Sorgsam, als könnte ihre Mutter herausfinden, dass sie sie gelesen hatte, faltete Elizabeth die Briefe wieder zusammen und legte sie in ihre staubige Vergessenheit in der Kiste zurück. Wer war ihre Mutter damals gewesen? Sie konnte sich nicht vorstellen, wie die strenge, ungerührte Frau, die sie großgezogen hatte, auf diese süßen, scheuen Briefe geantwortet hatte. Die Mutter, die sie gekannt hatte, war jeder Spur von Romantik beinahe mit Hohn begegnet. Ein kleiner Knoten aus Trauer und Bedauern zerrte an ihrem Herzen. Sie würde die junge Frau, die sich ein anderes Leben erhofft hatte, niemals kennenlernen. Sie dachte an die alten Schulfotos unten, die sie als Kind immer so eingehend studiert hatte. Onkel Jerry in kurzen Hosen. Er hielt ihre Mutter vor deren Erstkommunion an der Hand. Zwei Mädchen im Teenageralter, die vor dem Eingang von Convent Hill standen, die Arme Irish-Dance-mäßig gerade und eng an die Körper gepresst. Eine Sommerbrise blies ihnen das Haar um die lachenden Gesichter. Eine glatte, makellose Stirn, eingerahmt von einem blassblauen Satinband, das zum Brautjungfernkleid ihrer Mutter passte, die neben der Braut Tante Gillian stand. Das Lächeln in ihrem Gesicht, die in einer Mischung aus Hoffnung und

Sie dachte daran, wie sie sich damals gefühlt hatte, als sie vor all den Jahren Elliot in New York kennengelernt hatte. Sie hatte damals an ihrer Doktorarbeit geschrieben. Er war nicht ihr erster Freund gewesen, aber was sie für ihn empfunden hatte, war mit allem, was die unerfahrenen Jungen am University College in Dublin ausgelöst hatten, nicht zu vergleichen. Elliot war gefährlich. Er erregte und ängstigte sie gleichermaßen. Diese gebräunte Haut und die winzig gezahnte Leiter aus Knochen, die seine Brust hinauf und aus dem Ausschnitt seines geöffneten Hemdkragens stieg. Die selbstbewusste Art, ihren Körper zu berühren, seine Hände, die sich auf unergründliche Weise genau an den richtigen Stellen wiederfanden. Sie schluderte bei ihren Aufsätzen und versäumte ihre Schichten im Café, nur weil sie bei ihm sein musste. Es hatte sich nicht so angefühlt, als hätte sie eine Wahl. Sie war Feuer und Flamme gewesen. High vor Liebe. Bestimmt war es ihrer Mutter nie so ergangen, oder? Andererseits hatte sie sich in diesem Fall auch den qualvollen, zehn Jahre dauernden Absturz erspart, den Elizabeth hatte ertragen müssen. Zehn Jahre voller Argwohn, in denen sie niemals gewusst hatte, was nicht stimmte, in denen ihr aber stets bewusst gewesen war, dass etwas im Argen lag. Dann, vor sieben, beinahe acht Jahren, hatte sie nach den Vorlesungen das College verlassen und den dunkelhaarigen jungen Mann mit dem übergroßen Mantel bemerkt, der sie anstarrte. Sie hatte gedacht, er wäre ein Student.

«Elizabeth?»

Sie stand abrupt auf, um zu vermeiden, dass sie in einem inzwischen vertrauten Sumpf aus Reue versank. Die Kiste wurde wieder in den Schrank geschoben, und mit

Als sie die Küchentür öffnete, bemerkte Elizabeth sie nicht sofort. Es war das Rascheln von Papier, das ihre Aufmerksamkeit erregte, und dann sah sie sie. Sie saß auf ihrer Einkaufstasche aus Stoff und hielt einen Energieriegel in ihren altrosa Pfoten – eine Ratte. Elizabeth kreischte und schlug die Tür zu. Sie keuchte vor Furcht, lehnte sich gegen die Wand und suchte mit den Augen den Eingangsbereich nach weiteren Nagern ab. Sie erzitterte, als sie sich ausmalte, wie viele von ihnen möglicherweise im Haus waren. Waren sie heute Nacht bei ihr im Schlafzimmer gewesen? Natürlich war sie daran gewöhnt, dass spätnachts Ratten um die schwarzen Müllberge in den Straßen von New York wuselten, aber das hier war eine andere Sache. Dieses Tier aus solcher Nähe zu sehen war beinahe pornographisch gruselig. Sie überlegte, was sich alles in der Küche befand. Ihr Autoschlüssel, die Hausschlüssel, die Handtasche mit ihrem Reisepass und dem Portemonnaie. Sie brauchte eine Falle oder Gift oder was man auch immer seit ihrer Kindheit an neuen Methoden entwickelt hatte. Der Laden, der sich dafür anbot, war Keane and Sons. Solange sie denken konnte, war er wie

Der Laden öffnete nicht vor neun. Nach einer sehr kurzen kalten Dusche, die bei ihr beinahe einen Herzstillstand ausgelöst hätte, zog sie sich an und kam wieder nach unten. Die Küche blieb Sperrgebiet, und es war noch immer erst acht Uhr. Der hohe Poststapel fiel ihr ins Auge, der auf dem Konsolentisch lag. Sie seufzte und setzte sich in den Mahagonistuhl mit der hohen Lehne, der schon immer zum Telefonieren benutzt worden war. Wie immer knarrte er, und die Lehne stieß, ebenso wie immer, beim Hinsetzen gegen die Wand. Als sie die verschiedenen Umschläge aufriss, fand sie Spendengesuche von Esel-Asylen, von Krebs-Stiftungen, für Blindenhunde, diverse Strom- und Telefonrechnungen, einen Brief von der Müllabfuhr, in dem die Beendigung der Dienstleistung für diese Adresse bestätigt wurde, und dann einen Brief des Anwalts ihrer Mutter, Ernest O’Sullivan.

Sie nahm an, es handelte sich um eine Rechnung, aber der Brief war an sie adressiert. Er wollte mit ihr über das Testament ihrer Mutter sprechen und über einen Anhang, der aufgetaucht sei. Elizabeth überprüfte das Datum des Briefs: eine Woche nach der Beerdigung ihrer Mutter. Sie faltete die Seite zusammen und steckte sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Hoffentlich ließ sich das am Telefon klären. Sie hatte keine Lust, die ganze Strecke bis nach Kilkenny zu fahren. Solange es nichts mit ihrem Onkel Jerry zu tun hatte oder ihre Pläne erschwerte, war ihr

«Hi, Mom. Ich bin’s. Wollte dir nur sagen, dass ich angekommen bin. Dad hat mich am Flughafen abgeholt, und es ist alles super. Echt warm im Vergleich mit zu Hause. Hoffe, Irland ist nicht so deprimierend. Bin total fertig, also gehe ich jetzt schlafen. Hab dich lieb.»

Es war so schön, seine Stimme zu hören. Diese New Yorker Coolness, mit der er seine jugendliche Aufregung über die Reise übertünchen wollte. Sie überlegte, ob sie ihn zurückrufen sollte, entschied sich aber dagegen. Er hatte getan, worum sie ihn gebeten hatte, und sie angerufen. Also würde sie ihn seine kleine Unabhängigkeit auskosten lassen. Sie würde warten, bevor sie ihn zurückrief. Sie würde keine klammernde Mutter werden, oder um es präzise auszudrücken: Sie wollte nicht zu ihrer eigenen Mutter werden.

Eine der eindrücklichsten Erinnerungen an ihre

 

Als sie das Boost betrat, musste sie den Impuls unterdrücken, die Augen zu verdrehen. Es war, als befände man sich in einem der sehr auf ihre Wirkung bedachten Hipster-Treffs in Williamsburg, die Zach und seine Freunde so toll fanden. Die freigelegten Backsteine hinter der Theke, die Tafeln, die an Ketten hingen, die Metallhocker, die man um alte Hackblöcke aus Metzgereien herum gruppiert hatte. Elizabeth staunte, dass es in Buncarragh einen solchen Ort überhaupt gab. Sie dachte an das alte Café, das von Mrs. Moore geführt worden war, wie hatte es noch geheißen? Kaffee irgendwas … Coffee Pot? Das Seltsame war, dass die Frauen, die vor ihr in der Warteschlange vor dem Tresen standen, Kundinnen von Mrs. Moore hätten sein können, aber stattdessen waren sie hier und bestellten fettarmen Latte und Dry Cappuccino. Sie selbst hatte sich immer vorgemacht, an ihren irischen Wurzeln festzuhalten, indem sie nie etwas anderes bestellte als einen adjektivlosen Kaffee oder Tee, doch jetzt stellte sie fest, dass die ganze Nation sich hier ohne sie weiterentwickelt hatte.

Sie setzte sich auf einen hohen Hocker und balancierte ihren Laptop auf einem Holzbord, das so lang war wie das gesamte Fenster. Das Wi-Fi-Passwort lautete NichtdieBohne. Sie scrollte durch ihre E-Mails und löschte dabei

Die erste stammte von Linda Jetter, ihrer Nachbarin von unten, die sich bereit erklärt hatte, nach der Katze Shelly zu sehen. Tatsächlich war sie so wild darauf gewesen, dass Elizabeth erwogen hatte, ihr das Viech Vollzeit zu überlassen. Zach hatte, kurz nachdem sie seinem anhaltenden Flehen um eine Katze nachgegeben hatte, das Interesse an Shelly verloren. Nach Elliots Auszug hatte Elizabeth mit den üblichen Schuldgefühlen einer alleinerziehenden Mutter zu kämpfen gehabt, und sie hatte gegen jedes bessere Wissen einem Haustier zugestimmt. Es war nicht gerade hilfreich, dass sie jedem, der die Katze kennenlernte, erklären musste, dass sie nicht nach dem Dichter Shelley benannt worden war. Mit dem Wort «Shelly» hatte der kleine Zach lediglich die Schildpattzeichnung ihres Fells bezeichnen wollen. Die E-Mail bestand aus vier Fotos von Shelly in Lindas Wohnung. Wohlwollend betrachtet sah sie gelangweilt aus, schlimmstenfalls verächtlich. Linda hatte bloß geschrieben: «Shelly fühlt sich ganz zu Hause!» Elizabeth tippte schnell eine kurze Antwort, in der sie Linda abermals für ihre Hilfsbereitschaft dankte. Sie wusste nicht, warum, aber sie konnte nicht anders, als für Linda Jetter Mitleid zu empfinden. Sie wusste über sie nur, dass sie Ende fünfzig und nie verheiratet gewesen war und als Rechtsanwaltsfachgehilfin irgendwo in Midtown arbeitete. Es schien, als hätte sie überhaupt kein Sozialleben. Sie kam und ging mit der Präzision eines Uhrwerks in ihren zweckmäßigen Kostümen und trug ihre Büroschuhe in einer Einkaufstüte von Lord & Taylor in der Hand. Vermutlich war sie vollkommen

Die andere Mail war von Jocelyn, einer ihrer Freundinnen aus der Uni. Sie arbeiteten beide im Institut für Englische Literatur und teilten sich die Romantiker. Elizabeth überflog den Inhalt. Lieber Himmel, das waren keine guten Nachrichten. Jocelyn fragte sich, ob Elizabeth bereits wusste, dass Brian Bapst und Nicole Togler das Studium geschmissen hatten. Sie hatten beide ihren Kurs «Die Romantiker und die keltische Tradition» belegt. Ohne die beiden waren nur noch fünf Studenten übrig. Ihr Kurs war dem Untergang geweiht, was sich, dachte sie, eigenartig keltisch und romantisch anfühlte. Sie markierte die Mail als «ungelesen». Sie würde sie später beantworten. Inzwischen musste der Laden geöffnet sein. Sie würde sich einen weiteren Kaffee mitnehmen und hinübergehen.

In einem Korb neben der Kasse lagen hausgebackene Muffins, die in Buncarragh genauso aussahen wie in der 34. Straße, und Elizabeth wollte sich gerade einen nehmen, als sie hörte, wie an ihrem Ohr ihr Name geflüstert wurde. Sie wandte sich um und stand ihrem Cousin Paul gegenüber, der über das ganze Gesicht grinste.

«Ich habe schon gehört, dass du wieder da bist!»

«Ja.» Sie war sich nicht sicher, was sie dem hinzufügen sollte. Sie war ja eindeutig wieder da.

«Noelle hat gesagt, sie hätte dich getroffen.»

«Ja. Stimmt.» Elizabeth suchte nach einer Redewendung, um nicht ganz so kurz angebunden zu wirken. «Sie sah gut aus.»

Fröhlich unterbrach die Barista sie, um zu fragen, was

«Ich wollte dich gerade im Laden besuchen, ehrlich gesagt.»

«Du bist immer willkommen. Was brauchst du?»

«Ich habe in Convent Hill eine Ratte gesehen.»

«Im Garten?»

«Nein. Im Haus. Sie saß auf dem Küchentisch. Ich bin vor Schreck beinahe gestorben.» Elizabeth gefiel es, wie die Worte sich in ihrem Mund anfühlten. Es war ein Ausdruck, den ihre Mutter benutzt hätte, und ganz sicher hätte Elizabeth selbst es auf dem Campus oder zu Hause nie so gesagt.

«Ach du lieber Gott, das ist heftig. Ich schicke dir nachher den jungen Dermot mit ein paar Fallen hoch. Er soll hinter dem Haus auch ein bisschen Gift auslegen.»

«Danke. Das wäre toll.» Die Barista beugte sich vor und verlangte beinahe sechs Euro. Elizabeth weigerte sich zu berechnen, wie viele Dollars das waren. Sie wandte sich wieder an Paul. «Kann ich dir was ausgeben?»

«Bist du sicher?»

«Klar.» Sie erinnerte sich wieder an diese eigenartigen kleinen Tänzchen.

«Dann nehme ich einen Latte. Vielen Dank.»

Nachdem sie bestellt hatten, waren die beiden dazu verurteilt zu warten.

«Sehr schön», antwortete sie und fragte sich, ob sie log oder nicht.

«Kommst du vorbei? Mam und Dad würden dich so gerne sehen.»

«Sind sie da? Dann gerne. Ich möchte etwas mit ihnen besprechen.»

«Okay.» Paul sah verwirrt aus, und Elizabeth bereute augenblicklich, dass sie das gesagt hatte. Er nahm zweifellos an, dass es etwas mit dem Testament zu tun hatte oder mit der Zukunft von Convent Hill.

Auf dem Weg durch die Stadt zu Keane and Sons grüßten sie einige Leute oder riefen ihr aus Autofenstern «Willkommen zu Hause!» zu. Jedes Mal wandte sie sich zu Paul um und formte mit den Lippen die Worte «Wer zum Teufel?», und wenn er sie aufklärte, nickte sie, als habe er das Rätsel für sie gelöst, obwohl sie in Wirklichkeit kein Stück weiser war. Hatte sie diese Menschen vergessen, oder hatte sie sie tatsächlich gar nie gekannt? Es erinnerte sie daran, wie es sich anfühlte, wenn sie auf dem Weg zu ihrer Vorlesung im Hunter College in der 68. Straße die Treppe hinaufstieg und unbekannte Gesichter sie gelegentlich breit anlächelten und begrüßten wie eine alte Freundin.

Im Gegensatz dazu schockierte sie die Vertrautheit, als sie durch die Tür von Keane and Sons trat, denn sie erkannte alles hier wieder. Der Geruch! Kein anderer Ort auf der Welt roch so. Der Geruch nach Kunstdünger gemischt mit Plastik und Pappe lag über den uralten Gerüchen, die im Holzbogen gespeichert waren. Der Laden

«Sie sind alle oben in der Wohnung. Geh doch hoch und begrüße sie.» Paul führte seine Cousine zum Treppenaufgang.

«Elizabeth!» Noelle kam gerade die Treppe herunter, wobei sie sorgsam einen Fuß vor den anderen setzte, wie die Teilnehmerin an einem Schönheitswettbewerb beim Ausstieg aus einem Privatjet.

«Wie geht es dir heute?», erkundigte sie sich und spähte über die zellophanverpackten Strampler hinweg, die sich in ihren Armen stapelten

«Super. Und dir?»

«Keine Rast den Gottlosen.» Noelle kreischte beinahe und betonte das Ende ihres Satzes mit einem eigenartigen nasalen Laut.

«Dann lasse ich dich weitermachen.»

«Wir reden später!», rief sie über die Schulter zurück und eilte an den Glühbirnen mit langer Lebensdauer vorbei.

Hinter dem auf ihrem Gesicht festgefrorenen Lächeln aus Zähnen und Lippenstift versteckte Noelle ihre

Oben in der Wohnung wurde Elizabeth von ihrer Tante Gillian in eine Umarmung geschlossen, die sowohl zu lang als auch zu fest war.

«Elizabeth!», zischte ihr die alte Frau ins Ohr und verwandelte den Namen in eine kummervolle Beschwörung. Als sie ihre Nichte endlich losließ, ergriff sie ihre Hände und blickte ihr in die Augen. «Wie geht es dir? Es muss schwer sein. Schwer. Nicht wahr? Schwer, wieder hier zu sein?»

Ein dickes Goldarmband am Handgelenk ihrer Tante erregte ihre Aufmerksamkeit. Das war doch …

«Oh, du hast es bemerkt! Deine Mutter hat darauf bestanden, dass ich es annehme. Hat nicht lockergelassen. Es ist für mich so, so wertvoll.» Gillian streichelte das Armband, bevor sie es mit einem festen Griff umschloss, der nahelegte, dass sie sich bis an ihr Sterbebett nicht mehr davon trennen würde.

Elizabeth kam sich vor, als spielte man mit ihren Gefühlen wie auf einem Flipper. Argwohn, Wut, Eifersucht, Trauer, aber vor allem ein seltsames Bedauern, denn der einzige Mensch, der diese Geschichte zu schätzen gewusst hätte, konnte nicht mehr angerufen werden. Ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Familie war in den letzten Jahren nicht zuletzt daraus gespeist worden, dass sie über ihre Tante und ihren Onkel lachte oder zuhörte, wie ihre Mutter von

«Entschuldige. Ich war nur überrascht. Es ist so seltsam, weißt du, allein ohne sie im Haus zu sein.»

«Natürlich, natürlich.» Gillian fasste nun nach dem Arm ihrer Nichte und zog sie neben sich auf das grüne Brokatsofa.

«Möchtest du eine Tasse Tee?»

«Nein, danke. Ich hatte gerade einen Kaffee.»

«Ach komm, du nimmst eine Tasse.» Gillian hievte sich aus dem Sofa. «Ich mache sowieso gerade welchen. Jerry lechzt bestimmt schon danach.» Sie machte sich auf den Weg in die Küche, und Elizabeth bemerkte, wie ihre Tante sich auf Stuhllehnen abstützte und beim Gehen leicht von einer Seite zur anderen schwankte. Wie viele Jahre Tante Gillian wohl noch zu leben hatte? Eine ganze Generation machte sich davon wie eine bröckelige Klippe, die ins Meer stürzte.

Auf sich gestellt, blickte sie sich im Zimmer um. Ein neuer Flachbildfernseher war die einzige wahrnehmbare Neuerung seit der Zeit, die sie hier als Mädchen verbracht hatte. Die weißen Pferde galoppierten noch immer in die Brandung auf dem großen Kunstdruck über dem braun-beige gekachelten Kamin, in dem nun elektrische Heizstäbe glommen, wo einst Kohlen gebrannt hatten. Eine verblasste gerahmte Gobelinstickerei mit der Landkarte Irlands, von der sie relativ sicher war, dass ihre Mutter sie angefertigt hatte, hing neben dem Eckschrank,

Ein Schatten fiel in den Raum, und als sie sich umwandte, sah sie im Türrahmen ihren Onkel Jerry stehen. Eine weitere Umarmung, wobei diese es nicht darauf anlegte, die Monate und Jahre des Schweigens zwischen ihnen zu kompensieren. Er wirkte kleiner als früher, aber der männliche Geruch nach Haaröl und Zigaretten war so stark wie immer.

«Jerry? Bist du das?», drang Gillians Stimme aus der Küche. «Kannst du mir mit dem Tablett helfen?»

Wie ein gut abgerichteter Hund drehte sich Jerry um und trottete von dannen. Die Hose schlotterte um seine Beine herum und wirkte viel zu lang. Elizabeth fragte sich, ob sie anbieten sollte, das Tablett zu tragen, rief sich dann aber in Erinnerung, dass dieser geriatrische Hochseilakt vermutlich jeden Tag so ablief.

Als der Tee eingeschenkt war, saßen die drei zusammen und redeten über Alltägliches. Wie es mit dem Rentnerleben so lief, welch großartige Arbeit Paul und Noelle im Laden leisteten, dass die Enkel so schnell groß wurden, und es kamen sogar ein paar Fragen nach Elizabeths Leben in New York und nach ihrem Sohn – «Zach», erinnerte sie sie. Jegliche Erwähnung Elliots oder ihrer Ehe wurde taktvoll vermieden.

Nachdem der Smalltalk sich totgelaufen hatte, setzte Elizabeth ihre Tasse ab und räusperte sich.

«Ich habe mich gefragt, ob es etwas gibt, das ihr beide mir über Edward Foley erzählen könntet?»

Gillian spitzte nachdenklich die Lippen, und Jerry

«Foley? Ich glaube nicht, dass ich auch nur einen einzigen Foley kenne. Jerry?» Ihr Mann zuckte mit den Schultern und warf ihr einen Blick zu, der besagte, dass sie ihn ebenso gut hätte bitten können, eine Operation am offenen Herzen vorzunehmen.

«Weshalb fragst du?»

«Mein Vater? Edward Foley?», half Elizabeth ihrer Erinnerung auf die Sprünge.

Tassen wurden abgestellt. «Oh, der Edward Foley», sagte Gillian bedächtig. Sie blickte zu ihrem Ehemann.

«Dein Vater», wiederholte Jerry wenig hilfreich.

«Tja, also, ich weiß nicht, was für Sachen, also, was du wissen willst?» Ihre Tante wirkte durcheinander, was völlig untypisch für sie war.

«Es ist bloß, ich habe gestern Abend in Convent Hill ein paar Briefe von Edward Foley gefunden, es sind einige.»

«Briefe?»

«Ja, aus der Zeit, in der sie sich verliebt haben. Es ist nur, ich weiß so wenig darüber. Mammy hat nie über ihn gesprochen.»

«Ich weiß nicht, ob es gut wäre, wenn wir …», setzte Jerry an und wandte sich hilfesuchend an seine Frau.

«Sicher, Jerry. Patricia ist nicht mehr da, Gott hab sie selig, und was schadet es, wenn wir jetzt darüber sprechen?»

«Na ja, wir wissen so wenig.»

«Was wisst ihr denn?» Elizabeth wollte nur Antworten.

«Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht viel. Deine Mutter ist eine Bekanntschaft eingegangen, mit diesem Bauern irgendwo in Cork, wir kannten damals nicht mal seinen Namen, oder?»

«Hatten keine Ahnung», bestätigte seine Frau.

«Jedenfalls hat sie ihn da unten ein paarmal besucht, und dann hören wir als Nächstes ohne Vorwarnung und aus heiterem Himmel, dass sie verheiratet ist. So war´s doch, oder?» Er wandte sich zur Bekräftigung an seine Vorgesetzte.

«Eine Anzeige in der Zeitung, das war alles, nicht, Jerry? Kein Brief, gar nichts, keine Nachricht, kein Anruf. Es war alles äußerst seltsam.» Gillian übernahm jetzt die Geschichte, und ihr Ehemann lehnte sich erleichtert und seiner Pflichten entledigt zurück.

«Wir haben ihr natürlich geschrieben, aber nichts. Schließlich haben wir dann doch einen Brief bekommen, nicht, Jerry? Von der Schwiegermutter, die erklärte, dass es deiner Mutter nicht gutgehe, sie aber schreiben würde, sobald es besser wäre. Ich habe ihn vermutlich noch irgendwo.» Sie blickte sich um, als hinge er möglicherweise gerahmt an der Wand. «Jedenfalls, ein Jahr später oder noch nicht mal ein Jahr …»

«Ein paar Monate», warf Jerry ein.

«Na ja, wieder ohne Vorwarnung, ohne Anruf, war deine Mutter wieder zurück, und dich hatte sie in ein Tuch gewickelt dabei. Wir haben nie Fragen gestellt, und du kennst ja deine Mutter, sie hat sich nie entschuldigt oder etwas erklärt. Wir wurden nie schlau daraus. Stimmt’s, Jerry?»

«Ihr habt sie nie danach gefragt?» Elizabeth konnte es nicht glauben.

«Na ja, du hast sie gefragt, ob sie jetzt endgültig zurück sei, nicht, Jerry? Ob sie hierbleiben würde? Sie sagte ja. Und das war’s. Allerdings haben ein paar andere sie nach ihrem Ehemann gefragt, und angeblich war er gestorben. Ich nehme aber an, er muss ihr Geld hinterlassen haben, denn sie hat nie gearbeitet.»

«Ich dachte immer, sie hätte einen Teil der Erlöse vom Laden bekommen.»

«Nein, nein», sagte Gillian ein wenig verlegen. «Das hat aufgehört, nachdem deine Granny gestorben ist.»

Jerry hustete und sagte leise, ohne Elizabeth oder seine Frau anzusehen: «Um ehrlich zu sein, hatten wir uns zu dem Zeitpunkt etwas überworfen. Es war kein Wunder, dass sie sich uns nicht anvertraut hat.»

«Sie ist einfach abgezogen und hat das Haus sich selbst überlassen.»

«Es war ihr Haus.»

Gillian zog die Lippen ein und bewegte sie hin und her. Diese Unterhaltung war offensichtlich schon einige Mal geführt worden. Elizabeth fragte sich, ob die Teile der Geschichte, die eindeutig fehlten, überhaupt mit ihrer Mutter zu tun hatten. Vielleicht waren sie eher Teil einer andauernden Schlacht zwischen ihrer Tante und ihrem Onkel.

«Es gibt da eine Frau, die vielleicht mehr weiß als wir», sagte Jerry von sich aus. Gillian warf ihm einen zweifelnden Blick zu.

«Rosemary O’Shea?» Tante Gillian hob die Augen zum Himmel. «Die hat aber ganz sicher einen Sprung in der Schüssel.»

«Lebt sie noch in Buncarragh?», fragte Elizabeth, um ihren Onkel bei der Stange zu halten.

«Oh, ja. Du kennst bestimmt ihr Haus. Das kleine, efeubewachsene auf Connolly’s Quay. Gleich neben dem ehemaligen Fahrradladen. Jetzt ist da der Secondhandladen von St. Vincent.»

«Meint ihr, ich könnte einfach bei ihr vorbeigehen?»

«Ich wüsste nicht, was dagegenspricht. Sie ist im Ruhestand. Hatte mal den kleinen Friseursalon, dort, wo jetzt das neue Café ist.»

«Da war ich gerade erst heute Morgen», sagte Elizabeth, beinahe begeistert über diesen Zufall.

«Verrückt», wiederholte Tante Gillian und verschränkte die Arme. Sie hatten Elizabeth ja gewarnt.