Sie hatte das Gefühl, schon seit Stunden mit dem Glöckchen zu läuten. Wieso kam niemand? Sie wusste, dass Edward um diese Zeit mit dem Melken fertig sein musste, also sollten er und seine Mutter beide unten sein. Sie musste dringend zur Toilette, und Elizabeth hatte zu quengeln und zu weinen begonnen. Patricia wollte gerade noch einmal klingeln, als sie auf der Treppe schwere Schritte hörte. Ihre Tür öffnete sich. Es war Edward.
Patricia war erschrocken. Er sah schrecklich aus. Sein Gesicht war mit Schweiß bedeckt, und er war außer Atem. Seine Kleidung war vom Regen ganz durchnässt, Schlammspritzer bedeckten seine Hose. Eine Rötung rund um seine Augen legte den Verdacht nahe, dass er geweint hatte. Er trug einen Mantel über dem einen Arm und hielt eine große, schwere Tasche in der anderen Hand.
«Das wirst du brauchen», sagte Edward ernst und hielt ihr den grauen Wollmantel hin.
«Ich muss zur Toilette.»
«Dann mach schnell.»
«Nimm sie einen Moment.»
Patricia hob ihm Elizabeth entgegen, und Edward ließ Tasche und Mantel aufs Bett fallen, bevor er sie nahm. «Beeil dich», wiederholte er.
Als sie aus dem Bad kam, wartete Edward oben an der Treppe. «Zieh das an.» Sie nahm den Mantel von ihm, und während sie ihn anzog, ging er in ihr Zimmer zurück und griff nach der Tasche. «Ich habe ein paar Windeln und Flaschen eingepackt. Das sollte reichen.» Er schob ihr Elizabeth wieder in die Arme und rannte beinahe die Treppe hinunter.
«Wohin gehen wir?», rief Patricia ihm nach.
«Buncarragh», sagte er, ohne zurückzublicken. «Du gehst nach Hause.»
Patricia traute ihren Ohren nicht und blieb wie festgefroren stehen. «Was?»
Edward blieb kurz vor der Küchentür stehen und blaffte sie an. «Beeil dich!»
Sie hielt sich mit einer Hand am Geländer fest, mit der anderen hielt sie Elizabeth und stieg so schnell hinab, wie sie sich traute. In der Küche brannte Licht, aber es deutete nichts auf ein Abendessen hin.
«Wo ist deine Mutter?»
«Egal. Zieh die an.» Edward kickte ein Paar Stiefel mit Schafsfell und Reißverschluss in ihre Richtung. Sie erkannte sie wieder. Mrs. Foley hatte sie oft an.
«Was ist mit deiner Mutter?»
«Mach dir um sie keine Sorgen. Wir müssen uns beeilen. Komm schon!» Er hielt die Hintertür auf, und die kalte Abendluft drang durch Patricias Nachthemd. Sie knöpfte ihren Mantel zu, schlüpfte in die Stiefel und folgte Edward hinaus in den Hof. Er riss ihr die Beifahrertür auf, dann rannte er um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz. Patricia stieg ein und hielt Elizabeth eng an ihre Brust gedrückt. Sie zog die Tür zu und war erleichtert, nun vor dem Wind geschützt zu sein. Der Motor sprang an, die Scheinwerfer malten eine Bahn den Feldweg hinunter, und sie fuhren los. Patricias Atem ging schnell und flach. Fuhr sie wirklich nach Hause? War ihr Albtraum endlich zu Ende? Plötzlich warf sich Edward auf ihre Wagenseite und drückte ihren Kopf nach unten.
«Duck dich!» Er klang beinahe hysterisch, und so tat sie wie geheißen. Sie fuhren schweigend weiter, ruckelten über den Weg voller Schlaglöcher in Richtung Straße. Sie bogen aus dem Tor, und Edward beschleunigte.
«Jetzt kannst du hochkommen», sagte er, und sie setzte sich auf und küsste das Baby beruhigend auf den Kopf.
«Hast du eine Decke für Elizabeth?»
Er sah am Boden zerstört aus. «Nein. Die habe ich vergessen. Ich habe nicht richtig nachgedacht. Entschuldige. Es tut mir so leid.»
Patricia hatte Sorge, dass er gleich einen Unfall bauen würde, so gestresst sah er aus. Sie versuchte, ihn zu beruhigen und sagte: «Keine Sorge. Ich wickele sie einfach in den Mantel.» Und das tat sie.
Der Lichttunnel vor ihnen führte sie über die Dammstraße und unter ein paar Bäumen hindurch. Sie ließen Castle House hinter sich. Patricia rechnete halb damit, Mrs. Foley vor ihnen aus einem Graben springen zu sehen und sie alle zum Haus zurückzuzerren. Sie warf einen Blick auf Edward. Er hielt das Lenkrad fest umklammert und beugte sich vor, konzentrierte sich auf jeden Zentimeter Straße. Sein Atem schien immer noch schwer zu gehen, und noch im schwachen Schein des Armaturenbretts nahm sie den schweißnassen Glanz auf seiner Stirn wahr. Elizabeth begann zu weinen.
«Ich glaube, sie muss gewickelt werden.»
«Wir können noch nicht anhalten. In Bandon tanken wir. Da kannst du es machen. Tut mir leid.»
Sie hätte ihm gern Fragen gestellt, wollte ihn aber nicht ablenken. Er brachte sie von Muirinish fort und zurück nach Buncarragh, und wenn das bedeutete, dass Elizabeth die ganze Fahrt über schreien musste, dann würde es eben so sein.
Sie hatte keine Ahnung, was in Edwards Kopf vor sich ging, als sie über die dunklen Straßen rasten. Patricia sah die warmen Lichter in den Fenstern der Häuser, an denen sie vorüberfuhren. Manche standen direkt an der Straße, andere waren zurückgesetzt, neue Bungalows, Cottages, große Landhäuser. In jedem von ihnen wurden Leben gelebt. Das Abendessen wurde auf den Tisch gestellt, man versammelte sich um den Fernseher. Waren sie glücklich? Weinte jemand hinter einem Vorhang, aus dem Licht in die Dunkelheit heraussickerte? Was würden sie von diesem seltsamen Trio halten, das hier durch die Nacht raste?
Hinter Bandon schlief Elizabeth ein. Zuerst standen in den Dörfern, durch die sie fuhren, Leute vor Pubs herum, und in den Fenstern brannte Licht, aber nachdem sie mehr Meilen zurückgelegt hatten und mehr Stunden verstrichen waren, lagen die Bars im Dunkeln, und die Fish-and-Chips-Restaurants hatten ihre letzten Kunden hinauskomplimentiert. Das ganze Land schien verlassen. Telegrafenmasten und Hecken flogen vorüber, und Elizabeths warmer, regelmäßiger Atem war das einzige Geräusch im Wagen.
Patricia dachte daran, wie er schweigend mit ihr aus Cork hergefahren war. Wie quälend diese Fahrt gewesen war. Sie dachte daran, wie sie sich um ihre Frisur gesorgt hatte und darum, ob ihr Rock zerknittern könnte. Nun saß sie im Auto und hatte keine Ahnung, wie sie aussah oder auch nur wann sie zuletzt gebadet hatte, und diese Fahrt schien ein ganzes Leben her zu sein. Sie warf Edward einen verstohlenen Blick zu. Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte geschafft, und ein Teil von ihr fürchtete, er könne es sich anders überlegen. Der Wille seiner Mutter würde über die dunklen, leeren Meilen hinweg nach ihm greifen und sie zurückzerren zur Burg der Foleys. Schließlich wirkte Edward etwas ruhiger, und Patricia wagte ihm eine Frage zu stellen.
«Was ist dein Plan?»
Edward reagierte nicht, und sie fragte sich, ob er sie nicht gehört hatte.
«Plan?», sagte er, ohne sie anzusehen.
«Fährst du wieder zurück?»
«Natürlich.»
«Was ist mit deiner Mutter? Wird sie nicht nach mir suchen? Bleibt …», sie fürchtete sich vor der Antwort, «bleibt Elizabeth bei mir?»
«Mach dir keine Sorgen um meine Mutter. Mach dir keine Sorgen.»
Er erwähnte das Baby nicht. Patricia bekam Angst.
«Elizabeth, Edward. Was geschieht mit Elizabeth?»
Er gab ein eigenartiges, ersticktes Husten von sich und antwortete dann: «Ich, wir, können uns nicht um sie kümmern. Ich schicke dir Geld.»
Geld. Sie war tatsächlich auf dem Weg zurück in die wirkliche Welt, wo man sich über solche Dinge Gedanken machen musste. Sie fragte sich, ob sie noch ein Haus hatte, in das sie zurückkehren konnte. Sie drückte das Baby ein wenig fester an sich.
«Ich danke dir.»
Irgendwo nördlich von Clonmel sank Patricias Kopf auf die Brust, während verschwommene Katzenaugen und Baumstämme vorüberflogen. Da sagte Edward ihren Namen.
Sie sah zu ihm hinüber.
Er saß noch immer über das Lenkrad gebeugt und starrte angespannt geradeaus.
«Ich habe dich gerngehabt. Ich hoffe, das weißt du.» Seine Worte klangen heiser.
Patricia schloss die Augen. Sie hatte noch immer so viel Wut in sich. Wenn er sie gernhatte, warum hatte er all das zugelassen und zugelassen, dass es so lange dauerte? Wie konnte er so grausam sein, wenn er Gefühle für denjenigen hegte? Dann dachte sie daran, wie er allein nach Castle House zurückkehren würde. Um mit seiner Mutter und ihrer Wut zu leben … für immer. Er würde nie entkommen. Edward war ebenso sehr ein Opfer wie sie selbst. Sie ließ den Flaum auf dem Kopf des Babys über ihr Gesicht gleiten.
«Ich weiß, Edward. Du bist kein schlechter Mensch.» Sie erwog, noch mehr zu sagen, ihn aufzufordern, seine Mutter zu verlassen oder wenigstens Hilfe für sie zu holen, entschied sich aber dagegen. Es war zwecklos, ihn noch mehr aufzuwühlen.
Nur ein Fuchs, der am Fuß des Sträßchens hinauf zur städtischen Müllkippe stand, wurde Zeuge von Patricias Rückkehr nach Buncarragh. Als der Wagen unter den Straßenlaternen hindurchglitt, stellte sie fest, dass sie den Atem anhielt. Alles war genau so, wie es bei ihrer Abreise gewesen war, aber verwaist und still. Wie konnte dieser Ort noch genau so aussehen, wo sie sich doch selbst kaum an die naive junge Frau erinnerte, die ihn vor so langer Zeit verlassen hatte? Das künstliche Licht ließ die Stadt beinahe zweidimensional wirken. Die Worte kamen aus ihrem Mund wie eine Beschwörung, die sie schon viele Male wiederholt hatte. «Da arbeitet meine Freundin. Das ist das Familiengeschäft. Hier ist eine neue Ampel. Geradeaus. An der Gabelung links. Den Hügel hinauf.»
Sie waren angekommen. Der Wagen hielt vor Nummer 62. Das Erste, was ihr ins Auge fiel, war das «Zu verkaufen»-Schild vor dem Grundstück.
«Schau dir das an!» Sie zeigte wütend darauf.
«Es ist nicht verkauft», entgegnete Edward schlicht.
«Stimmt.»
Der Motor erstarb, und sie saßen schweigend im Wagen. Noch immer fürchtete Patricia, dass in letzter Minute Hindernisse auftauchen würden oder ein Unglück geschah. Er würde das Baby packen oder plötzlich den Motor starten und gegen eine Wand rasen.
«Hast du Schlüssel?», fragte er.
«Unter dem Pflanzenkübel.»
«Gut.»
Edward holte tief Luft und stemmte seine Tür auf. Patricia öffnete ihre ebenfalls, und da kam er schon um den Wagen herum, um ihr zu helfen. Sie stand auf dem Gehweg, während Edward die Tasche vom Rücksitz holte.
Er trug sie herüber und stellte sie zu ihren Füßen ab.
«Danke.» Sie hatte in der Nachtluft zu zittern begonnen.
«Du gehst besser rein.»
«Ja.» Doch sie rührte sich nicht.
Der Dampf ihres Atems mischte sich zwischen ihnen zu einer gemeinsamen Wolke.
Edward legte die Hand unter das Kinn des Babys und hob ihr kleines Gesicht ein Stück an. Er beugte sich hinunter, und Patricia hörte, wie er seiner Tochter zuflüsterte.
«Sei ein braves Mädchen. So ist es am besten. Es ist alles am besten so.»
Als er den Kopf hob, konnte er Patricia nicht ansehen, sein Mund war zu einem krummen Strich verzogen.
«Also, auf Wiedersehen.» Seine Stimme klang hoch und gepresst, und er tauchte in den Wagen ab, so schnell er konnte.
Patricia kam sich auf einmal grauenhaft vor. Sie hatte nur an sich selbst und Elizabeth gedacht und daran, was für sie beide am besten wäre. Sie hatte nie die Kosten in Betracht gezogen. Nun sah sie entsetzt, wie dieser Mann, dem die Tränen über das Gesicht strömten, versuchte, den Motor des Wagens zu starten. Ohne nachzudenken, machte sie einen Schritt nach vorn und klopfte mit den Fingerknöcheln hart gegen das Autofenster. Edward stieg wieder aus dem Wagen aus und richtete sich auf. Nur das Baby zwischen ihnen trennte sie voneinander. Patricia hob ihm ihr Gesicht entgegen, und er küsste sie auf die Lippen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und erwiderte den Kuss. Es war ein zärtlicher Kuss, ohne jede Spur von Lust oder Leidenschaft. Seine Lippen fühlten sich viel weicher an, als sie es sich vorgestellt hatte, aber die Stoppeln an seinem Kinn kratzten ihr Gesicht. Sie trat zurück und hob die Hand, um ihm die Tränen abzuwischen.
«Danke, Edward. Pass auf dich auf.»
Er sagte nichts, beugte sich nur hinab, küsste das Baby auf den Kopf und stieg wieder ins Auto.
Die Kraft der Vergebung.
Sie zog den Mantel einer anderen Frau über den Kopf des Babys einer anderen Frau und sah den Mann, den sie nie geheiratet hatte, davonfahren.
Als die roten Rücklichter den Fuß des Hügels erreicht hatten und verschwanden, hob Patricia Elizabeth hoch und küsste sie auf beide Wangen.
«Wir sind zu Hause, mein Baby!»
Die Schlüssel waren dort, wo sie mit ihnen gerechnet hatte, und als sie die Tür öffnete, hüllte sie der vertraute Geruch ein. Hätte sie je gedacht, dass es sich so herrlich anfühlen konnte, diese Diele zu betreten?
Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer, trug Elizabeth zum Sofa hinüber und legte sie zwischen zwei Kissen. Vom Kamin nahm sie den längsten Schürhaken und marschierte nach draußen. Niemand sah, wie sie die schwere Eisenstange über den Kopf hob und das «Zu verkaufen»-Schild in zwei Teile zerschmetterte.