Ob die Leute es ihr ansahen?
Patricia musterte die anderen Fahrgäste in ihrem Zugabteil. Ein glatzköpfiger Geschäftsmann mit fettglänzendem Gesicht, der in seine Zeitung vertieft war, eine junge Frau, die mit ihren beiden gelangweilten Kindern «Ich sehe was, was du nicht siehst» spielte, eine ältere Dame, die gedankenverloren an ihren Zähnen saugte, während sie etwas Kleines, Rosafarbenes strickte. Sie schienen überhaupt nicht zu bemerken, dass sie im Alter von zweiunddreißig zu dem aufregendsten und skandalösesten, ja, das war genau das Wort dafür, dem skandalösesten Abenteuer ihres ganzen Lebens aufbrach.
Rosemary hatte sie zum Bahnhof in Kilkenny gefahren. Sie hatten einander auf dem Bahnsteig umarmt, und als der Zug eingefahren war, hatte sie Patricia einen leuchtend gelben und roten Schal um den Hals gebunden.
«Um dich ein bisschen aufzupolieren.»
Patricia sah geknickt aus und blickte an ihrem dunkelblauen Mantel hinab zu den schwarzen Schuhen. «Sehe ich annehmbar aus?», fragte sie, und Panik kroch in ihre Stimme.
«Nein, nein! Du siehst schön aus.» Rosemary nahm sie an den Oberarmen und blickte ihrer Freundin in die Augen. «Wirklich.»
Der Zug war zum Stillstand gekommen. Pfiffe ertönten. Türen schlugen zu.
«Viel Glück! Ich kann es nicht erwarten, alles zu erfahren. Ich warte heute Abend hier auf dich.»
«Vielen Dank, Rosemary. Du bist grandios.»
Patricia stieg in den Zug und blickte über die Schulter. «Tschüs!» Dann stieß sie ein lautes, nervöses Lachen aus, das beinahe ein Hilferuf war.
«Du wirst es großartig machen!»
Ihr letzter Rest an Selbstbewusstsein hatte sich auf der langen Reise, bei der sie zweimal umsteigen musste, langsam in Luft aufgelöst. Als sie bei der Anfahrt auf den Bahnhof von Cork durch eine Reihe von langen Tunneln fuhren, fühlte sie sich wirklich unsicher. Eines der Kinder hatte zu schreien begonnen, weil es seine rote Wollmütze nicht aufsetzen wollte, und der Geschäftsmann zwängte sich in seinen Mantel. Endstation.
Patricia blieb einen Moment auf dem Bahnsteig stehen, um sich zu orientieren. Am Ende des Bahnsteigs zu ihrer Rechten war ein großes Schild, das auf den Ausgang verwies. Sie band sich den Gürtel ihres Mantels neu und drehte Rosemarys Schal auf, wie sie hoffte, kesse Weise mit dem Knoten zur Seite. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und hielt ihre Handtasche fest umklammert in dem Versuch, das Zittern ihrer Hände zu unterbinden. Ihr Herz fühlte sich an, als würde es vibrieren, so schnell schlug es. In Gedanken wiederholte sie ihr Mantra: «Du wirst es großartig machen. Du wirst es großartig machen.»
Draußen schien es sehr hell und laut zu sein. Auf der Straße hinter dem Parkplatz vor dem Bahnhof fuhren Autos vorbei. Als sie sich umblickte, fand sie schnell den Kiosk mit dem großen Schild darauf, auf dem Cork Examiner stand, und da … gleich dahinter erkannte sie Edward, der auf sie wartete. Tatsächlich machte er auf seinem Posten eher den Eindruck, als versteckte er sich. Sie fragte sich, ob er sie gesehen hatte. Er starrte konzentriert in die andere Richtung. O Gott, das war alles ein riesengroßer Fehler. Sie wollte direkt wieder zurück in den Bahnhof und in den nächsten Zug nach Hause steigen oder den nächsten egal wohin. Nein. Sie war den ganzen Weg hierhergekommen, und seine Briefe waren reizend. Edward Foley würde sich mit ihr treffen, ob er wollte oder nicht.
«Edward?»
Keine Antwort. Der Kopf des Mannes blieb abgewandt. Zitterte er, oder sah sie das falsch?
«Edward?», wiederholte sie etwas lauter. Dieses Mal tippte ihm der alte Zeitungsverkäufer auf die Schulter, und er war gezwungen, sich umzudrehen. Die dunklen Augen, die auf dem Foto so freundlich gewirkt hatten, waren vor Angst geweitet. Sein Mund stand offen. Patricia wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Sie hielt ihm ihre Hand hin und sagte: «Hallo. Ich bin Patricia.»
Edward blickte auf ihre Hand, als habe er noch nie zuvor eine gesehen und als wisse er jedenfalls nichts damit anzufangen. Patricia spürte, wie sie vor Scham errötete. Der alte Zeitungsverkäufer beobachtete feixend ihr langsames, steifes Puppentheater. Sie fürchtete schon, gleich in Tränen auszubrechen, da nahm Edward, als habe jemand einen Schalter umgelegt, ihre Hand und schüttelte sie. Seine Haut fühlte sich warm und rau an. Der einfache Handschlag kam ihr eigenartig intim vor. Ihre Blicke begegneten sich einen Moment, bevor er schnell zu Boden sah. «Hallo.» Seine Stimme war tief und heiser. Selbst bei dem einen Wort konnte sie den schweren Akzent der Region um Cork heraushören. Als wäre er von diesen Bemühungen, sich sozialverträglich zu verhalten, bereits ausgelaugt, ließ Edward seinen Arm herabfallen und sprach kein weiteres Wort mehr. Patricia seufzte tief. Es würde ein sehr langer Tag werden.
«Wollen wir spazieren gehen?», schlug sie vor. Er riskierte es, den Blick kurz bis zu ihrem Gesicht zu heben, und ging dann los. Patricia wertete dies als Zustimmung, und so folgte sie ihm. Sie gingen schweigend, bis sie an eine Ampel kamen. Edward zeigte nach links und informierte Patricia: «Der Fluss ist da unten.»
«The Banks of the Lee», sagte Patricia und bezog sich auf das alte Volkslied, das den Fluss besang.
Edward starrte sie an, als habe sie gerade eine Äußerung in Althebräisch von sich gegeben. «Ja. Nur da runter.» Er ging wieder los. Patricia fragte sich, was er wohl täte, wenn sie ihm nicht folgen würde, aber sie ging hinter ihm her.
Sie gingen bis zu einer Metallbrücke hinunter. Am anderen Ufer des Flusses bogen schaukelnd Busse zum Bahnhof ein und fuhren wieder los. Die Menschen auf dem Gehweg hasteten an ihnen vorbei, sie schienen in großer Eile. Rund um sie herum lebten alle ihr Leben, während sie sich hier diesen eigenartigen Mann aufgeladen hatte, der nicht das geringste Interesse an ihr zu haben schien.
Auf halbem Weg über die Brücke blieb Edward stehen und blickte über die Balustrade hinunter ins trübe Wasser. Patricia tat es ihm gleich. Vom Fluss her stieg ein starker Wind auf und blies ihr das Haar um die Ohren. Sie wusste, dass sie einen schlimmen Anblick bieten musste, aber es war ihr egal. Sie hörte etwas, und als sie Edward ansah, begriff sie, dass er leise etwas sagte. Sie beugte sich vor, um ihn zu verstehen.
«Ich liebte sie innig, fürwahr und treu. Niemand auf der Welt hatt’ ich lieber als sie.»
Wovon in Gottes Namen redete er?
«Bei jedem Busch, jedem Kraut, jeder wilden Blume, denk’ ich an meine Mary am Ufer des Lee.»
Natürlich. Jetzt begriff sie. Ihr Kopf senkte sich, sie begann ebenfalls zu sprechen, und ihre Stimmen vermischten sich im Wind.
Und so pflück’ ich der Liebsten Rosen, wilde irische Rosen,
Ich pflück’ meiner Liebsten Rosen, die schönsten, die es je gab,
Und ich leg’ sie auf ihr Grab, der Herzallerliebsten,
In dem kalten stillen Tale, wo sie liegt unterm Tau.
Die Liedstrophe endete, ihre Stimmen verstummten, er wandte sich zu ihr um und lächelte. Sein Gesicht war freundlich. Patricia lächelte zurück. Sie versuchte sich etwas auszudenken, das sie sagen könnte, um den Schwung zu erhalten, aber ihr fiel nichts ein. Als er sich umwandte und weiterging, folgte sie ihm.
Das Mittagessen war eine Tortur. Er schlürfte seine Gemüsesuppe ohne Kommentar hinunter, während sie an ihrem kleinen Glas Grapefruitsaft nippte. Als die junge Kellnerin ihre Vorspeisen abräumte, schenkte sie Patricia ein kleines aufmunterndes, mitleidiges Lächeln. Die Fragen zu seiner Anreise, zum Hof, zu seiner Mutter vermochten nichts in Gang zu setzen, was einem Gespräch geglichen hätte. Die einzige Frage, die er ihr den gesamten Tag über stellte, galt seiner Sorge, ob ihr Hühnchen trocken sei.
«Nein. Nein, es ist gut, danke.»
«Sieht trocken aus», stellte er fest und säbelte einen großen Bissen Lamm ab.
Irgendwie machte die Tatsache, dass er recht und ihr Fleisch die Konsistenz einer Kreidetafel hatte, die Sache nur noch schlimmer. Es war, als wäre es seine Schuld.
Endlich waren sie wieder zurück am Bahnhof, eine halbe Stunde zu früh für ihren Zug, aber das war Patricia egal. Sie wollte nur, dass der Tag endete. Sie standen einander am Eingang des Gebäudes gegenüber, und sie wollte ihm gerade die Hand schütteln und sich für das Mittagessen bedanken, da stieß er seinen Kopf vor wie ein Kuckuck aus der Uhr, der die volle Stunde anzeigt. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen gedrückt. Ihr entfuhr ein unwillkürlicher Überraschungslaut.
«Oh, Entschuldigung, ich …» Er suchte nach einem seiner wenigen Worte.
«Nein. Es ist …» Patricia kämpfte ebenfalls.
«Also.»
«Ja.»
«Dann gehe ich wohl.»
«Gut. Danke für das Mittagessen.»
Nun starrte er sie mit hochgezogenen Schultern an und knetete seine Finger. Patricia sehnte sich danach, dass er endlich ging, aber er stand noch immer da. «Geh!», schrie sie ihn innerlich an. Das hier machte ihm doch bestimmt auch keinen Spaß, oder? Sein Gesicht sah aus, als dächte er an etwas anderes, als erinnere er sich an eine große Trauer. «Entschuldigung», flüsterte er, drehte sich dann schnell um und ging fort.
Patricia wollte ihm plötzlich etwas hinterherrufen, ihn irgendwie beruhigen, ihm ein besseres Gefühl geben, was ihre Verabredung anging. Sie dachte über diesen Mann nach, der den gesamten Liedtext von The Banks of the Lee kannte. Warum war es ihr nicht möglich gewesen, den Nachmittag mit ihm zu verbringen? Wie kam es, dass der Mann, der ihr solch reizende Briefe geschrieben hatte, in ihrer Anwesenheit völlig versteinert war?
Patricia stellte sich unter die große Bahnhofsuhr, zuversichtlich, dass es kein nächstes Mal geben würde.