, dass die Polizei nicht helfen könne, weil Zach nicht mehr offiziell als minderjährig galt und noch nicht lange genug verschwunden war, um als vermisst zu gelten. Wieder schlug sie ihm vor, zu ihm zu kommen, und wieder überzeugte er sie, dass dadurch nichts gewonnen wäre. Sie sollte das tun, wozu sie in Irland war. Eine Aufgabe würde sie ablenken. Das Problem war, dass sie kein Interesse mehr am ursprünglichen Grund für ihren Besuch hatte. Selbst ohne Ratten hatte sie nicht das geringste Verlangen, das Haus in Convent Hill aufzusuchen. In der kurzen Zeit, die sie dort verbracht hatte, war ihr klargeworden, dass sich in diesen verlassenen Zimmern nichts befand, was sie brauchte, keine Erinnerungen an eine lange vergangene Kindheit, die sie mit nach New York nehmen wollte. Was sie abgesehen von ihrem Sohn beschäftigte, war die Möglichkeit, mehr über ihren Vater und ihre Abstammung herauszufinden. Ihre Mutter hatte ihre Vergangenheit so erfolgreich verdrängt, dass Elizabeth sich vorkam wie eine Archäologin, die in einem Grab auf einen Lichtstrahl oder auf Gold unter vielen Schichten von Erde gestoßen war. Alles in Convent Hill war ihr vertraut, aber nun hatte sie einen Vorgeschmack des Unbekannten bekommen.
Vielleicht lag es an der grellen, tiefstehenden Wintersonne, die die Welt einfacher aussehen ließ, oder daran, dass sie ständig das Gerede von Gillian und Noelle im Duett hörte, die sich durch die Wohnung bewegten, aber sie dachte ernsthaft über eine Reise nach. Elizabeth lag voll bekleidet auf ihrem Bett und spielte mit dem großen Schlüssel, den man ihr tags zuvor ausgehändigt hatte. Ein zerknittertes braunes Schild war mit einer Schnur daran befestigt. Die vor vielen Jahren mit Kugelschreiber geschriebenen Worte «Castle House» waren eben noch zu erkennen. Die Vorstellung, sich in ihr Auto zu setzen, die Strecke auszutüfteln und nachzusehen, wo sie ihr Leben begonnen hatte, schien ihr deutlich verlockender, als in Buncarragh herumzusitzen und darauf zu warten, dass die Ratten starben. Ein Abenteuer würde sie ablenken, und eigentlich war es auch dringender zu entscheiden, was mit diesem Neuzugang in ihrem Immobilienvermögen geschehen sollte, als die ungewollten Schätze ihrer Mutter auszusortieren. Sie konnte nicht einfach ein ganzes Haus ignorieren, das ihr gehörte. Sie musste, versicherte Elizabeth sich selbst, es zumindest einmal in Augenschein nehmen, bevor sie irgendeinen Immobilienmakler im County Cork damit beauftragte, es ihr vom Hals zu schaffen.
Sich aus den Klauen ihrer Verwandtschaft zu lösen war keine einfache Aufgabe. Elizabeth hatte das Gefühl, in einem dichten, klebrigen Netz von Einwänden gefangen zu sein. Es war nicht die richtige Jahreszeit, um die Wildnis von West Cork zu erforschen und nach ihren Wurzeln zu suchen. Wo würde sie übernachten? Zu dieser Jahreszeit hatte kein Bed & Breakfast geöffnet. Was, wenn ein schlimmer Frost kam, oder gar, der Himmel möge es verhüten, Schnee? Tiefer im Land streuten sie die Straßen nicht. Wie wollte sie den Ort finden? Schicke Telefone oder Apps würden ihr da unten nicht helfen. Warum fuhr sie überhaupt weg? Was hoffte sie zu finden? Die letzte Frage ließ sie unbeantwortet, denn sie hatte keine Lust, diesen Menschen mehr über ihr Leben zu erzählen als nötig. Sie erwähnte weder das Testament noch ihre unerwartete Erbschaft von Castle House. Um die Verhandlungen um ihre Entlassung aus Buncarragh endlich zu beenden, gab sie ihnen widerwillig ihre Mobilnummer und hoffte, da es ein amerikanisches Handy war, dass die Furcht vor den Kosten sie davon abhalten würde anzurufen.
Endlich saß sie hinter dem Steuer. Auf dem Sitz neben ihr lag eine aufgefaltete Irlandkarte, die ihr Onkel zur Verfügung gestellt hatte. Die Straßen, die sie suchte, waren mit rotem Stift markiert – Noelles Werk. Elizabeth winkte der Familie Keane zu, die vor dem Laden aufgereiht stand wie in einer schlechten Produktion von The Sound of Music und fuhr mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung los. Sie war erst ein paar hundert Meter hinter der Brücke, als sie eine vertraute Gestalt auf dem Gehweg erblickte. Rosemary kam mit einer roten Tüte voller Einkäufe die Straße herauf. Der Wind zerwühlte ihr auberginefarbenes Haar, und sie trug einen Mantel mit Schottenkaro, der für eine deutlich größere Frau gemacht schien. Sie sah aus wie eine ältliche Alleinunterhalterin für Kinder. Ohne wirklich den Entschluss dazu gefasst zu haben, fuhr Elizabeth an den Straßenrand.
«Rosemary!», rief sie durch ihr geöffnetes Fenster. Die alte Frau hob die Hand und schirmte ihre Augen gegen das grelle Licht der tiefstehenden Sonne ab.
«Ich bin es. Elizabeth. Patricias Tochter.»
«Natürlich. Entschuldigung. Ich konnte Sie kaum sehen.»
«Ich fahre ins Castle House.»
Rosemary sah sie verständnislos an.
«Das der Foleys, wo Sie nach Mammy gesucht haben.»
«Oh, na viel Glück! Ich erinnere mich noch daran, dass es eine entsetzlich lange Fahrt war. Heutzutage ist es aber bestimmt viel besser, mit all den neuen Straßen. Und Sie müssen sich bestimmt auch keine Sorgen machen, dass Ihnen der Motor aus dem Wagen fällt.» Sie lachte. «Was treibt Sie dort runter?»
«Ich dachte nur, es könne nett sein, es einmal zu sehen. Meinen Geburtsort und so weiter.»
Rosemary legte das Gesicht in besorgte Falten. «Verstehe. Aber sagen Sie mir, was glauben Sie dort zu finden?»
Elizabeth war etwas konsterniert. «Tja, ich weiß nicht genau. Ich will es nur sehen, denke ich.»
Rosemary nickte. «Na ja, dann machen Sie sich mal nicht allzu viele Hoffnungen. Meiner Erfahrung nach gibt es immer deutlich weniger Antworten als Fragen.» Sie lächelte und versetzte dem Auto dann einen Klaps, als wollte sie ein widerspenstiges Pferd antreiben. «Gute Fahrt!»
Die Straßen mochten besser geworden sein, der Verkehr allerdings nicht. Mitten im schwindenden Licht des Nachmittags näherte sich Elizabeth endlich Cork. Es würde bald dunkel sein, und sie traute sich nicht zu, Muirinish in der Nacht zu finden. Selbst wenn es ihr gelang, wo sollte sie übernachten? Sie beschloss, den Schildern in Richtung Flughafen von Cork zu folgen, in der Hoffnung, dass es dort ein Hotel gab. So würde ihr erspart bleiben, sich durch den Stadtverkehr zu quälen.
Als sie in ihrem schlichten Zimmer auf dem Bett saß, blickte sie aus dem Fenster auf die hell erleuchteten Terminals. Vielleicht hätte sie ihre Reise ein bisschen besser recherchieren sollen, bevor sie losfuhr? Es war unwahrscheinlich, dass sie sie noch einmal unternehmen würde, und irgendwie kam es ihr wie eine Verschwendung vor, nun in einem Hotel zu sitzen, wie es sie überall auf der Welt gab. Sie steckte das Ladekabel in ihr Handy und ging Zähne putzen. Durch das beharrliche Brummen ihrer elektrischen Zahnbürste hindurch glaubte sie etwas zu hören.
Was war das? Ihr Telefon! Sie spuckte ins Waschbecken aus und rannte ins Zimmer. Das Display war erleuchtet. Zach!
«Hallo! Hallo!» Ihre Stimme bettelte das Telefon darum an, dass es ihr Junge war. Schweigen, und dann …
«Hi, Mom.»
«Zach …» Elizabeth setzte sich ganz schwach vor Erleichterung auf das Bett. «Zach, wo warst du? Ich, wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.»
«Tut mir leid. Mir geht’s gut.»
«Mach so was nie wieder. Oh, Zach. Warum hast du mich angelogen? Wo zum Teufel steckst du?» Ihre Erleichterung verwandelte sich schnell in Wut.
«Ich bin bei … Ich bin bei meiner Freundin.»
«Freundin? Ich …» Sie war so erstaunt, dass sie verstummte. War es sehr schlimm, dass ihr erster Gedanke, abgesehen von seiner Sicherheit und seinem Aufenthaltsort, der Tatsache galt, dass ihr Sohn hetero war? Sie hatte sich mental darauf vorbereitet, dass er schwul sein könnte, und sich versichert, dass es für sie in Ordnung wäre, aber ihre Erleichterung, als sie das Wort «Freundin» vernahm, ließ sie vermuten, dass sie sich vielleicht belogen hatte. Einmal mehr warf sie sich all die Gespräche vor, die sie hätte führen sollen und nicht geführt hatte. Warum war sie so ängstlich gewesen? War sie etwa homophob? Nein, sie glaubte wirklich nicht, dass sie das war. Ihr Problem war eher Elliot und die Vorstellung, dass er auf diese Weise eine Art von Sieg davontragen könnte. Aber Zach mochte Mädchen. Ein albernes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
«Sie lebt hier drüben, und ich wollte sie besuchen.»
«Und warum in Gottes Namen hast du mir nichts davon gesagt?»
«Ich hatte Angst, dass du nein sagst.»
Elizabeth musste zugeben, dass die Chancen dafür relativ hoch gewesen wären. Ihren Sohn durch das gesamte Land fliegen und Zeit mit einer Familie verbringen zu lassen, die sie noch nie getroffen hatte, war nichts, dem sie bereitwillig zugestimmt hätte.
«Aber Zach, du hast das nicht einfach nur gemacht, ohne es mir zu sagen. Die E-Mails. Die E-Mails, die du für deinen Vater geschrieben hast. Was ist damit?»
«Tut mir leid. Ich habe es nicht böse gemeint. Ich wollte sie nur unbedingt besuchen.»
«Und, o Gott, gerade ist es mir eingefallen. Deine Geschichte, dass Elliot mir den Flugpreis ersetzt! Tja, da halte ich mich dann wohl an dich, Zach. Du wirst mir noch den letzten Cent zurückzahlen, verstanden?»
«Ja, Mom. Du kriegst alles zurück. Versprochen.»
«Dachtest du wirklich, du kommst mit alldem durch? Zach, du bist doch nicht doof. Du musstest doch wissen, dass ich irgendwann mit deinem Vater spreche.»
Am anderen Ende der Leitung entstand ein Schweigen, dann hörte sie ein einfaches «Vermutlich». Und es brach ihr das Herz. Sie konnte ihn sich in diesem Moment so gut vorstellen: gesenkter Kopf, eine Schulter nach vorn geschoben, wie er von einem Fuß auf den anderen trat. Elizabeth wollte ihn am liebsten in den Arm nehmen. An seinem Haar riechen und wissen, dass er in ihrer Umarmung sicher war.
«Hast du es deinem Vater gesagt?»
«Ja.» Ein leichter Stich. Er hatte Elliot zuerst angerufen.
«Und?»
«Er fährt in ein oder zwei Tagen hierher und holt mich ab.»
«Wo zur Hölle bist du?»
«Sacramento.»
«Und wer ist dieses Mädchen? Wo habt ihr euch getroffen?»
«Ich habe sie über die Schule kennengelernt.» Kurzes Schweigen. «Ich mag sie wirklich.»
Elizabeth lächelte. «Also, das ist doch toll, mein Schatz. Ich bin froh darüber. Ich bin auch froh, dass es dir gutgeht. Du machst nie, nie wieder etwas auch nur annähernd so Dummes. Hast du verstanden?»
«Ja, Mom.»
«Ruf mich an, wenn du bei deinem Vater bist, okay?»
«Ja, Mom.»
«Ich hab dich lieb und bin sehr glücklich, dass mit dir alles in Ordnung ist. Jag mir keine solchen Schrecken mehr ein!»
«Entschuldige, Mom, ich hab dich auch lieb. Tschüs.»
«Tschüs.» Als sie die kleine rote Taste drückte und auflegte, begann sie zu weinen. Ihr Baby war außer Gefahr. Es war, als könne sie sich erst jetzt, wo sie ihn in Sicherheit wusste, eingestehen, wie viel Angst sie gehabt hatte. Die Mutter, die stundenlang im Dunkeln gesessen und auf das Heben und Fallen der winzigen Brust ihres Babys gehorcht hatte, die ihren eigenen Atem anhielt und ängstlich auf den nächsten warmen, milchigen Atemzug wartete – wie sich herausstellte, war sie noch immer diese Frau. Würde es jemals leichter werden? Sie bezweifelte es.
Eine Stunde später saß sie unten an der Bar und hatte ein großes Glas Rotwein vor sich, das sie sich ihrer Meinung nach redlich verdient hatte. Instrumentalversionen von Coldplay-Songs schwebten durch den Raum, und ein anorektischer Plastikbaum blinkte leicht alarmiert neben dem Eingang zur Lobby. Es fühlte sich seltsam an, allein zu reisen. Kein Zach, nach dem man sehen musste, keine von nachmittäglichen Drinks lüstern gewordenen Akademiker in sicherer Distanz zu ihren Ehefrauen, die es zu meiden galt. Zum ersten Mal seit einer gefühlt sehr langen Zeit war sie ganz ruhig. Elizabeth trank ihren Wein und blickte sich um. Vier ältere Frauen plauderten und lachten an einem Tisch, vielleicht berichteten sie sich von ihren Urlauben – oder sie würden demnächst aufbrechen, um im Winter ein bisschen Sonne zu bekommen? Ein paar Geschäftsmänner saßen einander jeweils zu zweit gegenüber, manche mit einem Bierglas vor sich, andere mit einem Kaffee. Elizabeth versuchte zu erraten, welche von ihnen echte Freunde waren und welche Kollegen, die nur das Geschäft verband. Sie fiel auf, so allein an der Bar. Also beschloss sie, sich lieber ein Sandwich auf ihr Zimmer kommen zu lassen, anstatt in den Speiseraum zu gehen und «einen Tisch für eine Person» zu bestellen. Sie hatte gerade ihr Glas geleert und dachte darüber nach, ob sie das Risiko eingehen sollte, sich ein zweites zu bestellen, da spürte sie das vertraute Vibrieren in der Tasche ihres Sweatshirts. Der hohe Klingelton ihres Telefons ließ einige Gäste in ihre Richtung blicken, bevor sie es aus ihrer Tasche ziehen konnte. Elliot. Ein Anflug von Gewissensbissen. Sie hatte ihn zuerst anrufen wollen.
«Elliot. Entschuldige. Ich wollte dich gerade anrufen.» Sie durchquerte die Bar und trat hinaus in die Lobby.
«Elizabeth. Hi. Du hast von ihm gehört, ja?» Sie bemerkte, dass in seiner Stimme eine Spur mehr Ärger schwang als Erleichterung darüber, dass sie den Aufenthaltsort ihres Sohnes herausgefunden hatten.
«Ja. Er hat angerufen. Was für ein kleiner Schwachkopf. Und das alles nur für ein Mädchen.»
«Ein Mädchen?» Seltsame Frage. Elizabeth wurde etwas bang. Die Ruhe von vor wenigen Minuten war verflogen.
«Ja. Das hat er mir erzählt. Er ist zu einem Mädchen geflogen.»
«Das ist alles, was er dir erzählt hat?»
«Ja. Wieso, was ist los? Sag’s mir.»
«Sag lieber Frau. Soweit ich verstanden habe, ist diese Freundin von ihm Mitte dreißig.»
Elizabeth ächzte und stützte sich mit dem Arm an einem Metallpfeiler ab. Ihr Sohn war kaum siebzehn Jahre alt.
«Was? Woher weißt du das?»
«Er hat es mir gesagt! Er dachte, ich würde mir weniger Sorgen machte, wenn ich wüsste, dass er mit jemand Älterem zusammen ist. Was sollen wir machen?»
«Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Ich könnte ihn erwürgen. Er war am Telefon eben lammfromm. Wer ist sie?»
«Keine Ahnung. Ihr Nachname ist Giardino, das weiß ich noch. Ich fahre morgen zu ihrem Haus und hole ihn ab.»
Giardino? Giardino. Wieso klang der Name in Elizabeths Ohren so vertraut? War sie berühmt? Hieß so ein Laden, in dem sie einkaufte? Ein Student? Plötzlich traf sie die Erkenntnis mit einer Wucht, als sei sie durch eine Glastür gerannt.
«Michelle. Hat er den Namen Michelle erwähnt?»
«Genau, das ist es! Kennst du die Frau?»
«Das ist die Mathe-Nachhilfelehrerin, die zu uns nach Hause kommt.» Sie hielt sich gerade noch zurück hinzuzufügen: «Die, auf die du bestanden hast.»
«Und dir ist nichts aufgefallen?» Es klang anklagend.
«Versuch nicht, mir das in die Schuhe zu schieben. Sie taucht jeden Donnerstag nach der Schule bei uns auf. Normalerweise geht sie direkt, nachdem ich nach Hause gekommen bin.» Elizabeth war ein wenig übel. Michelle Giardino, die ihre gefütterte Winterjacke zuzog und ihr langes dunkles Haar aus der Kapuze befreite, bevor sie auf dem Weg zur Tür beiläufig rief: «Bis nächste Woche, Zach!» Zach im Schneidersitz auf dem Fußboden, seine Schulbücher auf dem Wohnzimmertisch aufgeschlagen. Der Boden. Das Sofa. Ihr Bett. War Miss Giardino darin mit ihrem Teenagersohn herumgerollt? Hatte Elizabeth sie dafür bezahlt, dass sie … sie konnte sich kaum überwinden, es in Betracht zu ziehen … dass sie Zach fickte?
«Woher hatten wir sie?»
«Von der Schule! Die Schule hat sie uns empfohlen.»
«Die müssen wir jedenfalls sofort informieren.»
«Ja. Ja, natürlich.» Aber wenn sie ganz ehrlich war, wusste sie, dass sie das nicht tun würde, jedenfalls nicht gleich. Sie hasste es, mit dem Schulbüro der Highschool ihres Sohnes zu telefonieren. Die Abfälligkeit in ihren Stimmen, wenn sie ihren Entschuldigungen dafür lauschten, dass sie irgendwelche Gebühren zu spät bezahlt hatte, oder die herablassende Art, mit der sie darauf hinwiesen, wie wichtig die Anwesenheitszeiten waren. Sie wusste schon, dass man ihr irgendwie den schwarzen Peter zuschieben würde. Nur eine schlechte Mutter konnte zulassen, dass so etwas passierte. Einmal mehr tauchte Michelle Giardinos hübsches Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Wut stieg in ihr auf, und sie sehnte sich danach, ihr die Selbstgefälligkeit aus dem Gesicht zu ohrfeigen. «Wenigstens weiß ich jetzt, warum er die ganze Sache so geheim gehalten hat.»
«Sie ist es, auf die ich sauer bin», sagte Elliot. «Ihm gebe ich keine Schuld. Ich meine, meine erste Freundin war auch deutlich älter als ich.»
Elizabeths Blut gefror. Sollte sie das in irgendeiner Weise beruhigen? Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, also beschloss sie, einfach gar nichts zu sagen. Das Schweigen zwischen ihnen wurde durch ein leichtes Knacken in der Leitung unterbrochen.
«Ich …» Er klang, als wolle er versuchen, sie zu trösten oder zu relativieren, was er gesagt hatte, aber dann besann er sich eines Besseren und fuhr fort: «Wir rufen dich morgen wieder an, wenn ich ihn abgeholt habe. Dann können wir zu dritt reden.»
In Elizabeth sträubte sich etwas. Sie mochte es nicht, wenn Elliot die Elternrolle einnahm. Sie schluckte ihre Irritation hinunter und antwortete: «Ja. Wir reden dann. Tschüs.»
«Okay. Dann also Tschüs.»
«Viel Glück.»
«Danke.» Ein müdes Glucksen, dann war er weg.
Der nächste Morgen vertrieb jede Erinnerung an den blauen Himmel und die helle Wintersonne des Tages zuvor. Fleckige graue Wolken hingen tief über den feuchten Feldern, und starke Windstöße rüttelten an den kahlen Ästen der Bäume. Der Speisesaal des Hotels war voller verzagt aussehender Gäste, die neben gepackten Koffern saßen. «Verspätet.» – «Wir wissen nichts.» – «Könnte gestrichen werden.» Die Stimmung im Raum und der Mangel an Tischen veranlassten Elizabeth dazu, sich einen Kaffee im Pappbecher zu holen und zu ihrem Wagen hinauszugehen.
Die Straße nach Bandon war einigermaßen leicht zu finden, aber dann bog sie in einem Dorf namens Old Chapel falsch ab und landete oben auf einem Hügel an einer Kreuzung, an der keiner der Orte angeschrieben stand, die in der richtigen Richtung lagen. Eine Gruppe von windzerzausten Kindern spähte über die Mauer eines Schulspielplatzes zu ihr herüber, als sie wendete und zurück in das Dorf fuhr. Dieses Mal fand sie die richtige Straße und fuhr bald an den imposanten Steinmauern der alten Klosterkirche von Timoleague vorbei. Dann schien die Straße ins Inland abzudrehen, fort von der Küste, und Elizabeth fragte sich schon, ob sie wieder die falsche Richtung genommen hatte. Doch dann tauchte sie aus einem langen Tunnel von Bäumen wieder auf und befand sich auf einem schmalen Fahrdamm durch etwas, das wie Salzwiesen aussah. Am Ende davon wölbte sich eine bucklige Brücke, die aus dem Fels gehauen schien. Dahinter gab es einen breiteren Grünstreifen am Straßenrand, und sie fuhr an die Seite, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Noelles rote Markierungen endeten bei dem Dorf Muirinish ein Stück weiter im Binnenland, denn Elizabeth hatte ihnen erzählt, dass sie dorthin wolle. Sie wusste jedoch, dass sie ans Meer musste. Wenn sie durch die Windschutzscheibe spähte, sah sie nichts, was nach Haus oder einer Zufahrt aussah. Vielleicht war das Haus schon vor Jahren abgerissen worden, und sie war nun stolze Besitzerin von einem Haufen Schutt? Sie beschloss, sich zu Fuß auf Erkundungstour zu begeben, griff nach ihrer Handtasche und stieg aus.
Der Wind war stark, aber nachdem sie so lange im Auto gesessen hatte, genoss sie, wie er ihr ins Gesicht blies und nach dem Salz vom Meer schmeckte. Die Straße beschrieb eine leichte Kurve, und die Bäume wurden dichter, aber dann kam sie an eine Lichtung, die mit verdorrtem Gras bewachsen war. Sie kämpfte sich hindurch und erblickte ein verrostetes Tor, das an einer Mauer lehnte. Es war der Eingang zu einem Feldweg oder einer alten Auffahrt. Elizabeth zögerte einen Moment, als ihr einfiel, wie schlecht sie für eine solche Erkundung gerüstet war. Ihre Turnschuhe und die dünnen Jeans würden schnell durchnässt sein. Vielleicht sollte sie warten, bis sie irgendwo Gummistiefel aufgetrieben hatte? Nein. Im Auto lag trockene Kleidung, die sie später anziehen konnte. Es war nicht ideal so, aber es musste reichen. Sie ging wie ein Storch und versuchte dabei, das nasse Gras mit jedem Schritt flach zu drücken. Ein Stück von der Straße entfernt war der Feldweg etwas weniger zugewuchert, und sie stellte fest, dass sie auf einer der Fahrspuren gut vorankam, wobei sie die meisten Pfützen und schlickigen Stellen umrundete. Hinter einer niedrigen Steinmauer rechts von ihr standen ein paar uralte Apfelbäume. Auf der linken Seite fiel sanft eine Wiese ab, die so aussah, als hätte darauf in jüngster Vergangenheit Vieh geweidet. Sie konnte das Meer hören, aber nicht sehen, bis der Weg nach oben führte. Dann lag das Meer auf einmal vor ihr, erstreckte sich weit in jede Richtung. Elizabeth schnappte nach Luft, so schön war es. Ein paar Verse eines Sonetts von Keats, das sie dieses Semester durchgenommen hatte, schossen ihr durch den Kopf.
«Ihr, deren Augen brennend oder matt,
Ergötzt sie wieder auf der weiten Flut!»
Das Meer. Sein Klang, der Geruch, die zerfetzten weißen Ränder, die in weiter Entfernung auf die Klippen trafen. Sie suchte den Horizont ab und dachte an ihre Mutter Patricia. Hatte sie hier gestanden? War dies das erste Mal, dass Elizabeth diesen Ausblick sah, oder hatten ihre kindlichen Augen ihn bereits aufgesogen, um dann alles wieder zu vergessen? Erst in diesem Augenblick bemerkte sie das Haus, das zwischen dem Meer und den Überresten einer Burg eingezwängt stand. Das musste es sein. Castle House. Begeisterung wallte in ihr auf, und sie machte sich, so schnell sie konnte, auf den Weg hinunter zu ihrem Erbe.
Elizabeth war sich nicht ganz sicher, was sie erwartet hatte, aber auf keinen Fall war es dieses Haus gewesen. Es war nicht groß genug, um ein Landsitz zu sein, und nicht klein genug, um als Cottage durchzugehen. Das Haus besaß zwei Stockwerke und hatte eindeutig schon bessere Zeiten gesehen. Die verblichene blaue Farbe an den Fenstern und Türen war rissig und blätterte ab. Hinter den Scheiben hingen grau und ermattet Gardinen. Der Weg von dem kleinen Tor zur Eingangsveranda war unter einem Teppich von Unkraut verschwunden. Hinter dem Haus erhob sich geisterhaft die Burgruine. Der Wind schien mit sich selbst um seine Mauern Fangen zu spielen, und Elizabeth verspürte ein eigenartiges Unbehagen. Sie hätte es nicht Furcht genannt, aber sie war sich auch nicht sicher, dass sie dieses Haus alleine betreten wollte. Ein paar kleine Gischtwolken tanzten durch die Luft, und das Dröhnen der Wellen klang beinahe bedrohlich. Sie tastete in der Tasche nach dem Schlüssel und hielt ihn einen Moment in der Hand.
Zuerst schien das Schloss so eingerostet, dass Elizabeth schon glaubte, das Haus habe ihr die Entscheidung abgenommen – sie würde nicht hineingehen. Doch dann änderte es plötzlich seine Meinung, und der Schlüssel drehte sich. Sie drückte auf die Klinke, und die Tür öffnete sich mit einem langen Knarren. Als Elizabeth in das düstere Innere spähte, sah sie einen staubigen, von toten Fliegen und Wespen übersäten Boden und eine Treppe, die hinauf in die Dunkelheit führte. Sie entdeckte einen Lichtschalter, und zu ihrer großen Überraschung funktionierte er. Eine schwache Glühlampe erleuchtete den Flur. Elizabeth trat in das Haus und zog die Tür hinter sich zu. Ein Zimmer auf jeder Seite. Sie öffnete eine Tür und dann die andere. Beide Zimmer sahen, abgesehen von den Tapeten, mehr oder weniger gleich aus. Zeitungen lagen über den Boden ausgebreitet. Von der Möblierung war nur ein einzelner, mit Farbe bekleckerter Holzstuhl übrig. Ruß war aus den Kaminen geweht und lag auf dem Boden. Sie ging an der Treppe vorbei durch eine geöffnete Tür in die Küche. Einige Schranktüren standen offen, als habe man sie absichtlich so stehen lassen, und kleine Stapel von staubigem Geschirr standen auf der Arbeitsfläche herum. Ein Besen lehnte an einer Tür, die die Hintertür sein musste, als hätte jemand vorgehabt zu putzen und sich dann eines Besseren besonnen. Wieder funktionierte der Lichtschalter, und eine kahle Neonröhre an der Decke erwachte flackernd zum Leben. Irgendwie machte die Helligkeit den Raum noch kälter. Elizabeth erschauerte und trat zurück in den Flur. Sie untersuchte die Treppe. War sie sicher? Ob das obere Stockwerk wohl ihr Gewicht tragen würde? Und musste sie überhaupt nach oben gehen? Wonach suchte sie dort? Dies war einfach nur ein verlassenes Haus ohne jede Spur von den Menschen, deren Zuhause es einst gewesen war. Sie fragte sich, wie lange es schon leerstand.
Sie war nicht bereit, sich ihre Niederlage einzugestehen, und finster entschlossen, in diesem Haus einen Hinweis auf ihren Vater zu finden, also stieg sie vorsichtig die Stufen empor. Das Knarren der Dielen verband sich mit dem Rattern der Fensterrahmen im Wind, und Elizabeth bemerkte, dass sie auf Zehenspitzen ging und durch das Haus schlich, als fürchtete sie, es aufzustören. Oben war es beinahe dunkel. Sie tastete nach dem Lichtschalter, aber sein Klicken zeigte hier keine Wirkung. Als sie sich umwandte, um wieder nach unten ins Licht zu gehen, glaubte sie ein Geräusch zu hören. Ein Klacken, das ohne Rhythmus einsetzte und wieder aufhörte. Es schien aus der Schlafzimmertür gegenüber der obersten Treppenstufe zu dringen. Irgendwie war ihre Neugierde größer als ihre Furcht, und sie überquerte den Treppenabsatz. Stille, doch dann war es wieder da: Klack, klack, klack. Stille. Sie legte ihre Hand auf den Türknauf und drehte ihn. Ein Innehalten. Zwei tiefe Atemzüge, dann schob sie die Tür auf. Sie sah die Füße mit den langen Zehen über den Boden gleiten, und dann warf sich eine flatternde Taube in einer Explosion von Federn auf sie. Sie spürte die schwere Wärme ihres Körpers über ihr Gesicht streichen. Elizabeth schrie auf und floh die Treppe hinunter zur Haustür hinaus, wo sich ihr ein Mann in den Weg stellte. Sie schrie erneut auf.
«Entschuldigung, tut mir leid. Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen.» Der Mann machte ein paar Schritte rückwärts. Mit hämmerndem Herzen versuchte Elizabeth ihren möglichen Angreifer einzuschätzen. Er war etwas größer als sie, aber im selben Alter, vermutete sie. Er hatte kurzes dunkles Haar und trug einen abgetragenen grünen Pullover mit V-Ausschnitt über einem kragenlosen Hemd. Er sah nicht besonders gefährlich aus.
«Sie haben mir vielleicht einen Schreck eingejagt», sagte sie und atmete noch immer schwer. «Ich hatte niemanden erwartet und bin gerade von einer Taube angegriffen worden.»
Er lächelte, und Elizabeth fielen seine weißen, ebenmäßigen Zähne auf. Wenn sie genauer hinsah, waren auch seine Gesichtszüge recht gleichmäßig. Sie hätte ihn vielleicht sogar als gut aussehend beschrieben.
«Ich habe nur gesehen, dass Licht an war. Ich habe da unten an den Zäunen gearbeitet.» Er zeigte auf das Feld zwischen dem Haus und dem Meer. «Ich heiße übrigens Brian.»
«Ich bin Elizabeth.» Sie schüttelten einander die Hände, und sie erschrak darüber, wie rau sich seine Haut anfühlte. Mehr wie Fell oder Leder als wie die Handfläche eines Menschen.
«Schön, Sie kennenzulernen, Elizabeth. Was führt Sie an solch einem trüben Tag hierher?»
«Tja.» Elizabeth bemerkte, dass sie noch immer den Schlüssel in der Hand hielt. «Ich bin hier geboren worden.»
«Wirklich? Das ist erstaunlich.»
«Ja, das Haus gehörte meinem Vater. Edward Foley. Ich habe ihn oder diesen Ort nie kennengelernt. Er ist gestorben, als ich noch sehr klein war.»
«Edward Foley? Klar, aber er ist nicht tot.»
Aus dem Haus drang ein Krachen, als die Taube die Flucht ergriff.