Flucht war nun das Letzte, woran sie jetzt noch dachte. Nachdem Edward sie gerettet hatte, war sie dankbar in den Raum zurückgekehrt, der ihr jetzt wie eine Zuflucht vorkam, und hatte eine Tasse mit heißem, süßem Tee angenommen. Es war Patricia egal, ob Betäubungsmittel darin schwammen oder nicht. Sie musste das Zittern stoppen, aber lange bevor es Morgen wurde, bekam sie Fieber. Die Laken waren von ihrem Schweiß durchtränkt, und als Mrs. Foley sie für sie wechselte, lag sie unter dem Gewicht der Decken und zitterte so heftig, dass sie glaubte, ihr müssten die Zähne brechen.
Patricia hätte geschworen, dass sie die ganze Nacht wach gelegen hatte, aber als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass sie nicht nur eingeschlafen, sondern irgendwann auch in ein anderes Zimmer verlegt worden war. Sie fand sich nun in einem hohen Doppelbett mit verziertem Kopfteil aus glänzendem dunklem Holz wieder. Ein dazu passender Schrank stand an der Stirnwand, das Fenster befand sich gegenüber dem Bett. Die Tapete und die Vorhänge hatten beinahe denselben Bordeauxton, der an getrocknetes Blut erinnerte. Der schwere Stoff vor dem Fenster ließ das Geräusch des Windes ein wenig weiter weg klingen. Nach dem Trauma im Schlick fühlte sich Patricia hier sicher. Sie sank wieder in den Schlaf zurück.
Ihre hellen Momente kamen und gingen, aber die alte Mrs. Foley war eine Konstante. Sie wusch ihr das Gesicht mit einem kalten Lappen, hielt ihr Teetassen an die Lippen, zog ihre Bettwäsche zurecht und deckte sie zu. Patricias Hals fühlte sich wund und rau an, so dass ihr das Sprechen schwerfiel, aber der geflüsterte Monolog der alten Dame war tröstlich. «So, damit wirst du dich besser fühlen.» – «Viel Schlaf. Das ist es, was du brauchst.» Die Gefängniswärterin war zur Krankenschwester geworden, und Patricia fiel es nun deutlich leichter, für ihre Hilfe dankbar zu sein.
«Der Arzt war hier und hat uns ein Tonikum und ein Rezept dagelassen, aber dafür muss Teddy vermutlich nach Clonteer fahren.»
«Der Arzt?», krächzte Patricia. Die Worte fühlten sich in ihrem Hals an wie Messer. «Wann?»
«Heute Morgen», erklärte Mrs. Foley. «Du warst sehr erledigt, aber eine brave Patientin. Du hast dich aufgesetzt und ihn deine Brust und deinen Rücken abhorchen lassen.»
Patricia legte sich auf ihr Kissen zurück und schloss die Augen. Sagte ihr Edwards Mutter die Wahrheit? Sollte sie die Medizin nehmen? Sie war so müde …
«Was wollen Sie, Mrs. Foley?»
«Wie bitte, Liebes? Was ich will?»
Patricia suchte in ihrem Gesicht nach Hinweisen auf ihre Absichten.
«Wollen Sie, dass ich sterbe?»
Die alte Dame zuckte zurück. Sie wirkte von Patricias Frage wirklich getroffen, als sei eine solche Vorstellung für sie undenkbar.
«Wie kannst du nur eine solche … nein, ich … Ich will nur …» Sie senkte den Kopf und rieb sich die Augen, bevor sie sich abrupt abwandte und das Zimmer verließ. Patricia hörte nicht, dass der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Warum hatte ihre Frage die alte Frau aus der Fassung gebracht? Hatte sie wirklich vor, sie umzubringen? Wenn ja, warum hatte sie es nicht längst getan? Hatte sie so reagiert, weil sie bereits zuvor getötet hatte? Nein, sie war albern. Das war nur eine alte Dame, die den Verstand verloren hatte. Edward hatte ihr einmal zur Flucht verholfen. Sie war sich sicher, er würde es wieder tun.
Später ertönte ein leises Klopfen an der Tür, und bevor sie reagieren konnte, steckte Edward den Kopf ins Zimmer. Ohne nachzudenken, lächelte Patricia, und er trat ein.
«Wie geht es dir?», flüsterte er.
«Ganz gut. Halsschmerzen. Kopfweh.»
Edward nickte.
«Danke, dass du mich gerettet hast», fuhr sie kraftlos fort.
«Es tut mir leid, ich bin bloß so froh, dass ich dich noch rechtzeitig gefunden habe.» Seine dunklen Augen hielten ihren Blick fest, und für einen Augenblick sprach keiner von ihnen.
«Ist wirklich ein Arzt gekommen?»
«Ja. Ja, ist er. Deswegen hat sie dich hierher verlegt.»
Patricia runzelte die Stirn, um ihm zu bedeuten, dass sie seiner Logik nicht folgen konnte.
«Das Doppelbett», sagte Edward und zeigte darauf. «Wir sind verheiratet.» Er drehte hilflos seine Handflächen nach oben.
Patricia starrte ihn an und wusste nicht, was sie sagen sollte. An ihre Lebensumstände erinnert zu werden und daran, wie unkontrollierbar sie geworden waren, ließ sie einen Moment lang beinahe schwindeln. Ihre Panik erwachte wieder. Sie atmete ein paarmal tief durch. Sie fühlte sich nicht in der Lage, zu rufen oder zu schreien. Was musste sie wissen? Sie befeuchtete ihre gesprungenen Lippen.
«Warum lässt mich deine Mutter nicht gehen?»
Edward wand sich, zog am Bund seines Pullovers und drehte sich weg.
«Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Sie ist kein schlechter Mensch.»
«Was will sie?»
Edward wandte ihr den Rücken zu. «Sie will, dass wir glücklich sind.»
«Glücklich? O Gott. War das die ganze Zeit der Plan? Diese Briefe, Edward, diese Briefe!» Sie warf sich zurück auf die Matratze. Sprechen war eine Qual.
Edward kniete sich neben das Bett und nahm ihre Hand. «Das hier hätte niemals passieren dürfen. Meine Mutter hat nur versucht, mir zu helfen.» Er hielt inne und blickte zur Decke hinauf, als frage er eine höhere Macht, was er dieser Frau sagen sollte, die da vor ihm lag. «Wir haben dich gebraucht, hat sie gesagt, und sie hatte recht. Es schien das Einfachste, dass meine Mutter die Briefe schrieb, und erst nachdem wir uns kennengelernt hatten, wurde mir klar, wie falsch das alles war. Ich mochte dich, und diese Briefe, die haben dafür gesorgt, dass du mich mochtest.»
Patricia wandte sich von ihm ab und stöhnte.
Edward drückte ihre Hand fester. «Ich kann nicht. Du weißt, dass ich nicht die Worte habe. Ich kann nicht erklären. Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.»
«Wie hast du es fertiggebracht, niemals Lesen oder Schreiben zu lernen? Du warst doch kein Kind, als du von der Schule abgegangen bist, oder?»
Edward zerrte an seinem Kragen. «Es war nur … als es in der Vorschule und in der ersten Klasse unterrichtet wurde, habe ich einfach nicht den Bogen rausbekommen, und dann hat mich die Lehrerin, die alte Mrs. Cassidy, aufgegeben. Sie wusste, dass ich sowieso nur auf dem Hof arbeiten sollte, was machte es also aus? Als ich auf die weiterführende Schule kam, wurde kurz davon gesprochen, besondere Unterstützung für mich anzufordern, aber dann, na ja, dann musste ich abgehen.»
Patricia sah ihn an. Sein Gesicht war ganz verzogen vor Betrübnis über seine eigene Unzulänglichkeit. Dieser Mann wollte ihr nichts Böses. Sie vertraute ihm.
«Edward, du kannst das alles beenden. Du kannst es aufhören lassen.» Sie beugte sich vor, sodass sich ihre Gesichter beinahe berührten. Sie hoffte, er würde die Verzweiflung in ihren Augen sehen können.
«Ich kann nicht!» Edward spie ihr die Worte entgegen, als hielte sie nur ihre eigene Dummheit davon ab zu verstehen, warum er ihr nicht helfen konnte. Er stand auf, beunruhigt von seinem eigenen Ausbruch.
«Ich gehe. Werd schnell gesund.» Das Klicken der Tür, als sie sich schloss. Patricia kniff die Augen zusammen. Sie hatte keine Ahnung, was in Castle House vor sich ging oder was mit ihr geschehen würde, aber in diesem Augenblick ohne ihn wurde ihr bewusst, dass sie Edward vermisste. Ihren Edward.