Natürlich war ihr der Ort vertraut, aber es war mehr als nur das. Elizabeth stellte fest, dass sie ein albernes Grinsen im Gesicht hatte, als sie an der Renault-Niederlassung vorbei nach Buncarragh hineinfuhr. Es war eine Erleichterung, in eine Welt zurückzukehren, die für sie keine Geheimnisse barg. Es fühlte sich nach dieser Büchse der Pandora von Muirinish an wie ein Zufluchtsort.
Die Weihnachtsbeleuchtung hing noch immer, aber die Stadt sah nicht so melancholisch aus wie bei ihrer Ankunft vorige Woche. Die Geschäfte hatten geöffnet, Menschen waren auf den Straßen unterwegs, hatten ein Ziel, grüßten Nachbarn, blieben stehen, um Klatsch auszutauschen. Elizabeth beschloss, nicht in der Stadt anzuhalten, sondern direkt zum Convent Hill hinaufzufahren. Sie musste ein Stück an Nummer 62 vorbeifahren, um einen Parkplatz zu finden, und als sie zum Haus zurückging, hatte sie einen weiten Ausblick auf die gesamte Stadt. Die Kapelle, die Kirche, die Bäume, die den Weg am Fluss entlang säumten. Buncarragh. Als sie hier aufgewachsen war, hatte sie sich immer wie eine Außenseiterin gefühlt. Das war der Grund, warum sie es so eilig gehabt hatte, von hier wegzukommen, aber nun ergab es Sinn. Sie stammte tatsächlich von woanders her. Vor dem Haus, in dem sie großgezogen worden war, blieb sie stehen und dachte an ihre Mutter. Die Frau, die sie immer für konservativ gehalten hatte, für jemanden, dem es wichtig war, was die anderen dachten, hatte sich als jemand völlig anderes entpuppt. Sie hatte alles riskiert und ihr Leben hier zurückgelassen, um einen Ehemann zu finden, und war dann allein zurückgekehrt, aber mit dem Kind einer anderen Frau. Elizabeth wünschte, sie könnte ihre Mutter nur noch einmal sehen, um sich für ihr Leben zu bedanken, um ihr zu sagen, wie viel ihr ihre Opfer bedeuteten, aber auch um sie zu fragen, warum sie das alles bis zu Ende geheim gehalten hatte. Warum war sie nie nach Muirinish zurückgekehrt und hatte Edward allein auf dem Hof zurückgelassen? Vielleicht hatte sie ihre Lüge so viele Jahre lang erzählt, dass sie die Wahrheit vergessen hatte. Patricia betrachtete den angelaufenen Türklopfer und dachte an die Stunden, die ihre Mutter mit ihrer Dose Brasso und einem alten Lappen beim Polieren verbracht hatte, damit er glänzte wie Gold.
Morgen würde sie hier wegfahren und, wenn sie ehrlich zu sich war, nie wieder herkommen. New York. Sie freute sich darauf, zu Hause zu sein und wieder zu arbeiten, aber sie fürchtete sich vor dem Wiedersehen mit Zach und davor, die hochschwangere Michelle zu treffen. Am Vorabend, sie saß in ihrem Zimmer im internationalen Flughafen-Hotel von Cork, hatte sie endlich mit ihrem Sohn gesprochen. Es war nicht einfach gewesen. Sie wusste nicht mehr, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Wie konnte sie ihm am besten eine Mutter sein? Ein Teil von ihr wollte ihn anschreien dafür, dass er so dumm und unverantwortlich gewesen war, aber als sie die Furcht in seiner Stimme hörte, während er gleichzeitig versuchte, patent und reif zu klingen, wollte sie ihn auch fest an sich drücken und vor diesem riesigen Ereignis beschützen, das sein Leben aus den Fugen heben würde. Falls Zach wusste, was die Mutter seines Kindes Elliot und Elizabeth über seine Rolle bei der Erziehung gesagt hatte, schien er es zu ignorieren. Er sprach ausführlich darüber, wie er seine Rolle als Vater sah. Sie erwähnte die E-Mail nicht. Sein naiver Wunsch, dem Baby mehr ein Freund als ein Vater zu sein, brach Elizabeth das Herz. Er war so ahnungslos, selbst noch solch ein Kind. Eines war ihrer Überzeugung nach sicher: Es würde alles erst viel schlimmer werden, bevor es besser würde. Sie hatte auch mit Elliot gesprochen. Wie es schien, hatten ihm die letzten paar Tage gereicht, in denen er Vater hatte spielen müssen. Will hatte ihm zu Weihnachten einen Weimaraner Welpen geschenkt, deswegen würde er es zur Geburt nicht nach New York schaffen. Dafür zumindest war Elizabeth dankbar.
Auf der langen Fahrt zurück nach Buncarragh hatte sie Entscheidungen getroffen. Die erste und wichtigste war, dass Convent Hill keine Rolle spielte. Elizabeth würde keine einzige Schublade mehr öffnen oder Kisten packen, um sie nach Hause zu verschiffen. Sie würde ihre Tante Gillian und Noelle auf das Haus loslassen und es dann zum Verkauf anbieten. Nachdem sie diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte sie sich wie befreit, als sei eine Last von ihr abgefallen. Sie hatte außerdem entschieden, dass sie Castle House verkaufen würde. Zwar musste sie sich eingestehen, dass sie einen gewissen sentimentalen Drang verspürte, es zu behalten, vielleicht eines Tages zu renovieren und dort ihren Lebensabend zu verbringen oder es als Ferienhaus zu nutzen, aber falls sie nicht im Lotto gewann, würde das nicht passieren. Abgesehen davon war das Haus vielleicht Teil ihrer Lebensgeschichte, aber es war ein so dunkler, trauriger Teil, dass es sinnvoller war, sich davon zu trennen.
In Nummer 62 ging Elizabeth langsam durch die Zimmer. Haufen von blauem und weißem Rattengift waren im Haus verteilt, aber glücklicherweise begegnete sie keinen tierischen Bewohnern. Sie hatte gedacht, sie würde vielleicht noch ihre Meinung, dass sie nichts behalten wollte, ändern, aber Zimmer um Zimmer war angefüllt mit Dekorationsartikeln, Bildern und Möbelstücken, ohne die sie sehr gut leben konnte. Wenn sie kein Patricia-Keane-Museum eröffnen wollte, was sollte sie dann damit anfangen? Ja, ihre Mutter hatte all diese Gegenstände geliebt, aber sie zu behalten brachte sie nicht zurück und machte sie auch nicht präsenter. Ihr Nähkorb oder die alte Bonbondose mit den einzelnen Knöpfen machte ihre Abwesenheit allenfalls noch anschaulicher.
Das letzte Zimmer, in das sie ging, war das Schlafzimmer ihrer Mutter. Die Vorhänge waren seit der Nacht, als Elizabeth hier geschlafen hatte, zugezogen. Sie zog sie auf. Den Ausblick hätte sie mit geschlossenen Augen beschreiben können. Den Telegrafenmast. Das Dachfenster im Haus gegenüber, das sie immer an eine Skihütte erinnert hatte. Den langen vertikalen Riss in dem Haus daneben, der da war, seit sie denken konnte. Elizabeth erinnerte sich daran, dass sie diese Zeichen ihrer Vergangenheit nie wiedersehen würde, stellte aber fest, dass sie bei diesem Gedanken nichts spürte. Diese Dinge waren bloß vertraut, das war alles, sie waren nichts Besonderes. Sie war überrascht, so wenig sentimental zu sein. Sie fragte sich, ob sie sich anders fühlen würde, wenn sie einen Bruder oder eine Schwester hätte, die mit ihr durchs Haus gingen. Einen Menschen, mit dem man Erinnerungen teilte. Was machte es schon aus? Dann fiel ihr plötzlich ein, warum sie in dieses Zimmer gekommen war. Sie öffnete die Schranktür und holte die Holzkiste heraus. Als sie sie öffnete, um das Paket mit den Briefen herauszuholen, fand sie den Babyschuh. Sie hatte ihn ganz vergessen. Er musste ihr gehört haben. Sie roch an der Wolle und lächelte.
Noelle stand im Schaufenster des Ladens und veränderte gerade die Auslage, als Elizabeth ankam. Sie winkte ihr begeistert durch die Glasscheibe zu und bahnte sich vorsichtig durch eine Auswahl von Staubsaugern und Rasentrimmern hindurch ihren Weg zurück ins Geschäft. Noelle führte Elizabeth nach oben, damit sie sich von Onkel Jerry und Tante Gillian verabschieden konnte. Sie lenkte sie schnell von Fragen nach ihrer Reise nach Cork ab, indem sie ihnen sagte, sie könnten sich in Convent Hill bedienen, und wenn sie fertig wären, würde sie einfach eine Firma schicken, die Haushaltsauflösungen organisierte. Gillian strahlte bei diesen Neuigkeiten, wohingegen Noelle den Eindruck von jemandem machte, der sich bereits gründlich umgesehen und nichts gefunden hatte, was nach ihrem Geschmack war. Wie Elizabeth erwartet hatte, bot Paul sofort an, ihr den Hausverkauf abzunehmen. «Dann kannst du dir die Maklergebühren sparen», erklärte er. Aber sie blieb standhaft. Es sei sehr nett von ihm, sagte sie, aber sie wolle alles ganz geschäftlich angehen und nicht mit Familienangelegenheiten vermischen. Paul verbarg seine Enttäuschung und schlug vor, dass sie Donal Fogerty damit betrauen sollte, das Haus für sie zu verkaufen.
«Ist das der Donal, der dein Trauzeuge war?»
«Ja.»
Elizabeth lächelte. «Na ja, dann werde ich auf alle Fälle darüber nachdenken.»
Man bot ihr für die Nacht ein Bett an, aber sie hatte bereits beschlossen, direkt nach Dublin zu fahren, damit sie den Wagen abgeben konnte und am nächsten Tag in keinen Stau kommen würde. Sie war fertig mit Buncarragh.
Die Keanes versammelten sich auf dem Gehweg, um ihr zum Abschied zu winken. Sie versprachen, in Kontakt zu bleiben. «Bis bald!», riefen sie und klangen beinahe so, als meinten sie es auch. Elizabeth winkte und fuhr davon. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie den Blinker setzte und nach links in eine Nebenstraße abbog. Diese führte sie hinunter zu Busteed’s Bar und Connolly’s Quay. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich anhalten würde, aber da war ein großer Parkplatz direkt vor Rosemarys Haus, und das nahm sie als ein Zeichen.
Auf die Türglocke folgte aufgeregtes Kläffen, dann erschien Rosemary an der Tür. Sie trug einen langen schwarzen Samtmantel und eine violette Strickmütze, die an ein Abba-Plattencover erinnerte. Sie schien nicht übermäßig überrascht, Elizabeth Keane vor ihrer Tür zu sehen.
«Sie sind wieder da.»
«Ja. Aber ich bin eigentlich schon auf dem Weg zum Flughafen.»
«Verstehe. Wie war es in Cork?»
Die Frage wirkte so aufgeladen, dass Elizabeth Verdacht schöpfte und mit einer Gegenfrage antwortete.
«Wussten Sie Bescheid?»
Rosemary schürzte die Lippen.
«Tja, da müssen Sie wohl einen Spaziergang mit mir machen.» Sie hielt ein rot-blaues Einkaufsnetz voller Bücher in die Höhe. «Wenn ich die heute nicht abgebe, muss ich eine Strafgebühr bezahlen.»
«Perfekt.» Die Bibliothek war nicht allzu weit entfernt.
Rosemary legte ein erstaunliches Tempo an den Tag, und Elizabeth musste ein paar große Schritte machen, um sie einzuholen.
«Also?»
Rosemary starrte geradeaus und machte noch ein paar Schritte, bevor sie antwortete.
«Ich hatte das Gefühl, es ist einfach nicht mein Geheimnis, also darf ich es auch nicht verraten. Wenn Ihre Mutter es nicht für angemessen gehalten hat, es Ihnen zu sagen, dann ist es auch nicht an mir, habe ich mir gedacht.»
«Hat sie Ihnen erzählt, was passiert ist?»
«Ja. Nun ja, jedenfalls vieles davon. Sie hatte eine schlimme Zeit hinter sich dort unten. So wie ich es verstanden habe, war sie praktisch eine Gefangene.»
«Eine Gefangene?» Elizabeth war erschrocken. Sie hatte geglaubt, alle Geheimnisse zu kennen. «Mein Vater hat sie eingesperrt?»
«Nein. Ich glaube nicht. Gerechterweise muss man sagen, dass sie von ihm immer nur Gutes erzählt hat. Nein, es war hauptsächlich die Mutter. Heutzutage sagt man dazu psychische Probleme, aber für uns damals war sie einfach eine Verrückte. Sie klang völlig durchgeknallt. Wenn man sie traf, hätte man das aber nie gedacht. Sie hat mich reingelegt. Ihre Mutter hat mir nie Details erzählt, aber sie hat mir von Ihnen berichtet und wer Ihre Mutter war.»
Sie hatten nun eine Ecke erreicht und warteten, um die Straße zu überqueren.
«Und mein Vater?»
Rosemary sah verblüfft aus. «Ihr Vater?»
Elizabeth hielt inne, für einen Moment war sie unsicher, wie viel sie preisgeben sollte, doch dann entschied sie, dass völlige Offenheit das Beste war.
«Er lebt. Ich meine, er lebt noch immer.»
Rosemary gab sich keine Mühe, ihre Überraschung zu verbergen.
«Was war sie nur für ein stilles Wasser, Ihre Mutter. Ich hätte geschworen, dass sie mir alles gesagt hat. Haben Sie ihn getroffen?» Sie ging mit großen Schritten über die Straße. Nicht einmal diese Nachricht brachte sie von ihrer Mission ab.
Elizabeth nickte. «Ja, aber er ist jetzt in einem Pflegeheim. Er ist mehr oder weniger unansprechbar. Ich konnte nichts Sinnvolles aus ihm herausbekommen.» Sie dachte an die dunklen Augen, die in ihre sahen, und die Stimme, die den Namen ihrer Mutter rief.
«Ich frage mich, warum Patricia das vor mir geheim gehalten hat.»
«Sie waren also noch Freundinnen, als sie wiederkam?»
Rosemary zögerte. «Ja.» Sie klang zweifelnd. «Jedenfalls eine Zeitlang.»
«Was ist passiert?»
Die alte Frau blieb stehen und sah Elizabeth in die Augen.
«Entschuldigung», sagte Elizabeth. «Sie müssen es mir nicht sagen.»
«Nein. Nein, es lag an Ihnen, ehrlich gesagt.»
«An mir?»
«Ich bin nicht stolz darauf, wie ich mich damals verhalten habe. Ich war jung. Das ist meine einzige Entschuldigung.» Rosemary schenkte ihr ein trauriges Lächeln und ging weiter die Straße hinunter. «Als Ihre Mutter zurückkam, hatte sie es nicht leicht. Sie war verändert. Viel schwächer und vollkommen erschüttert von dem, was ihr passiert war, es war schwer. Ihr Onkel Jerry hatte versucht, hinter ihrem Rücken Convent Hill zu verkaufen, und dann wollte natürlich jeder alles über das Baby erfahren und was geschehen war. Die Leute waren schamlos, sie klopften einfach an die Tür und fragten, ob sie Sie sehen könnten. Jedenfalls hat es nicht lange gedauert. Die Geschichte war in aller Munde.»
«Welche Geschichte?»
«Die ich Ihnen erzählt habe. Dass sie schon schwanger gewesen sein musste, als sie Buncarragh verlassen hat. Man muss Ihrer Mutter zugestehen, dass sie dieser Version der Ereignisse nie widersprochen hat. Ihr Vater war gestorben, und sie ist mit Ihnen nach Hause zurückgekehrt. Selbst der Priester versuchte sich einzumischen. Er bot an, eine Messe für Ihren toten Vater zu lesen. Er war äußerst erbost, als sie es abgelehnt hat. Sie wissen das wahrscheinlich nicht mehr, aber als kleines Kind sind Sie nie zur Kirche gegangen.»
«Nicht?» Elizabeth hatte angenommen, sie sei schon immer mit in die Kapelle geschleppt worden.
«Nein. Nicht bis Father Lawlor gestorben war. Es hat lange gedauert, aber langsam verzog sich der Geruch nach Skandal. Andere, schockierendere Dinge sind passiert, und deine Mutter hat dafür gesorgt, dass sie nicht zum zweiten Mal als Sünderin angeprangert werden konnte.» Sie bog bei der Post um die Ecke und begann den Anstieg zu dem kleinen Hügel, der zur Bibliothek führte. «Es kann nicht einfach gewesen sein, aber es ist ihr gelungen, ihren Ruf wieder reinzuwaschen.»
«Aber wieso haben Sie sich mit ihr zerstritten?»
«Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich glaube, ich war eifersüchtig. Sie bedeuteten alles für sie. Ich war zu jung, um zu verstehen, dass sie nur Sie brauchte. Sie hat einen Riesenwirbel um Sie gemacht, sie hat über nichts anderes gesprochen, es ging nur noch um Baby Elizabeth. Jedenfalls bin ich eines Tages explodiert. Bitte urteilen Sie nicht zu hart über mich, aber ich hatte die Nase voll. Ich habe sie mit deutlichen Worten daran erinnert, dass Sie nicht ihr Kind waren. Sie waren das Baby einer anderen. Im Rückblick wollte ich sie vermutlich verletzen, und das muss mir wohl auch gelungen sein, denn wir haben nie wieder miteinander gesprochen. Kein Wort.»
Elizabeth war unsicher, was sie darauf entgegnen sollte.
«Das tut mir leid», sagte sie leise.
«Es gibt einiges, was ich in meinem Leben bereue. Das hier auch.»
Sie waren vor der Bibliothek angekommen.
Elizabeth streckte den Arm aus und nahm Rosemarys Hand.
«Danke.»
«Keine Ursache. Keine Ursache. Eine gute Reise.» Sie hob zum Abschied ihr Büchernetz hoch und betrat zügig die Bibliothek, als müsste sonst die ganze Stadt auf sie warten.