Das warme Licht der Lampe schien noch immer durch den pfirsichfarbenen Lampenschirm, als sie erwachte. Beim Blick zum Fenster konnte sie kein Anzeichen von Tageslicht erkennen. Sie sah auf die Uhr. Sechs, aber welches Sechs? Hatte sie ihre Armbanduhr umgestellt? Sie konnte sich nicht erinnern. Sie schob die Hand in die Tasche ihrer Jeans und zog das Telefon heraus.
Sechs Uhr morgens. Da sie wusste, dass sie vermutlich nicht wieder einschlafen würde, tapste sie über den Treppenabsatz, um sich die Zähne zu putzen und auf die Toilette zu gehen. Wo auch immer sie hinsah, standen «Sachen». Sinnlose Sachen bedeckten jede Abstellfläche. Als sie beim Zähneputzen den Kopf wandte, sah sie eine Flasche mit Keine-Tränen-Shampoo und ein Schaumbad von Matey dem Seemann. Beides hatte hier vermutlich gestanden, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie öffnete die Spiegeltür des Badschränkchens über dem Waschbecken. Jedes verschriebene Medikament der letzten vierzig Jahre schien dort zwischen die Einlegeböden gequetscht worden zu sein.
Im Schlafzimmer war das Gerümpel nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber Elizabeth wusste, was sie in dem großen Schrank aus Palisanderholz und der dazu passenden Kommode erwartete. Warum hatte sie sich entschieden, das hier selbst zu machen? Gab es auch nur einen einzigen Gegenstand in diesem Haus, den sie haben wollte oder in den letzten zwanzig Jahren vermisst hatte? Sie hätte einfach eine Entrümpelungsfirma bestellen oder Noelle und Tante Gillian freie Hand für die Plünderung geben sollen.
Vorsichtig öffnete sie die Tür des Kleiderschranks. Das Erste, was ihr entgegenblickte, war das Spiegelbild ihrer selbst in Lebensgröße. Lieber Himmel, sie sah scheußlich aus. Sie sah ihr Gesicht an, von dem gewisse Freundinnen sagten, es wäre auf jungenhafte Weise attraktiv. Seltsam, dass diese Frauen üblicherweise stupsnasige Schönheiten mit vollen Lippen waren. Sie fragte sich, wie sie wohl mit ihrem kantigen Kinn und der länglichen, geraden Nase zurechtgekommen wären. Selbst in diesem Licht sah ihre normalerweise gesunde Gesichtsfarbe blass und abgespannt aus. Ihre leuchtenden haselnussbraunen Augen blickten sie aus geschwollenen Lidern und schweren Tränensäcken an. O Gott, war dieser Fleck schon die ganze Reise über auf ihrem Oberteil gewesen, oder war das bloß die Suppe von gestern Abend? Ihr Haar bildete einen eigenartigen Kamm über der gesamten linken Kopfseite. Sie strich ihn glatt, doch das war zwecklos. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Innere des Schranks richtete, brachte sie ein kleines Grinsen zustande. Ja, er war zum Bersten vollgestopft, aber die Hand über die Stange mit Mänteln und Kleidern gleiten zu lassen war wie ein Besuch im Museum ihrer Erinnerungen. Der blaue Tweed dieses Mantels, den ihre Mutter getragen hatte, wenn sie stocksteif am Schultor auf sie wartete, die schmal geschnittenen Kleider, die für ein ganzes Leben voller Taufen und Hochzeiten gekauft worden waren, einschließlich des marineblauen Strick-Zweiteilers, den sie getragen hatte, als Elizabeth in Ann Arbor Elliot geheiratet hatte. Ihre arme Mutter. Der wärmste März, an den man sich in Michigan erinnern konnte. Ihr verschwitztes rotes Gesicht blickte einem von jedem Hochzeitsfoto entgegen. Elliots Mutter neben ihr sah aus, als sei sie aus Marmor gehauen. Elizabeth schauderte bei der Erinnerung an diesen Tag. Wie beide Mütter mit besorgten und argwöhnischen Gesichtern auf sie zugekommen waren. «Keinen Champagner für dich?»
Sie blickte zu dem Einlegeboden über der Kleiderstange hinauf. Auf einer Seite stapelten sich gefaltete Pullover und Strickjacken, in der anderen Hälfte schien ein zusammengerolltes, vergilbendes Federbett zu liegen. Das könnte vielleicht nützlich werden, falls die Heizung nicht ansprang, dachte Elizabeth und zog daran. Es quoll heraus und landete als weicher Haufen vor ihren Füßen. Jetzt, da die Decke weg war, sah sie die Kiste aus dunklem Holz, die ganz nach hinten geschoben worden war. Sie konnte sich nicht erinnern, sie jemals gesehen zu haben, und fasste hinein, um sie herauszuziehen. Sie fühlte sich nicht sehr schwer an, was sie etwas enttäuschte. Sie setzte die Kiste auf dem Boden ab und kniete sich davor. Als sie den Staub vom Deckel gewischt hatte, wurde das dunkel glänzende Holz darunter sichtbar. Walnuss? Die Ecken waren durch kleine Messing-Intarsien geschützt. Sie hoffte, dass sie nicht abgeschlossen war. Nein, der Deckel ließ sich leicht aufklappen. Der erste Blick hinein war ein wenig niederschmetternd: ein winziger gelber, gestrickter Babyschuh und darunter ein kleiner Stapel Briefe, die mit einem uralten cremefarbenen Band verschnürt waren. Elizabeth zog den ersten Brief heraus und begann zu lesen.
Castle House,
Muirinish,
West Cork
30. November 1973
Liebe einsame Lady aus Leinster,
ich bin mir nicht sicher, wie ich anfangen soll. Ich habe noch nie auf eine dieser Anzeigen geantwortet. Vermutlich sollte ich Ihnen einfach ein bisschen von mir erzählen, damit Sie entscheiden können, ob ich so klinge, als könnten Sie mich mögen.
Ich bin einundvierzig, also deutlich unter Ihrem Höchstalter von fünfzig! Ich bin gut 1,80 m groß und habe noch immer den Großteil meiner Haare. Ich lege ein Foto bei, damit Sie einschätzen können, ob ich anständig aussehe oder nicht! Ich bin Bauer, was Sie ja Ihrer Anzeige zufolge suchen. Der Hof liegt in der Nähe von Muirinish in West Cork. Er ist knapp fünfzig Hektar groß, aber wenn ich ehrlich bin, sind davon nur zweiunddreißig zu etwas zu gebrauchen, der Rest besteht aus Marschland. Ich halte Milchvieh, was mir Freude macht, obwohl es einen ein bisschen unfrei macht.
Warum also ist dieser tolle Fang noch zu haben? Tja, die Situation zu Hause war nicht ganz einfach. Mein Bruder hatte den Hof geführt, nachdem mein Vater gestorben war, aber als ich siebzehn war, kam er bei einem Unfall ums Leben. Also musste ich übernehmen und meiner Mutter helfen, so gut ich konnte. Das bedeutete, dass es nicht einfach für mich war, aus dem Haus zu kommen und jemanden zu treffen, und wenn ich ehrlich bin, hat es mich auch etwas scheu gemacht. Die Zeit vergeht ja schnell, und ich bekam das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, um eine Ehefrau zu finden, bevor es zu spät ist.
Wegen des Melkens wäre es für mich schwierig, zu einem Kennenlernen zu Ihnen zu kommen, aber ich würde Sie gern in der Innenstadt von Cork zum Mittagessen oder auf eine Tasse Tee treffen. Falls Sie möchten, dass ich Ihnen das Fahrgeld für den Zug schicke, lässt sich das bestimmt arrangieren. Ich möchte nicht unhöflich klingen, aber es wäre schön, wenn Sie mir ebenfalls ein Foto schicken könnten, damit ich sehen kann, ob Sie so reizend sind, wie Sie klingen!
Ich hoffe, Sie schreiben mir zurück, aber falls nicht, wünsche ich Ihnen in Ihrem Leben alles Gute.
Mit den allerbesten Grüßen
Edward Foley
Castle House,
Muirinish,
West Cork
15. Dezember 1973
Liebe Patricia,
vielen Dank für Ihren Brief. Ich war sehr glücklich, als ich ihn erhalten habe. Danke auch für die Fotografie. Sie sind so schön, wie ich Sie mir vorgestellt habe. Was mein Foto angeht, gut geraten – ja, es ist bei einem Oldtimertreffen in Upton aufgenommen worden!
Mein Beileid zum Tod Ihrer Mutter. Das muss sehr schwer für Sie sein, zumal Weihnachten vor der Tür steht. Es ist bedauerlich, dass Ihr Bruder Ihnen keine größere Hilfe gewesen ist. Ich habe es in meinem letzten Brief nicht erwähnt, aber ich lebe mit meiner Mutter zusammen. Keine Sorge! Wenn ich eine Frau finde, haben wir die Planungserlaubnis für einen Bungalow, also wären Sie die Hausherrin! Was natürlich nicht heißen soll, dass ich schon glaube, meine Schäfchen im Trockenen zu haben.
Ich bin sehr glücklich, dass Sie sich im neuen Jahr mit mir treffen wollen. Meine Mutter sagt, das Metropole Hotel habe ein gutes Fleischbuffet, und es liegt beinahe neben dem Bahnhof. Klingt das dem Anlass angemessen? Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich bin ziemlich nervös deswegen und hoffe, dass ich Ihnen nicht zu still bin.
Ich hoffe, Sie verbringen ein schönes Weihnachten und sind nicht allzu traurig.
Mit allen guten Wünschen
Edward
Castle House,
Muirinish,
West Cork
3. Januar 1974
Liebe Patricia,
vielen Dank für Ihre Karte. Ist die Stadt, die darauf zu sehen ist, Buncarragh? Meine Mutter bedankt sich ebenfalls.
Ich bin sehr aufgeregt wegen nächster Woche. Ich hole Sie vom Zug ab. Hoffentlich erkennen wir einander von unseren Fotografien. Nur für den Fall: Ich stelle mich neben den Kiosk des Cork Examiner gleich neben dem Eingang. Ich werde eine Tweedjacke tragen, weil ich offen gestanden nur diese eine anständige Jacke habe!
Es wird fürs Mittagessen noch ein wenig früh sein, aber wenn das Wetter nicht allzu rau ist, können wir vielleicht zuerst einen Spaziergang am Fluss machen. Wenn ich ein bisschen still bin, denken Sie bitte nicht, es läge daran, dass ich Sie nicht mag. Ich kann nur noch nicht sagen, ob meine Nerven mitspielen.
Also sehen wir uns am Zehnten. Oh, und falls Ihr Zug Verspätung hat, machen Sie sich keine Gedanken, ich werde warten.
Mit allen guten Wünschen
Edward
PS: Falls Sie es sich anders überlegen, lassen Sie es mich bitte wissen.
Castle House,
Muirinish,
West Cork
11. Januar 1974
Liebe Patricia,
mit Worten lässt sich nicht beschreiben, wie herrlich unser Treffen gestern war. Du bist in natura sogar noch schöner und dazu noch lustig und liebenswürdig.
Danach, auf der Fahrt nach Hause, sind mir all die Dinge eingefallen, die ich Dich fragen und die ich sagen wollte. Nächstes Mal! Ich hoffe, Du möchtest, dass es ein nächstes Mal gibt.
Die Sache bei Deiner Ankunft tut mir leid. Ich war nur so furchtbar nervös. Ich hätte Dich nicht vorbeigehen lassen, ohne Dich zu begrüßen – es hatte mir bloß die Sprache verschlagen! Ich habe alles genossen, sogar den stürmischen Spaziergang! Ich fand das Mittagessen gelungen, auch wenn Dein Hühnchen ein wenig trocken aussah, obwohl Du gesagt hast, das sei es nicht gewesen. Du bist zu freundlich.
Ich hoffe, Du findest mich nicht zu forsch, wenn ich sage, dass mir der liebste Teil des Tages unser Abschiedskuss war. Es war wunderbar, wie sich Deine Lippen anfühlten. Ich wünschte, ich hätte Dich länger festgehalten. Seitdem denke ich daran. Wann darf ich Dir einen Begrüßungskuss geben? Ich hoffe, bald.
Meine Mutter sagt, Du bist herzlich eingeladen, uns in Castle House zu besuchen. Sie wird anwesend sein und Aufsicht führen, also besteht keine Gefahr eines Skandals! Sie fragt sich, ob sie an Deinen Bruder schreiben sollte, um ihn in dieser Hinsicht zu beruhigen.
Ich kann nicht lügen. Ich war seit langem nicht mehr so glücklich.
In der Hoffnung, Dich bald wiederzusehen
Edward
Elizabeth legte den Stapel Briefe auf den Boden. Ihr Vater! Edward Foley. Dieser Name war alles gewesen, was sie bisher über ihren Vater gewusst hatte. Sie hob die Seiten wieder auf, und ihre Hand zitterte. Der Mann, den ihre Mutter ihr nie erlaubt hatte kennenzulernen, hatte dieses Papier berührt. Sie wusste, es war lächerlich, aber wenn sie seine ordentliche Handschrift betrachtete, die schwarze Tinte auf dem blauen Briefpapier, fühlte sie sich mit ihm verbunden. Hatte ihre Mutter die Briefe hier aufbewahrt in dem Wissen, dass sie sie finden würde? Waren die Briefe ihr Geschenk aus dem Grab heraus?
Elizabeth las weiter. Ein weiterer Besuch in Cork. Ein Wochenende, das sie in Castle House verbrachten. Die Briefe wurden zu echten Liebesbriefen. Es gab weitere Küsse und sogar eine Anspielung darauf, wie sich die Brüste ihrer Mutter anfühlten. Vielleicht hatte sie sie doch nicht finden sollen. Am Boden des Stapels dann befand sich eine Seite desselben hochwertigen Briefpapiers, aber diese hier war mit blauem Kugelschreiber bekritzelt. Nur zehn große Buchstaben erstreckten sich über die gesamte Seite. Sie waren in dünner, zittriger Handschrift geschrieben, aber Elizabeth war sich sicher, dass das Wort, das sie buchstabierten, VERZEIHUNG hieß.