Sie fühlte sich ein bisschen betrogen. So viel war ihr passiert, während sie fort gewesen war, und New York schien es gar nicht anzuerkennen. Dieselben Filmplakate wie damals, als sie losgefahren war, hingen an den Werbetafeln. Im Schaufenster von Inspirations, diesem seltsamen Laden auf der Ecke der 33. Straße, hatten sie noch immer das hässliche rote Kleid ausgestellt. Armando an der Fleischtheke bei D’Agostino begrüßte sie, als wäre sie erst gestern hier gewesen. Sogar Shelly die Katze weigerte sich, eine Reaktion zu zeigen, als Linda Jetter sie ihr in die Wohnung zurückbrachte. Als Elizabeth am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie schon begonnen, an sich selbst zu zweifeln. Irland schien so weit weg. Bei der täglichen Tonspur von Autohupen und Sirenen draußen vor dem Fenster fragte sie sich, ob sie jemals vor Castle House auf einer Mauer gesessen und aufs Meer hinausgeblickt hatte. Hatte ihr Vater ihr wirklich die Hand gedrückt? Durchforsteten Gillian und Noelle gerade Convent Hill, während sie im Bett lag und die Risse in ihrer Zimmerdecke betrachtete? Als sie sich aus dem Bett kämpfte, beschloss sie, sich nicht mehr mit der Irland-Reise zu beschäftigen. Heute ging es nicht um die Vergangenheit. Sie musste sich auf ihr Leben im Hier und Jetzt konzentrieren. Zach würde bald nach Hause kommen, und es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, wie das sein würde. Vor einer Woche hatten sie sich noch über Bewerbungen fürs College und seine Hausaufgaben unterhalten, jetzt wurde er Vater. Um Himmels willen, sie würde Großmutter sein! Es war vollkommen abwegig. Sie stieß einen manischen Schrei aus, um ihrer Fassungslosigkeit Ausdruck zu verleihen, und trat in die Dusche.
Zachs Heimkehr war natürlich nicht das, was sie erwartet oder sich erhofft hatte. Er kam mit einem Rucksack, der ihn wie einen Zwerg aussehen ließ, und der hochschwangeren Michelle zur Tür herein. Die Wohnung war deutlich zu klein für drei Leute. Elizabeth konnte nicht glauben, dass ihr die Schwangerschaft im Dezember entgangen war, wie konnte sie das übersehen haben. Sie zwängten sich ins Wohnzimmer und setzten sich. Zach starrte mürrisch zu Boden und gab auf die Fragen seiner Mutter zu seiner Reise einsilbige Antworten. Michelle versuchte sein Verhalten auszugleichen, indem sie breit lächelte, und berichtete noch die allerkleinsten Einzelheiten über irgendein vegetarisches Restaurant, in das Elliot sie in San Francisco ausgeführt hatte. Elizabeth fragte sich, wann sie zur Sprache bringen würden, was offensichtlich im Raum stand.
«Ich bringe mal meine Sachen weg.» Zach stand auf und wuchtete sein Gepäck hoch. Als er fort war, beugte sich Michelle vor, setzte einen reumütigen Gesichtsausdruck auf und sagte in verschwörerischem Flüsterton: «Ich fürchte, Zach ist nicht sehr glücklich über mich.»
Damit sind wir schon zu zweit, dachte Elizabeth. «Ach?» Sie konnte sich nicht überwinden, eine richtige Frage zu stellen.
«Ich habe ihm das mit dem Baby erläutert.»
«Erläutert?»
«Dass ich die erste Bezugsperson sein werde. Dass ich nicht möchte, dass dieses Ereignis sein Leben unter sich begräbt.» Sie lächelte Elizabeth auf eine Weise an, die den Eindruck erwecken sollte, dass sie bei diesem Plan Geistesverwandte waren.
«Vielleicht ist es am besten, wenn du uns alleine lässt. Ich glaube, wir haben viel zu besprechen, und das ist vielleicht leichter, wenn …»
«Natürlich», sagte Michelle und stand mit einer Geschwindigkeit vom Sofa auf, die für jemanden mit ihrem Umfang beachtlich war. «Ich gehe.»
Und dann ging sie. Einfach so. Ohne sich von Elizabeth oder Zach zu verabschieden.
In dem Augenblick, in dem sich die Haustür schloss, steckte er den Kopf aus seiner Zimmertür. «Ist Michelle gegangen?»
«Ja. Ja, ist sie.»
Zachs Gesicht verdüsterte sich. «Hast du sie weggeschickt?»
«Nein. Ehrlich, Zach. Habe ich nicht. Ich glaube, sie hatte einfach das Gefühl, dass wir beide reden müssen.»
Er lehnte sich an den Türrahmen und sah seine Mutter nicht an.
«Komm schon», sagte sie sanft. «Komm und setz dich hin. Ich habe dich vermisst. Irland war ziemlich verrückt.»
Er tat einen Schritt auf sie zu, und sie umarmten einander. Es fühlte sich gut an, ihren Jungen im Arm zu halten.
«Hast du Hunger?»
Er nickte an ihrer Schulter. «Sterbe vor Hunger.»
Seine Mutter machte ihm ein Sandwich, und Zach setzte sich auf den Hochstuhl in der Küche.
«Saure Gurke?»
«Nein, danke.»
«Mayo?»
«Ja, bitte.»
Elizabeth stützte sich mit der Hüfte an der Spüle ab und sah ihrem Sohn beim Essen zu. Er verschlang sein Sandwich mit riesigen Bissen und ging dann zum Kühlschrank und holte sich ein Glas Milch.
«Danke.» Er wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab.
Sie lächelten einander an. Sie wollte nicht böse auf ihn sein.
«Michelle hat mir erzählt, was sie dir gesagt hat.»
Zach starrte in seine Milch.
«Es fühlt sich nicht fair an. Wieso ist sie diejenige, die das entscheidet?»
Elizabeth spürte, dass sie vorsichtig sein musste. Sie wusste, dass es hier nicht nur darum ging, dass er Vater wurde, es ging auch um sie und Elliot. Wie ihre Scheidung ihn beeinflusst hatte. Die Vorstellung verletzte sie, dass er wohl dachte, er habe etwas verpasst. Ihrer Ansicht nach war alles so viel besser gewesen, als sie nur noch zu zweit gewesen waren.
«Natürlich wird sich das Baby einen Vater wünschen, aber, na ja, du musst jetzt Entscheidungen treffen, die dich zum bestmöglichen Dad werden lassen.»
Zach stellte sein Glas auf den Küchentresen. «Was meinst du damit?», fragte er abwehrend.
«Es ist eben so, wenn du aufs College gehst …»
«Aber, Mom!»
«Wenn du aufs College gehst», wiederholte sie und ignorierte seinen Einwurf, «wirst du eher in der Position sein, für dein Kind sorgen zu können. Dann wirst du jemand sein, dem es nacheifern kann.»
«Nacheifern kann?»
«Ja.» Sie versuchte vernünftig zu klingen.
Seine Augen blitzten vor Zorn. «Und du denkst vermutlich, dass ich so enden will wie du!» Dabei zeigte er mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu auf seine Mutter, ging dann aus der Küche und knallte die Zimmertür hinter sich zu.
Elizabeth seufzte und wandte sich dann dem Spülbecken zu, wusch sein Glas aus und trocknete es ab.
Später am Abend, als sie im Wohnzimmer saß und für ihre Rückkehr ins Büro Gedichte heraussuchte, stieß Zach seine Tür auf.
«Es tut mir leid, Mom.»
Sie nahm ihre Brille ab und senkte das Buch auf die Sessellehne.
«Ist schon in Ordnung. Aber Zach, sei bitte nicht wütend, wenn ich dir jetzt etwas sage, ja?» Sie sah ihn prüfend an, und er nickte.
«Kinder knallen mit Türen, nicht Eltern. Bitte hör auf Michelle.»
Zach durchquerte den Raum mit wenigen Schritten und sank neben ihren Füßen zu Boden. Er legte seinen Kopf in ihren Schoß und schlang die Arme um ihre Beine, wie er es als kleiner Junge getan hatte. Sie streichelte über sein Haar und beugte sich vor, um ihn zu umarmen. Ihr Sohn, der sich an die letzten Minuten seiner Kindheit klammerte.
In den nächsten Wochen sickerte die Normalität wieder wie ein Betäubungsmittel in ihr Leben. Zach ging zur Schule, und Elizabeth kehrte zur ihren Tutorials, Vorlesungen und Hochschullehrerkonferenzen zurück. Natürlich berichtete sie Freundinnen wie Laura und Jocelyn von allem, was passiert war, aber es kam ihr vor, als beschriebe sie das Leben von jemand anderem, die verrückte, außer Kontrolle geratene Familie einer anderen Frau. Sie kaufte Lebensmittel ein, benotete Klausuren, zeichnete Zeugnisse ab, brachte Wäsche zur Reinigung. Manchmal vergingen zwei oder drei Tage, ohne dass Michelles Name fiel. Elizabeth wechselte E-Mails mit Immobilienmaklern in Irland, aber das alles schien ihr so weit entfernt von ihrem echten Leben zu sein, in dem sie ihre schwere Tragetasche voller Bücher die Treppen aus der U-Bahn hinaufschleppte oder ihren Vermieter anrief, damit die Glühbirnen im Treppenhaus ausgewechselt wurden.
Es war Anfang Februar, und der angekündigte Schneesturm brach gerade los. Schwere Flocken fielen vor den Fenstern der Wohnung, und Elizabeth wusste, dass sie vermutlich liegen bleiben würden, denn die Geräusche des Verkehrs auf der Third Avenue klangen eigentümlich gedämpft. Sie war gerade ins Bett gekrochen, als es an ihrer Tür klopfte.
«Ja?»
Sie öffnete sie, und Zach trat ins Zimmer. Sein Gesicht war ganz blutleer, und er hielt ihr das Telefon hin wie ein Geschenk.
«Michelle hat angerufen. Ihre Fruchtblase ist geplatzt. Sie hat Wehen.»
Elizabeth sprang aus dem Bett. Es passierte wirklich.
«Okay. Alles ist gut, Zach. Wo ist sie jetzt?»
«Im Krankenhaus.»
«Ja, Zach, das ist prima, aber in welchem? Da draußen schneit es ziemlich stark.»
«Sie ist in der Murray-Hill-Klinik.»
«Also, das ist gut. Großartig. Du kannst zu Fuß dorthin.»
Sie sah ihn an und erwartete, dass er seine Jacke und die Stiefel schnappen und losgehen würde, aber er rührte sich nicht von der Stelle.
«Willst du nicht dabei sein?»
«Doch, schon.» Zach nahm sein Telefon abwechselnd in die eine und dann in die andere Hand, als wäre es zu heiß, um es festzuhalten. «Mom?»
«Ja.»
«Kommst du mit mir mit?»
Elizabeth konnte sehen, dass seine Unterlippe zu zittern begonnen hatte, aber sie blieb fest.
«Nein, Zach. Ich finde, das solltest du alleine machen. Oder nicht?»
«Glaub schon», antwortete ihr Sohn, aber er hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt.
«Na, dann geh los!», sagte sie lachend und schubste ihn in den winzigen Flur. Er nahm seine Jacke und schlüpfte in seine großen aufgeschnürten Stiefel. An der Tür blickte er sich zu seiner Mutter um, und sie streckte die Arme aus und umarmte ihn. «Ruf mich an, wenn du ein Daddy bist!»
Es war kurz nach sieben Uhr am Morgen, als sie von ihrem Telefon geweckt wurde. Zach. Hastig hangelte sie danach.
«Hallo, hallo! Ist alles gut?»
«Ja. Hier ist alles gut. Dein Sohn ist Vater.»
Elizabeth spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und über die Wangen rannen. Trotz der Umstände verspürte sie solche Freude. Ein neues kleines Lebewesen.
«Was ist es geworden?»
«Ein Junge!» Er klang triumphierend. «Du hast einen Enkel, Mom. Komm und schau ihn dir an!»
Elizabeth lachte. «Das mache ich. Lass mich nur kurz duschen, dann bin ich sofort da. Gib mir dreißig Minuten.»
Da sie über die Schneewehen an den Straßenecken steigen und über Gehwege trippeln musste, auf denen kein Salz gestreut worden war, dauerte es eher 45 Minuten, bevor sie bei Zach ankam. Er saß in einem kleinen, gesichtslosen Wartebereich. Ein dünner glatzköpfiger Mann über dreißig schlief in einem Stuhl. Zack winkte seine Mutter hinaus auf den Flur. Sie umarmten sich.
«Willst du ihn sehen?»
«Klar! Wie geht’s Michelle?»
«Gut, glaube ich. Ich war nicht bis zum Schluss dabei.»
Elizabeth hütete sich davor, Fragen zu stellen. Sie nahm an, dass es für ihn alles ein bisschen zu viel gewesen war. Sollte ein Siebzehnjähriger bei einer Geburt dabei sein? Würde die Erfahrung von jetzt an all seine Beziehungen zu Frauen beeinflussen? Sie verbot sich solche Gedanken und folgte ihrem Sohn den Flur hinunter.
«Er ist gleich hier auf der Neugeborenenstation.»
«Ich dachte, heutzutage lässt man die Babys bei ihren Müttern.»
Zach hielt vor einer großen Glasscheibe an und zeigte ungeduldig hinein. «Das ist er. Der ganz rechts.»
Elizabeth spähte durch die Scheibe und sah nichts als ein fleckiges rotviolettes Gesicht, den Mund weit aufgerissen in einem stummen Schrei.
«Oh, Zach. Er ist wunderschön.» Sie umarmte ihren Sohn.
Sie wollte ihn gerade nach dem Namen fragen, als das Klatschen der Schwingtür ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein älterer Mann, ein Arzt, wie Elizabeth annahm, kam auf sie zu. Als er das ungleiche Paar vor der Neugeborenenstation erreicht hatte, nahm er seine dicke Brille ab und fuhr sich mit der anderen Hand durch das graue Haar. Er sah ernst aus.
«Mr. Kleinfeld?»
«Ja», antwortete Zach.
«Ich bin Dr. Rice. Alan. Wir haben uns gestern Abend kennengelernt.»
«Ja. Ich heiße Zach.»
Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.
«Ich bin seine Mutter», erläuterte Elizabeth.
Die drei standen schweigend beisammen. Irgendetwas fühlte sich falsch an. Die Leute warteten nur bei schlechten Nachrichten, bis sie damit herausrückten. Zach griff nach der Hand seiner Mutter.
«Vielleicht möchten Sie in eines unserer Familienzimmer kommen.» Der Arzt zeigte auf eine Tür ein Stück den Gang hinunter.
«Ja, nein», korrigierte Zach sich. «Sagen Sie es uns einfach hier.» Seine Stimme klang ganz dünn und hoch. Elizabeth drückte seine Hand fester.
«Ich glaube wirklich, dass es für Sie angenehmer …»
«Bitte!» In Elizabeths Ohren klang Zach genau so, wie er als kleiner Junge geklungen hatte, wenn er um eine Süßigkeit gebettelt hatte oder um die Antwort auf ein Rätsel.
Dr. Rice fuhr sich mit der Zunge über die Innenseite seiner Unterlippe, dann begann er zu sprechen.
«Wir sind uns nicht sicher, aber wie es scheint, hatte Miss Giardino eine Unverträglichkeitsreaktion auf die Epiduralanästhesie. Nach den Tests werden wir mehr wissen.» Ein kurzes Husten, dann fuhr er fort. «Kurz nachdem Ihr Sohn geboren wurde, hatte die Mutter einen Atemstillstand. Es wurden Reanimationsversuche unternommen, aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass diese Versuche gescheitert sind.»
Zach sah seine Mutter an. Er sah verängstigter aus, als sie ihn je gesehen hatte.
«Es tut mir furchtbar leid, Michelle ist tot.»
Zach schnappte nach Luft und machte einen Satz zurück, als sei er geschlagen worden. Elizabeth musste einen Arm um ihn legen, um ihn zu stützen. Er sackte gegen sie. Sie spürte seine heißen Tränen an ihrem Hals, seine Schluchzer durchnässten ihre gefütterte Jacke.
Dr. Rice stand betreten neben ihnen.
«Es ist schwer, das zu begreifen. Wie gesagt, das Familienzimmer steht zu Ihrer Verfügung.»
Elizabeth wünschte nur, er würde sie allein lassen.
«Falls Sie Fragen haben, egal welche, hier ist meine Karte. Bitte rufen Sie mich jederzeit an.» Er hielt inne, bevor er weitersprach. «Es tut mir so leid», und dann entfernte er sich.
«Danke», murmelte Elizabeth, die seine Visitenkarte in der einen Hand hielt, mit der anderen den Rücken ihres Sohnes auf und ab strich und versuchte, ihn zu trösten. Als könnte man ihn mit irgendetwas trösten. Das hier war nicht richtig. Der Junge war für solchen Schmerz nicht gemacht. Plötzlich erfüllte Elizabeth schreckliche Wut. Was stimmte nicht mit dieser Welt? Warum? Warum hatten sich die Götter verschworen, ihr Kind dermaßen zu prüfen?
Über Zachs Schulter hinweg konnte Elizabeth ihren Enkel gegen die eng gewickelte Decke kämpfen sehen. Sein Gesicht war noch röter als zuvor. Es war, als teilte dieser winzige Mensch ihren Zorn. Ihre Wut auf die Welt verband sie beide. Sie wusste, was sie zu tun hatte.