Es war ein langes, geducktes Gebäude, grob verputzt und mit einer kurzen Kiesauffahrt. Es sah eher aus wie ein großer Bungalow, als dass es Elizabeths Vorstellung von einem Altersheim entsprochen hätte. Eine Kette aus weißem Plastik schützte die Ränder der quadratischen Rasenfläche, die bis zur Straße hinunterreichte. Ein diskretes Schild wies darauf hin, dass dies das Abbey Court Care Home war. Elizabeth fand es traurig, dass ein Mann, der sein Leben in der schroffen Schönheit verbracht hatte, der sie in Muirinish begegnet war, seine Tage in dieser vorstädtischen Tristesse beenden sollte.
Brian fuhr den Wagen bis direkt vor den Eingang und machte den Motor aus.
«Also, ich habe noch ein paar Dinge in der Stadt zu erledigen. Ich komme Sie in, sagen wir, anderthalb Stunden wieder abholen? Klingt das gut?»
«Perfekt.»
Nach ihrer zunächst schockierten Reaktion auf die Neuigkeit, dass ihr Vater noch am Leben sei, hatte Brian erklärt, dass er das Land bei Muirinish erst vor kurzem gekauft habe und dass ihr Vater, soweit er wisse, die letzten vier oder fünf Jahre in Vollzeitpflege verbracht habe. Bevor sie überhaupt darüber hatte nachdenken können, hatte Brian ihr angeboten, sie zu dem Altersheim zu fahren. Dann hatte er seine Tante angerufen, die normalerweise nur während der Sommermonate Gäste aufnahm, aber nach einer kurzen Unterhaltung zugestimmt hatte, Elizabeth zu beherbergen. Es war eine angenehme Abwechslung, dass sich einmal jemand anders um alles kümmerte.
Das Altersheim befand sich ungefähr eine Stunde Fahrt weit im Landesinneren, in den Außenbezirken von Clonteer, der nächsten Stadt. Elizabeth war etwas nervös gewesen, eine so lange Zeit allein mit einem Fremden im Auto zu verbringen, aber die Unterhaltung war entspannt dahingeplätschert. Gelegentlich hatte sie das Gefühl, als flirtete er mit ihr, und ab und zu war sie sich ziemlich sicher, selbst zurückzuflirten. Brian war einer dieser Männer, die sich in ihrer eigenen Haut äußerst wohl zu fühlen schienen, und das gefiel Elizabeth. Er war selbstbewusst, und er hatte offenbar Freude daran, sie zum Lachen zu bringen. Es machte Spaß, Zeit mit einem ungebundenen Mann ohne jegliche Erwartungen an sie zu verbringen.
Nach Elliot hatte sie sich mit ein paar Männern getroffen. Sie hatte das Gefühl gehabt, das tun zu müssen, nicht nur um über die Demütigung der Scheidung hinwegzukommen, sondern auch um sich zu bestätigen, dass sie noch immer eine Frau war, die für Männer attraktiv sein konnte. Eine Beziehung war zu Ende, nicht ihr Leben, hatte sie sich gesagt. Die Liebe ihres Lebens wartete vielleicht noch auf sie.
Wohlmeinende Freunde vom Hunter College hatten sie zu verkuppeln versucht. Mit einem Professor, der alt genug war, um ihr Vater zu sein, gefolgt von einem Mann mittleren Alters aus dem Büro für die Vergabe von Studienplätzen, der sich bei ihrem Treffen so betrunken hatte, dass er sich auf ihre Schuhe hatte übergeben müssen. Sie hatte es mit unterschiedlichen Apps versucht, aber nach ein paar Treffen mit Männern, die entweder noch ganz besessen von ihrer Exfrau, nicht geschieden oder bei der Nahrungsaufnahme extrem laut waren – an anderen Tischen hatten sich die Leute umgedreht! –, hatte sie beschlossen, einfach eine Weile Single zu sein. Es half nicht gerade, dass sich von ihren misslungenen Dates keiner der Männer die Mühe machte, anzurufen und auf eine zweite Chance zu hoffen. Sie schien vom Markt zu sein, ob sie es wollte oder nicht. Sie hatte ihre Arbeit und ihre Freunde, und dann, als Zach älter wurde, stellte sie fest, dass sie sich auf seine Gesellschaft verließ. Nun machte sie sich Gedanken, ob das vielleicht etwas mit der ganzen Michelle-Giardino-Situation zu tun haben könnte.
«Reisen Sie allein?», fragte Brian.
«Ja. Ich habe landeinwärts Familie. Meine Mutter ist gestorben. Ich bin zurückgekommen, um auszumisten.»
«Tut mir leid, das zu hören. Ich habe meine Mutter vor drei Jahren verloren.»
«Sie war lange krank.»
Elizabeth spürte, wie Brian ihr beim Fahren Blicke zuwarf.
«Und wartet in New York Familie auf Sie?»
«Nein. Na ja, ein Sohn, aber der ist gerade zu Besuch bei seinem Vater. Ich bin geschieden.»
«Ach Mist!», sagte Brian lachend. «Bei mir zwei Jahre. Und bei Ihnen?»
«Fast acht», antwortete sie fröhlich.
«Offenbar ist es doch nicht für jeden so lustig, auf einem Hof zu leben. Sie … Entschuldigung, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich darüber rede?»
«Nein, gar nicht. Ich liebe Geschichten über die unglücklichen Beziehungen anderer Leute.» Sie lachten beide. «Wo haben Sie sich denn kennengelernt?», fragte Elizabeth schnell, um zu bekräftigen, dass ihr Interesse echt war.
«Auf einer Hochzeit. Wo Liebesgeschichten eben beginnen. Sie kam aus Dublin. Mein Freund Kevin heiratete eine Freundin von ihr. Wir haben uns verliebt und beinahe ein Jahr lang eine Fernbeziehung geführt, bevor ich ihr die entscheidende Frage stellte.»
«War sie … wie heißt sie?»
«Sara ohne H.»
«War Sara vorher nie auf dem Hof?»
«Doch. Ich war da nicht ganz fair. Es lag mehr an den Wintern als am Hof selbst. Es gefiel ihr, dort zu wohnen, wenn sie raus- und etwas unternehmen konnte, wir hatten ein kleines Boot, aber die Winter sind lang.»
«Kinder?»
«Keine Kinder. Wir haben es versucht, aber ohne Erfolg. Jetzt bin ich natürlich sehr froh darüber. So konnten wir einen klaren Schnitt machen. Und Sie?»
«Ein Sohn.»
«Ja, das haben Sie gesagt. Ich meinte wohl eher: Was ging schief?»
«Das ist kompliziert.»
«Ach du meine Güte. Das ist schlimm.»
Sie wandten sich einander zu und grinsten.
Als Brian fortfuhr, blieb Elizabeth einen Augenblick still vor dem Abbey-Court-Heim stehen. Sie fragte sich, warum hier keine anderen Autos parkten. Vielleicht gab es einen Parkplatz, der ihr nicht aufgefallen war. Sie ging über den knirschenden Kies und drückte vorsichtig die Eingangstür aus Glas und Kiefernholz auf. Innen lag eine großzügige Eingangshalle, die mit glänzendem cremefarbenem Linoleum ausgelegt war. An einer Reihe geschlossener Türen klebten schwarze Plastikschilder. «Büro», «Personal», «Aufenthaltsraum». Ein Flur führte durch den hinteren Bereich der Halle in beide Richtungen. Elizabeth wollte gerade an die Tür mit der Aufschrift «Büro» klopfen, als ein großer dünner Mann mit einem hellroten Haarschopf um die Flurecke bog. Er trug einen dunkelblauen Rucksack, enge Jeans und dick ausgepolsterte Turnschuhe, die den schmalen Schnitt der Jeans nur noch betonten. Solche Turnschuhe trugen einige ihrer cooleren Studenten in New York, aber in Clonteer hätte sie nicht mit ihnen gerechnet.
«Kann ich Ihnen helfen?»
«Hallo, ich würde gern einen Patienten besuchen.»
«Bewohner.»
«Entschuldigung?»
«So nennen wir sie hier. Bewohner.» Er lächelte und schien damit zuzugeben, dass der Begriff, mit dem man die alten Leute belegte, nichts an ihren Lebensumständen änderte.
«Dann also einen Bewohner», sagte Elizabeth mit einem trockenen Lächeln. «Ich möchte gern einen Bewohner besuchen.»
«Also, leider ist gerade keine Besuchszeit. Die Abendbelegschaft hat gerade ihre Schicht begonnen. Können Sie in einer Stunde oder so wiederkommen?»
«Oh, das könnte schwierig werden. Ich bin hier in der Gegend nur zu Besuch, wissen Sie. Arbeiten Sie hier? Könnten Sie die Vorschriften für mich aufweichen?»
«Ich bin Pfleger. Tagesschicht. Gerade fertig.» Er tippte auf seinen Rucksack, um darauf hinzuweisen, dass er gehen wollte.
Elizabeth versuchte ihre Überraschung zu verbergen. So hatte sie sich einen Pfleger nicht vorgestellt. Anscheinend schien Abbey Court allen ihren Erwartungen zu trotzen.
«Ich sage Ihnen was. Wenn Sie sich zehn Minuten in den Aufenthaltsraum setzen, kriege ich Sie bestimmt rein.»
«Danke. Vielen Dank.» Der Pfleger öffnete die Tür, und Elizabeth trat ein. In kleinen Halbkreisen standen Gruppen von Stühlen mit hohen Lehnen in dem großen Raum verteilt. Die gegenüberliegende Wand bestand aus Glas und öffnete den Blick in einen gepflegten Garten mit einigen alten Bäumen. Es war nicht das, was man als gemütlich bezeichnet hätte, aber es hatte auch keine kalte, grelle, institutionelle Anmutung.
«Kann ich Ihnen einen Tee oder Kaffee anbieten?»
«Aber Sie müssen doch los?»
«Ach, ich bin nicht in Eile. Vielleicht trinke ich selber noch einen.»
«Dann Kaffee, bitte. Aber nur wenn Sie sich sicher sind.»
«Ganz sicher. Es dauert nur einen kleinen Moment, ist das in Ordnung?»
«Großartig, danke.»
Der Pfleger verschwand in einer kleinen Pantry-Küche, die an den Raum angrenzte, und Elizabeth setzte sich auf einen der Stühle möglichst in die Nähe. Eine Ausgabe des Irish Examiner lag säuberlich gefaltet auf dem Tisch, und vielbenutzt aussehende Brettspiele waren an der Wand aufgestapelt.
«Ich bin übrigens Gordon!», rief der Pfleger aus dem kleinen Raum heraus.
«Elizabeth. Das ist wirklich nett von Ihnen.»
«Keine Umstände. Wen möchten Sie denn besuchen?»
«Einen alten Mann. Edward Foley. Kennen Sie ihn?»
«Den alten Teddy? Oh, na klar. Er ist ein reizender alter Kerl. Haben Sie ihn schon länger nicht mehr gesehen?»
Elizabeth zögerte, unsicher, wie sie antworten sollte. Sie wollte nicht lügen, aber die Wahrheit erschien ihr allzu sperrig. Bevor sie sich für eine Antwort entscheiden konnte, fügte Gordon hinzu: «Ich meine, er weilt nicht mehr wirklich unter uns, er ist mehr in seiner eigenen Welt, aber er macht keine Mühe. Das kann man nicht von allen behaupten.» Elizabeth war enttäuscht. Eine Reise umsonst. Es würde hier keine Antworten geben. Keine Wiedervereinigung am Sterbebett oder Tränen über all die vergeudeten Jahre. Die Vergangenheit würde unbeweint bleiben.
Gordon tauchte mit zwei dampfenden Tassen wieder auf und setzte sich auf den Stuhl neben Elizabeth. «Ein Verwandter, ja?»
«Na ja, genau genommen ist er mein Vater.» Es fühlte sich eigenartig und beinahe etwas verboten an, die Worte laut auszusprechen, besonders einem Fremden gegenüber. Sie konnte die Missbilligung ihrer Mutter geradezu spüren.
Gordon hob seine blassen Augenbrauen. «Wirklich?» Es war eine Frage, die so vieles ausdrückte. Warum hat nie jemand seine Tochter erwähnt? Wo haben Sie gesteckt? Was machen Sie jetzt hier?
Elizabeth befand es für das Einfachste, einfach bloß «Ja» zu sagen.
Gordon begriff, dass es wohl das Beste war, nicht weiter nachzuhaken, also nahm er seine Kaffeetasse. «Oh, nehmen Sie Zucker? Entschuldigung.»
«Nein. So ist es super, danke.»
Sie nahmen beide einen Schluck.
Draußen standen zwei Tauben Wache, marschierten den geteerten Weg vor der Terrassentür auf und ab.
«Arbeiten Sie hier schon lange, Gordon?»
«Nein. Erst ein paar Monate. Ich war Pfleger oben in Dublin, aber dann … na ja, eine schmutzige Trennung, und als klassischer irischer Junge bin ich in Mammys Schoß zurückgekehrt.»
Elizabeth betrachtete Gordon. Er hatte den Kopf gesenkt und untersuchte mit seinen klaren grauen Augen den Boden. Sie bemerkte, wie eingefallen seine Wangen waren, wie der Schwung seines langen Kiefers scharf hervorstach. Sie fragte sich, wer ihm wohl sein zartes junges Herz gebrochen hatte.
«Tut mir leid, das zu hören. Gefällt es Ihnen hier?»
«Ach, es ist ganz in Ordnung. Die meisten Bewohner sind reizend, und der Job ist recht einfach – na ja, abgesehen von dem ganzen Sterben.» Er zuckte mit den Schultern und legte beide Hände um die warme Tasse. «Um ehrlich zu sein, wenn der Frühling kommt, mache ich mich vermutlich wieder auf nach Dublin oder gehe vielleicht rüber nach London. Viel arbeiten, wissen Sie, denn es ist ja wohl klar, dass ich in Clonteer kaum einen neuen Freund finden werde.» Irgendetwas in Elizabeths Gesicht musste ihm ihre Überraschung verraten haben, denn Gordon fuhr augenblicklich fort. «Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht schockieren. Ich habe einfach angenommen …»
«Nein, nein», unterbrach Elizabeth ihn, «mein Ehemann ist schwul.»
Schweigen. Wieso um alles in der Welt hatte sie das gesagt? Es musste an dem Gespräch mit Brian im Auto liegen. Die Worte schwebten zwischen ihnen in der Luft.
«War», sagte sie in dem Versuch, die Dinge klarzustellen, aber Gordon sah nur noch überraschter aus. «Er war mein Ehemann. Er ist schwul. Entschuldigung, ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe.»
«Nein, danke, dass Sie es mir erzählt haben. Es ist immer schön zu hören, dass es da draußen noch mehr von uns gibt!» Gordon lachte. «Das vergisst man leicht, wenn man hier lebt.»
«Kann ich mir vorstellen», stimmte Elizabeth mit einem Grinsen zu.
Die Tür zur Eingangshalle wurde aufgestoßen, und eine kleine Frau mit zurückgebundenem Haar und dicken Beinen kam mit großen Schritten in den Aufenthaltsraum. Als sie Elizabeth und Gordon erblickte, stockte sie.
«Oh, mir war nicht klar, dass der Aufenthaltsraum im Moment benutzt wird. Gordon, ist deine Schicht nicht zu Ende?»
Gordon stand auf. «Doch. Elizabeth, das ist unsere leitende Pflegerin. Es heißt doch leitende Pflegerin, oder?»
Ein strenger Blick zielte in seine Richtung. «Ja, Gordon, es heißt leitende Pflegerin. Schön, Sie kennenzulernen, Elizabeth. Ich bin Sarah Cahill, die leitende Pflegerin hier in Abbey Court.» Die beiden Frauen schüttelten sich die Hände. «Konnte Gordon Ihnen helfen?»
«Ja, danke. Er war sehr hilfsbereit.» Elizabeth hatte das unbehagliche Gefühl, dass sie Gordon irgendeine Art von Ärger eingebrockt hatte. «Ich hatte gehofft, einen Verwandten besuchen zu können.»
«Ich habe die Besuchszeiten erläutert», warf Gordon hastig ein.
«Ja. Das hat er», bestätigte Elizabeth. «Es ist nur so, dass ich auf der Durchreise bin, und ich weiß nicht, wann ich wiederkommen kann.»
Sarah lächelte herzlich. «Kein Problem. Überhaupt gar kein Problem. Gordon hätte einfach nach mir suchen sollen.»
Gordon starrte sie an. Sein Gesichtsausdruck legte nahe, dass sie ihm mit Entlassung gedroht hatte, als er das letzte Mal jenseits der Besuchszeiten einen Gast hereingelassen hatte.
«Um welchen Bewohner geht es?»
«Edward Foley.»
«Das ist der alte Teddy», stellte Gordon klar.
Ein weiterer strenger Blick. «Danke, Gordon. Mr. Foley ist in Zimmer drei. Ob du Elizabeth wohl hinbringen könntest, Gordon?»
Ein weiteres Lächeln und Händeschütteln, dann verschwand Sarah mit klackernden Schritten über den Linoleumboden.
«Doppelzüngige Schlange», murmelte Gordon leise.
«Hoffentlich habe ich Ihnen keinen Ärger eingebrockt.»
«Kein Problem. Die hat mich sowieso auf dem Kieker. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Teddy.»
Das Zimmer erinnerte sie an die Krankenhauszeit ihrer Mutter. Der säuerliche Geruch schlecht gewaschener Körper vermischt mit dem Gestank menschlicher Exkremente. Das Zimmer selbst war länglich und schmal und hatte an der Schmalseite gegenüber ein großes Fenster. Ein Einzelbett stand gegen die Wand geschoben, und darin lag ein alter Mann. Elizabeth trat auf ihn zu. Seine rot geränderten Augen waren geöffnet, schienen aber auf nichts gerichtet. Einzelne graue Strähnen sprossen aus seinem Kopf, und fleckige Bartstoppeln sprenkelten das pergamentfarbene Gesicht, er war wohl etwas willkürlich von einer vielbeschäftigten Pflegerin rasiert worden. Er sah ungekämmt und vernachlässigt aus. Sein grün-weißer Schlafanzug war bis hoch zum Kinn zugeknöpft. Das einzige Geräusch, das er von sich gab, waren seine rauen Atemzüge, seine trockenen Lippen standen offen.
«Na, Teddy?» Gordon schrie den alten Mann beinahe an. Elizabeth zuckte zusammen. «Hier ist Besuch für Sie. Ist das nicht toll?»
Der alte Mann schien an dieser Neuigkeit nicht interessiert. Seine Augen bewegten sich nicht, sein Atem veränderte sich nicht.
«Begrüßen Sie ihn. Drücken Sie ihm die Hand. Das mag er.»
Elizabeth war unsicher. Es erschien ihr zu forsch, irgendwie zudringlich.
«Edward», sagte sie, und dann ein wenig lauter: «Ich bin Elizabeth.» Sie streckte die Hand aus und berührte seinen Arm. Er fühlte sich unter dem dünnen Stoff des Schlafanzugs so warm und dünn an.
Gordon schob ihr einen Stuhl hin. «Setzen Sie sich. Ich mache mich dann auf den Weg. Schön, Sie kennenzulernen.»
«Das finde ich auch, Gordon. Danke für Ihre Hilfe, und viel Glück mit allem.»
«Ihnen auch.» Als er aus dem Zimmer ging, drehte er sich noch einmal um und sagte: «Haben Sie Geduld. Teddy hat seine lichten Momente.»
Allein mit dem Mann, der ihr Vater war, begann sich Elizabeth zu fragen, warum sie eigentlich hier war. Selbst wenn er urplötzlich vollkommen klar wurde, was würde sie hierbei gewinnen? Er wusste nichts von ihrem Leben, und sie hatte keine Ahnung von seinem. Sie konnte ihm lediglich sagen, dass ihre Mutter ihr erzählt hatte, er sei vor vielen Jahren gestorben, und welcher Mensch wollte auf seinem Sterbebett so etwas hören? Jetzt, da Gordon weg war, fühlte sie sich wohler damit, die Hand des alten Mannes zu halten. Sie streichelte darüber, wiederholte ihren Namen und fügte dann leise hinzu: «Und ich bin deine Tochter.»
Die rasselnden Atemzüge, die in seine Lungen strömten und sie wieder verließen, gingen langsam und regelmäßig weiter.
«Ich war draußen am Castle House. Es ist sehr schön da. Es muss schwer für dich gewesen sein, es zu verlassen.»
Sein Blick bewegte sich nicht.
Elizabeth merkte, dass ihre Augen in Tränen schwammen. Ungehalten wischte sie sie weg. Schluss mit diesem rührseligen Quatsch. Sie kannte diesen Mann nicht und wusste nichts über ihn. Warum sollte sie für ihn Tränen vergießen?
«Entschuldigen Sie die Störung.» Sarah Cahill stand in der Tür. «Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist.»
«Ja», sagte Elizabeth so aufgeräumt, wie sie konnte. «Alles bestens.»
«Gordon hat mir gesagt, Sie seien Mr. Foleys Tochter?» Ihr Ton forderte eine Klarstellung.
«Na ja, biologisch betrachtet stimmt das, aber meine Eltern waren zerstritten. Wir haben einander nie kennengelernt.»
«Verstehe. Verstehe. Na ja, schön, dass Sie mit ihm Zeit verbringen können, bevor es zu spät ist.» Es wirkte aufrichtig.
«Danke. Ja. Ich dachte, ich würde ihn niemals kennenlernen können.»
«Falls Sie Interesse haben, es gibt da ein paar alte Familienfotos, die er mitgebracht hat. Es ist ganz schön, ein paar persönliche Dinge im Zimmer zu haben, wenn schon nicht für die Alten, dann wenigstens für das Pflegepersonal. Es lässt die Bewohner mehr zu echten Menschen werden.»
Die leitende Pflegerin beugte sich hinunter und öffnete die Schublade des Nachttischs.
«Sie sind hier drin. Bestimmt hätte er nichts dagegen, wenn Sie sie ansehen.»
«Danke.» Elizabeth sagte es leise, als teilten die beiden Frauen ein Geheimnis. Sarah zog sich zurück und schloss leise die Tür.
Ganz vorn in der Schublade lag ein kleiner Stapel Fotos neben einer Packung Magentabletten und einem alten Kugelschreiber. Sie nahm die Bilder heraus und hielt sie unter die Bettlampe.
Eine Frau, die am Strand mit zwei kleinen Jungen auf einer karierten Decke saß. Das muss der tote Bruder sein, dachte Elizabeth. Etwas an der Art, wie seine Lippen leicht nach unten gezogen waren, erinnerte sie an Zach. Sie sah genauer hin, um einen besseren Eindruck von Mrs. Foley zu bekommen. Ihre Großmutter war auf diesem Foto vermutlich jünger als Elizabeth, hatte aber mit ihrem Kopftuch und dem dauergewellten Haar die Ausstrahlung einer Rentnerin. Was einem aber am meisten ins Auge stach, war die Art, wie sie ihre Söhne umfasst hielt. Sie presste beide seitlich eng an sich. Im Gegensatz zu dem breiten, die Zähne entblößenden Lächeln ihrer Mutter blickten beide mürrisch drein, als fühlten sie sich unbehaglich. Es war eigenartig, dass er ausgerechnet dieses Foto all die Jahre aufbewahrt hatte.
Das nächste Foto zeigte Edward in seinen Zwanzigern, vermutete Elizabeth. Er posierte stolz neben einer Kuh, hielt eine Rosette und einen kleinen silbernen Pokal hoch. Elizabeth verglich den Mann auf dem Bild mit dem alten Mann neben ihr im Bett. Wie war aus diesem strahlenden Jüngling voller Begeisterung und Stolz nur diese verblasste Hülle geworden? Sie spürte, wie ihr erneut Tränen in die Augen stiegen, als sie sich an ihre eigene Mutter erinnerte und daran, dass sie als junge Frau ebenfalls einmal leuchtende Augen voller Hoffnung und Lachen gehabt haben musste. Es fiel ihr schwer, sich eine Version ihrer Mutter vorzustellen, die jemals sorglos gewesen war. Das Alter war ein grausamer Preis, den man für die Jugend zahlen musste. Elizabeth seufzte und nahm das nächste Foto zur Hand.
Zuerst war sie sich nicht sicher, warum das kleine Mädchen in dem roten Kleid ihr so vertraut vorkam, aber dann wurde ihr klar, dass das sie selbst war! Sie hatte das Bild noch niemals zuvor gesehen, auch wenn sie eine vage Erinnerung an das knallrote Schürzchen hatte. Wie alt mochte sie wohl auf diesem Foto sein? Vier oder fünf? Sie sah so glücklich aus, ihr kleines Gesicht lachte hellauf. Sie sah sich den Hintergrund näher an. Nur irgendein grünes Gebüsch. Sie hatte keine Ahnung, wo das Foto gemacht worden war. Dann traf sie die Erkenntnis, dass ihre Mutter über die Jahre mit Edward irgendwie in Kontakt gestanden haben musste. Wie hätte er sonst an dieses Foto kommen sollen? Hatte sie Edward schon einmal getroffen, ohne zu wissen, dass er ihr Vater war? Auf der Rückseite des Fotos stand nichts. Keine Hinweise.
Sie ging die nächsten Fotos durch. Eine Ansicht von Castle House und einige Menschen, die sie nicht erkannte, neben einem Tor. Das nächste war ein großes Gruppenfoto von einer Hochzeit. Man sah die Leute nur durch den bräunlichen Schleier hindurch, der immer über alten Fotos zu liegen schien.
Sie nahm die Menschen in Augenschein, die etwas unbeholfen auf der obersten Stufe vor einer gesichtslosen Kapelle standen. Da war Mrs. Foley, noch immer streng, aber nun ein bisschen älter aussehend, mit einem großen braunen Hut. Die in duftige Spitze gehüllte Braut sah eher durchschnittlich aus als hübsch, aber ihre Glückseligkeit erhellte das gesamte Bild. Der Ehemann … Elizabeth erstarrte. Er sah sehr aus wie Edward. Vielleicht war es der tote Bruder, aber der war doch bestimmt gestorben, bevor er hätte heiraten können? Sie drehte das Foto um, und dort auf der Rückseite stand in der Handschrift, die sie so gut kannte, «Teddy und Mary – 1972». Das Jahr vor ihrer Geburt. Sie sah sich das Bild abermals an. Das war definitiv ihr Vater, der da mit seiner Braut am Arm in die Kamera strahlte. Es ergab keinen Sinn.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Wer war dieser Mann, der da vor ihr im Bett lag? War er ihr Vater oder bloß ein Deckmäntelchen, und Rosemary hatte recht damit, dass ihre Mutter schwanger gewesen war, bevor sie gegangen war? Spazierte ihr richtiger Vater in Buncarragh The Green entlang und wusste nichts von ihrer Existenz? Aber wenn sie nicht Edward Foleys Tochter war, warum hatte man ihr Castle House hinterlassen? Die Fragen häuften sich zu einem unübersichtlichen Berg auf. Warum hatte der frisch verheiratete Edward auf eine Kontaktanzeige geantwortet? Wer hatte die Briefe geschrieben? Hatte ihre Mutter Mary gekannt? Wer war Mary?
Hastig steckte Elizabeth das Hochzeitsfoto in ihre Jackentasche und legte die anderen zurück in die Nachttischschublade. Sie starrte den alten Mann an. Seine Augenlider flatterten, und er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Steckte Edward Foley noch dadrin? Alle Antworten, die sie wollte, gefangen in dieser gebrechlichen Kreatur. Das war so viel schlimmer, als einfach nichts zu wissen.