Elizabeth schüttelte noch immer ungläubig den Kopf, als sie die Reisetasche in ihren Wagen stellte. Sie hatte sich Gedanken darüber gemacht, ob Tante Eileen sie in Verlegenheit bringen würde, indem sie ihr nichts berechnete oder vielleicht nur einen läppischen Betrag verlangte. Sie hatte sich gefragt, auf welchem Betrag sie bestehen sollte. Doch sie hätte sich darum keine Sorgen zu machen brauchen. Die alte Dame verkündete ganz sachlich, sie schulde ihr achtzig Euro. Elizabeth hoffte, dass sie nicht so verblüfft aussah, wie sie war. Das war kaum weniger, als das Hotel am Flughafen gekostet hätte. Sie beschloss, Oakley’s Cross bei TripAdvisor zu suchen.
Bevor sie losfahren konnte, hielt Brians Wagen vor ihr, und er stieg aus. Er sah frisch gewaschen und rasiert aus, hatte sich das Haar zurückgegelt, und unter seinem dunklen Pullover blitzte ein gestärkter weißer Kragen hervor. Anders als die meisten Leute sah er im Morgenlicht nach dem Date sogar besser aus.
Elizabeth öffnete ihre Tür, stieg aus und stützte sich auf ihr Autodach. Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie sie in ihrem zu großen Anorak aussah, der bis zum Kinn zugezogen war, und sie konnte sich nicht daran erinnern, im Spiegel heute Morgen einen Blick auf ihre Frisur geworfen zu haben.
«Morgen!», rief er mit einem Lächeln.
«Du hast mich gerade noch erwischt. Ich mache mich wieder auf den Weg.»
Er stand vor ihr, die geöffnete Wagentür trennte ihren Körper von seinem.
«Da bin ich aber froh.» Er sah zu Boden, und sagte dann, wobei er den Kopf nur halb wieder hob: «Hör mal, muss ich mich für gestern Abend entschuldigen? Wenn ich mich danebenbenommen habe, tut es mir sehr leid.»
Elizabeth war sich nicht sicher, was sie fühlte. Er hatte sie verärgert, das stimmte, aber dann hatten sie ziemlich lange herumgeknutscht, und sie konnte nicht abstreiten, dass sie sich freute, ihn zu sehen.
«Alles gut, Brian. Mach dir keine Sorgen. Es war nett.» Sie hielt ihm mit einem breiten Grinsen die Hand hin. Er schüttelte sie, und sie lachten beide ohne ersichtlichen Grund.
«Fährst du direkt los? Ich habe mich gefragt, ob ich dich zu einem Mittagessen irgendwo in Clonteer überreden kann.»
«Na ja, ich wollte mit einer Frau drüben in Muirinish sprechen, aber danach zurück nach Buncarragh fahren, also könnte das klappen.» Sie freute sich nicht gerade darauf, zu Keane and Sons zurückzukehren. Ein Mittagessen wäre eine willkommene Ablenkung.
«Super. Ich finde heraus, was geöffnet hat, und lasse es dich wissen. Wollen wir Nummern austauschen?»
«Klar.»
Sie fischten beide nach ihren Telefonen und gaben einander ihre Nummern. Es folgte eine weitere kurze, verlegene Pause, in der sie nicht wussten, ob ein Küsschen auf die Wange oder ein Händedruck angebracht war. Um nichts falsch zu machen, duckte sich Elizabeth wieder in ihren Wagen, rief fröhlich «Bis später!» und fuhr davon.
Die Strecke hinüber nach Muirinish erschien ihr bei Tageslicht viel kürzer und weit malerischer. Nachdem sie an Carey’s Pub vorübergefahren war, umrundete die Straße einen Hügel und eröffnete einen ungehinderten Blick aufs Meer. Rechts von ihr konnte sie so eben noch die Spitze der Burgruine ausmachen, die hinter einer Gruppe hoher Kiefern aufragte. Ihr Haus. So eigenartig, dass sie eine uralte irische Burg besaß, und noch seltsamer, dass sie Sitz ihrer Familie war. Sie hätte zu gern Zach angerufen und ihm davon erzählt, es witzelnd mit ihrer winzigen Wohnung in New York verglichen, aber sie wusste, dass sie das besser bleibenließ. Er brauchte Zeit, um sich abzuregen, und sie brauchte Zeit, um die Neuigkeit von seiner bevorstehenden Vaterschaft zu verdauen. Was sollte sie ihm am besten sagen? Gab es überhaupt etwas zu sagen? Anscheinend würde dieses Baby geboren werden, und abgesehen davon, Zach mit einem Haufen Kondome in eine Zeitmaschine zu stecken, konnte sie nicht das Geringste dagegen tun.
Sie bremste ab, als sie an dem Tor zum Castle House vorüberfuhr, und bog dann bei der Straßengabelung nicht auf die Dammstraße ab, sondern folgte den Schildern in Richtung Muirinish. Sie hielt Ausschau nach einer Tankstelle. Der Wagen hatte nicht mehr viel Sprit, und außerdem brauchte sie etwas zu essen. Da sie sowohl auf das Abendessen, als auch auf das Frühstück verzichtet hatte, war sie am Verhungern. Die von Hecken eingefasste schmale Straße führte in Kurven durch Felder und an ein paar stattlichen Neubauten vorbei, bis sie sich am Fuße eines Hügels verbreiterte. Zu ihrer Rechten standen große graue Gebäude mit gewölbten Wellblechdächern. Auf eine der Wände an der Schmalseite war eine Uhr gemalt worden, die der Welt verkündete, dass es für alle Zeiten viertel vor drei oder viertel nach neun sein würde. Wie viel Uhr genau, war schwer zu sagen, denn der Künstler hatte beide Zeiger gleich lang gemalt. In einem Fenster war ein großes weiß-rotes Schild zu sehen, auf dem «Viel Glück, Cork» stand. Elizabeth nahm an, dass sich das auf irgendeine bevorstehende Sportveranstaltung bezog, aber genauso gut hätte es dazu gedacht sein können, das Land für den Fall einer drohenden Apokalypse anzuspornen. Weiter die Straße hinunter standen einige Gebäude, die in einem schmutzigen Senfton gestrichen waren. Das große Schild wies sie als «Supermarkt und Eisenwarenhandel» aus. Elizabeth hielt davor an und stieg aus dem Wagen.
Der Geruch darin erinnerte sie an Keane and Sons in Buncarragh, aber dieser Laden war mit Gängen unterteilt wie jeder moderne Supermarkt. Sie ging ganz nach hinten durch, wo sie ein paar Kühlvitrinen entdeckte. Als sie ein in Zellophan verpacktes Würstchen im Brötchen und eine Dose Diet Coke mit zur Kasse nahm, bemerkte sie ein Schild, auf dem «Free Wi-Fi» stand.
«Gibt es hier ein Café?», fragte Elizabeth die junge Frau hinter der Kasse, deren dunkles Haar ihr über die Schultern herabhing. Auf beiden Seiten ragten leuchtend rosa Ohren heraus. Sie blickte auf und kniff die Augen zusammen, als habe Elizabeth in einer Fremdsprache gesprochen. Sie gab einen Laut von sich, den man am besten als fragendes Grunzen bezeichnen konnte.
«Das freie Internet? Gibt es einen Platz, wo ich mich hinsetzen und es nutzen kann?»
«Wo parken Sie?», fragte die junge Frau und zog sich eine Haarsträhne aus dem Mund. Elizabeth konnte dieser Unterhaltung wirklich nicht folgen, beschrieb ihr aber den Standort ihres Wagens.
«Sie kriegen das Wi-Fi da draußen. Es ist das einzige, und es gibt kein Passwort. Brauchen Sie eine Tüte?»
Brauchte sie nicht. Elizabeth zahlte, ging hinaus zu ihrem Wagen und nahm ihre Brille vom Beifahrersitz. Als sie ihren Laptop öffnete, funktionierte alles so, wie die Kassiererin es beschrieben hatte.
Elizabeth überflog ihre E-Mails. Die meisten waren Werbung oder Gruppenmails aus ihrem College, die sie getrost ignorieren konnte. Eine weitere Epistel von Linda Jetter mit genauen Angaben über die Launen und Aufenthaltsorte von Shelly der Katze. War es falsch, dass Elizabeth das nicht interessierte? Die Betreffzeile der neuesten E-Mail lautete «Unsere Neuigkeiten». Sie stammte von einem Absender, den sie nicht erkannte: canofsardino@me.com. Sie öffnete sie.
Liebe Elizabeth,
ich hätte gern angerufen, aber so scheint es mir sicherer. Ich wollte, dass du mich anhörst, ohne dass jemand laut wird oder Vorwürfe durch den Raum fliegen.
Das Erste, was ich sagen möchte, ist, dass es mir sehr leidtut. Ich hatte nichts davon je geplant. Ich habe dein Vertrauen missbraucht und bin nicht gerade stolz auf mich. Du hast mich als Lehrkraft in deine Wohnung gelassen, und ich habe mich auf unangemessene Weise verhalten. Ich verstehe, dass du sehr wütend sein musst. Meine eigenen Eltern freuen sich auch nicht gerade über die Neuigkeit. Du solltest sie anrufen!
Elizabeth schob ihren Laptop von sich. Versuchte diese Frau, Witze zu machen? Sie war um ein paar Monate daran vorbeigeschlittert, wegen Unzucht mit Minderjährigen angeklagt zu werden. Ein leichtes Zittern hatte ihre rechte Hand ergriffen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so wütend gewesen zu sein. Sie wollte gewalttätig werden, jemandem körperlichen Schaden zufügen, irgendwen anschreien. Elizabeth las weiter.
Es wird dich nicht überraschen zu hören, dass mein Leben anders verlaufen ist als geplant. Ich habe eine gescheiterte Ehe …
Elizabeth entfuhr unwillkürlich ein missbilligendes Knurren.
… hinter mir, und auch mit meiner Firma bin ich gescheitert. Bitte glaube nicht, dass ich versuche, Entschuldigungen vorzubringen, aber Zach war seit sehr langer Zeit der einzige Mensch, bei dem ich mich mit mir selbst wohl fühlte.
Ein Schal. Elizabeth wollte einen langen Schal haben, ihn um Michelles Hals legen und richtig fest zuziehen.
Als ich das mit dem Baby bemerkt habe, war ich schockiert (ich versichere dir, wir haben aufgepasst), aber dann begann mir klarzuwerden, dass das alles aus einem Grund passiert war. Ich hoffe, du kannst das verstehen und mir verzeihen. Du hast ein Kind, …
Ja, das habe ich, dachte Elizabeth, und du hast ihm den letzten Rest seiner Kindheit geraubt. Diese Frau hatte vielleicht Nerven!
… also weißt du, was das bedeutet. Du sollst wissen, dass ich das hier als meinen eigenen Weg betrachte. Zach kann jetzt gerade kein Vater sein, und ich möchte das auch nicht von ihm verlangen. Er muss seinen Weg weitergehen. Es tut mir so leid, dass ich deiner Familie Schmerz zugefügt habe, mach dir bitte bewusst, dass ihr mir ein Geschenk gemacht habt, für das ich immer dankbar sein werde.
War diese Frau überhaupt psychisch stabil genug, um sich um ein Baby zu kümmern? Sosehr sich Elizabeth auch wünschte, dass sich diese Kreatur in Luft auflöste, so fand sie doch, dass ihr Sohn bei dem, was passieren würde, ein Wörtchen mitzureden hatte. Ein winziger Teil von ihr wehrte sich auch gegen die Vorstellung, dass ihr Enkelkind einfach so verschwinden sollte. Sie blickte auf den letzten Absatz.
Ich hoffe, dich zusammen mit Zach in New York zu sehen. Bitte urteile nicht zu hart über mich. Ich habe schlimme Fehler gemacht, aber jetzt habe ich endlich das Gefühl, etwas richtig zu machen.
In mütterlicher Verbundenheit
Deine Michelle
Hoffen. Verstehen. Verzeihen. Elizabeth wollte einfach bloß ihren Laptop aus dem Autofenster in einen Graben schmeißen.