Die Sonne veränderte alles. Die kahlen Äste der Rosskastanien frohlockten in den blauen Himmel hinein, und das schimmernde Wasser des Wehrs wirkte beinahe festlich. Elizabeth ertappte sich dabei, dass sie mit den Armen schwang, als sie Connolly’s Quay entlangging. Diese Straße war ihr in der Stadt immer eine der liebsten gewesen, mit ihrer langen Baumreihe und dem Grünstreifen, der die Straße von dem steil abfallenden Flussufer trennte. Die Häuser sahen im Großen und Ganzen noch so aus, wie sie sie in Erinnerung hatte, und Busteed’s Lounge und Bar hatte noch immer diese Blumenampeln, die selbst im Januar beinahe platzten vor Farbenpracht. Zwischen dem ehemaligen Fahrradladen und einem großen grauen Haus, in dem früher Dr. Whelan gewohnt hatte, befand sich, genau wie von ihrem Onkel beschrieben, ein kleines, efeubewachsenes Cottage.
Als sie vor der Tür mit ihren Milchglasscheiben stand, zögerte Elizabeth. Weshalb war sie hier? Was würden Antworten ihr jetzt noch nutzen, zumal sie nicht einmal wirklich wusste, was die Fragen waren? Bevor sie läuten konnte, brach hinter der Tür aggressives Gekläff los. Sie konnte die Umrisse zweier kleiner Hunde erkennen, die hochsprangen und mit ihren Pfoten gegen das Glas patschten. Noch bevor sie sich gegen diesen Besuch entscheiden konnte, erschien ein deutlich größerer Umriss hinter den Glasscheiben, und die Tür wurde ein Stück aufgezogen.
Eine rotgesichtige Frau steckte den Kopf heraus. Sie sah jünger aus, als Elizabeth erwartet hatte. Ihr Haar war glänzend auberginefarben getönt, nur der breite Haaransatz war grau.
«Maxi! Dick! Haltet die Klappe!» Die Frau trat nach den kleinen Hunden und versuchte, deren lärmenden Rückzug hinter der Tür mit Freundlichkeit wettzumachen.
«Hallo. Sind Sie Rosemary O’Shea?»
«Bin ich. Wollt ihr wohl aufhören?», sagte sie, noch immer an ihre Haustiere gewandt.
«Entschuldigung, dass ich Sie störe. Ich bin Elizabeth, Patricia Keanes Tochter.»
Rosemarys Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie musterte ihre Besucherin von oben bis unten, als suche sie nach Hinweisen auf ihre alte Freundin. «Oh. Herzliches Beileid für Ihren Verlust.» Beide Frauen schwiegen einen Augenblick, bevor Rosemary fortfuhr: «Möchten Sie reinkommen? Dann beruhigen sich diese beiden Pestbeulen vielleicht.»
Ein schlichter Flur mit einem Fußboden aus nackten Kiefernholzdielen führte nach hinten in eine helle, vollgestellte Küche. Die Hunde, die nun als schwarzbraune Yorkshire Terrier zu erkennen waren, sprangen im Kreis um ihre Knöchel herum. Die beiden hatten offenbar beschlossen, begeistert darüber zu sein, dass die Frau, die sie eben noch mit aller Macht hatten verjagen wollen, nun hereingebeten worden war.
«Maxi, Dick, auf euer Bett.» Rosemary zeigte auf einen Haufen alter Handtücher und zerkauter Puppen unter dem großen Fenster, das in den kleinen Garten im Hof hinausging.
«Ich hatte mal drei, aber Twink ist von einem Auto überfahren worden.»
Elizabeth sah verwirrt aus.
«Twink, der Hund. Genau genommen ist Twink noch immer bei uns, jedenfalls in meinen Gedanken. Tee?» Sie schwenkte einen Wasserkocher.
«Ja, bitte. Das wäre nett.»
«Setzen Sie sich hierhin.» Elizabeth nahm an, dass sie den einzigen Küchenstuhl meinte, auf dem sich keine Zeitungen und Zeitschriften türmten. «Ich habe auch Kräutertee, falls Sie den lieber mögen.»
«Nein, danke. Der normale ist prima.»
«Dann also schwarzen», sagte sie und wandte sich dem Spülbecken und dem Herd zu.
Hinter ihr gelang es Elizabeth, sie genauer in Augenschein zu nehmen. Die gekrümmten Schultern waren das Einzige, was ihr wahres Alter verriet. Ihre dicke Wollstrickjacke war lang und schien von überfüllten Taschen zu Boden gezogen zu werden. Darunter trug sie ein eigenartig formloses grünes und gelbes Kleid, das beinahe bis zu den Knöcheln reichte. An den Füßen hatte sie ein paar uralte bordeauxrote Samtschlappen, deren Gummiabsätze wie alte Treppen schon ganz abgetreten waren.
Rosemary O’Shea war nie eine Frau mit einem Plan gewesen. Als junges Mädchen hatte sie es vorgezogen, abzuwarten und die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Jetzt, mit Mitte siebzig, fragte sie sich, ob das ein Fehler gewesen war. Finanziell war alles ganz gut aufgegangen. Der Erlös aus dem Verkauf eines Grundstücks, das sie aus dem Hof der Familie herausgelöst hatte, war groß genug gewesen, dass sie davon ihren kleinen Friseursalon eröffnen konnte. Es war in all den Jahren nicht immer einfach gewesen, aber es war ihr gelungen, damit durchzukommen. Die Moden wechselten, aber sie hatte sich immer an das gehalten, was sie einen «Jungenschnitt» nannte. Entweder mochten ihre Kunden ihn, oder sie fanden sich damit ab. Bald hatte sie aufgehört, Damen die Haare zu schneiden. Ständig hatte sie aus Zeitschriften ausgerissene Bilder vorgelegt bekommen und dann mit Tränen und Wutausbrüchen zu tun gehabt, wenn der Spiegel hinterher gnadenlos offenbarte, dass die überspannte Kundin niemals so aussehen würde wie einer von Charlie’s Angels. Männer waren da anders, und die wenigen, die etwas Trendiges wollten, waren einfach nicht wiedergekommen. Sie konnte praktisch auf Autopilot arbeiten, was ihr gut passte, und bei der Arbeit mit den Männern und den Müttern plaudern, die ihre Kinder brachten. So waren die Tage angenehm verschwommen vorübergeflogen. Seltsamerweise war es das Alter, das sie gezwungen hatte, sich mit der Zukunft zu beschäftigen. Schmerzhafte Krampfadern und Knie, die schon zur Mittagszeit weh taten, machten ihr klar, dass sie nicht ewig würde arbeiten können. Das Problem war, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie es sich jemals leisten sollte, sich zur Ruhe zu setzen. Doch dann kam das Angebot von der Cafékette, und nun saß sie in einem weicheren Nest als jemals zuvor.
Jetzt beschäftigte sie sich mit ehrenamtlichen Tätigkeiten und besuchte Abendkurse in Malerei oben in der Volkshochschule. Ihre Nichten und Neffen brachten noch immer ihre Kinder vorbei, damit sie ihnen die Haare schnitt. Meistens war sie zufrieden. Alles fügt sich schließlich zum Guten, sagte sie sich oft.
Die Frage, die sie umtrieb oder doch zumindest leise an ihr nagte, war die nach ihrem Alleinsein. Hatte sie wirklich niemanden kennenlernen wollen? Sie wusste noch, wie sie die anderen Mädchen ausgelacht hatte, die ununterbrochen damit beschäftigt gewesen waren, sich einen Mann zu angeln. Die Vorstellung, sich zu verlieben, war ihr so dumm vorgekommen, aber nun machte sie sich Gedanken, ob sie vielleicht klüger gewesen war, als gut für sie war. Sie musste zugeben, dass es Nächte gab, in denen sie sich wünschte, ihr Bett wäre nicht ganz so breit und kalt. Die Hunde waren eine gute Gesellschaft, aber in letzter Zeit hätte sie die inzwischen gebückten und grauen Schulfreundinnen am liebsten geohrfeigt, die sich anmaßten, ihr zu unterstellen, die Hunde seien für sie wie Kinder. Es hatte über die Jahre ein paar Freunde gegeben, na ja, Männer, mit denen sie ausging, aber keiner schien es wert, ihr Leben für ihn zu ändern. Sie hatte sich bemüht, diese Seite von sich abzuschalten. Natürlich hatte sie gelegentlich körperliche Bedürfnisse, aber wenn sie spätnachts die Augen schloss, sah sie nie ihre männlichen Besucher aus der Vergangenheit oder gut aussehende Fernsehkommissare vor sich. Egal, wie sehr sie es zu verdrängen versuchte: Das Gesicht, das im Dunstschleier ihrer Phantasien schwebte, gehörte der ersten Freundin ihres ältesten Bruders. Sie hatte Anne geheißen, Anne Lyons. In der Nacht, bevor Rosemary aus ihrem Zuhause ausgezogen war, hatten sie sich ihr Zimmer geteilt. Anne war ein paar Jahre älter und besaß einen kleinen Koffer voller Schminksachen und Cremes. Rosemary hatte bloß gesagt, wie gut die Körperlotion roch. Das war alles. Sonst hatte sie gar nichts gesagt. Da hatte Anne ihr davon angeboten, und bevor Rosemary die Gelegenheit gehabt hatte zu antworten, hatte Anne begonnen, die Lotion in ihre Arme einzumassieren, dann in ihre Schultern und dann, ohne zu zögern, als sei es die natürlichste Sache der Welt, waren ihre Hände unter ihr Nachthemd geglitten und hatten begonnen, ihre Brüste zu liebkosen. Rosemarys ganzer Körper hatte unter dieser Berührung gezittert. Warme Lippen auf ihrem Nacken, und dann hatte sie sich umgedreht, und ihre Münder waren einander begegnet. Manchmal, wenn sie sich als erwachsene Frau befriedigte, stellte sie fest, dass ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen. Diese Vorfälle ließen sie verwirrt und furchtsam zurück. Ihre Lüste ängstigten sie, und außerdem: Wozu sollten sie gut sein? Anne hatte mit ihrem Bruder kurz nach ihrer gemeinsamen Nacht Schluss gemacht, und das Letzte, was man von ihr gehört hatte, war, dass sie in Galway mit einem Meeresbiologen zusammenlebte.
Nun las Rosemary Artikel und Interviews oder sah Figuren in Fernsehserien und fragte sich, ob das ihr Leben hätte sein können. Sie glaubte nicht. Sie hoffte nicht. Eine solche Entscheidung hätte sie niemals treffen können, oder? Sie wusste, dass die Leute über sie redeten und sie seltsam und exzentrisch nannten, und sie musste zugeben, dass sie die Aufmerksamkeit genoss. Sie besaß in der Stadt eine gewisse Berühmtheit, und das machte sie stolz, aber das war etwas ganz anderes, als mit einem Etikett versehen zu werden. Sie wollte nicht, dass Fremde glaubten, sie zu kennen, und ihr Dinge unterstellten. Nein. Ihr Leben war passiert, und es war das Leben, das sie gelebt hatte. Keine Reue.
«Es tut mir leid, dass ich nicht zur Beerdigung Ihrer Mutter gehen konnte, aber die von meinem Bruder war gleichzeitig in Durrow.»
«Oje. Das tut mir leid.»
«Ach, er war schon alt. Wir sind alle alt. Bald bin ich dran.»
«Ich würde sagen, in Ihnen stecken noch ein paar gute Jahre.»
«Das Lustige ist, ich fühle mich tatsächlich genau so, und gleichzeitig weiß ich, dass es nicht stimmt. Mein letztes Stündlein kann nicht mehr lange hin sein. Aber niemand außer Maxi und Dick wird sich einen feuchten Kehricht darum scheren.»
Das hier war eine Freundin ihrer Mutter? Elizabeth konnte sich nicht vorstellen, dass die Patricia Keane, die sie kannte, jemals dieser lebendigen, anscheinend furchtlosen Kreatur nahegestanden hatte.
«Haben Sie selbst keine Familie?»
«Nein. Das sollte für mich nicht sein. Nicht, dass es mir etwas ausmachte. Ich mag mein unbeschwertes Leben. Mein kleiner Laden hat mich tagsüber beschäftigt. Ein Friseursalon. Frauenhaarschnitte habe ich schon vor Jahren aufgegeben. Männer sind viel einfacher. Zehn Minuten, und man ist fertig. Keine Klagen. Kein Theater. Der Rest bestand aus Freunden, Büchern und Rotwein!»
«Klingt ganz gut in meinen Ohren.»
«Und Sie selbst? Familie?», fragte Rosemary.
«Ein Sohn, fast schon erwachsen. Ich war verheiratet, aber das ist vor ein paar Jahren zu Ende gegangen.»
«Ach ja! Ich erinnere mich, davon gehört zu haben. Das muss ein ganz schöner Schreck gewesen sein?»
Elizabeth verabscheute den Gedanken, dass die Menschen in Buncarragh sich über sie die Mäuler zerrissen, aber zumindest hatte sie nicht das Gefühl, dass Rosemary sie verurteilte oder, schlimmer noch, andeutete, sie habe irgendwie selbst schuld.
«Es gibt Schöneres.»
Rosemary spürte das Unbehagen ihres Gasts und stellte zwei dampfende Becher auf den Tisch. Elizabeth wollte sich ja nicht wie eine typische Amerikanerin mit einer Phobie vor Krankheitserregern benehmen, aber ihr Becher war schmutzig.
«Danke», sagte sie und versuchte, es begeistert klingen zu lassen. Die alte Dame schichtete ein paar Zeitungen auf einen bereits ziemlich hohen Stapel um und setzte sich. Ohne jede Spur von Verlegenheit steckte sie die Hand in ihren BH und begann ihre noch immer eindrucksvolle Brust darin zurechtzurücken. Elizabeth studierte einen Traumfänger am Fenster, der bis jetzt nur Spinnweben und ein paar tote Fliegen gefangen hatte.
«Ich mochte Ihre Mutter sehr, aber wir waren nicht sehr eng befreundet. Jedenfalls seit vielen Jahren nicht mehr.»
«Mein Onkel hat mir erzählt, dass Sie Freundinnen waren. Ich habe leider keine Erinnerung an Sie aus meiner Kinderzeit.»
«Können Sie auch nicht haben. Wir waren befreundet, bevor Sie zur Welt kamen.»
Elizabeth griff nach ihrem Becher, aber nachdem sie noch einen Blick darauf geworfen hatte, überlegte sie es sich anders und stellte ihn wieder auf den Tisch.
«Darüber wollte ich mit Ihnen reden.»
«Oh, ja.» Die alte Dame beugte sich vor.
«Ich bin hier, um das Haus auszuräumen, und bin auf ein paar Briefe gestoßen.»
«Briefe?»
«Ja. Sie stammen von einem Edward Foley. Ich glaube, er war mein Vater.»
Rosemary stieß ein lautes Ächzen aus, woraufhin Maxi und Dick herbeistürzten, um festzustellen, ob ihr Frauchen Hilfe brauchte.
«Edward Foley! Ich habe seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Und Sie haben die Briefe gefunden? Das ist krass.»
«Also erinnern Sie sich an ihn?»
«Na ja, nicht wirklich. Ich meine, ich bin ihm nie begegnet, aber ich wusste alles über die Briefe.»
«Also waren Sie auch nicht auf der Hochzeit?»
«Nein. Es war ja niemand dabei. Es war alles sehr eigenartig. Sie war hingefahren, um Edward und die Mutter zu besuchen, und dann ist sie einfach nicht wieder zurückgekommen. Ohne ein Wort. Nichts. Ihre Mutter hatte mir die Nummer von denen gegeben, aber ich konnte niemanden erreichen. Ich wollte die Polizei anrufen, aber die alte Mrs. Beamish – sie führte den Salon, in dem ich damals arbeitete – sagte, ich würde nur Ärger bekommen, wenn ich sie weiter belästigte. Also bin ich, und ich weiß nicht, was mich geritten hat, in mein Auto gestiegen – es war ein kleiner Fiat – und den ganzen Weg runter nach Cork gefahren und dann weiter raus nach Timoleague. Ich musste mich ein bisschen durchfragen, aber schließlich fand ich den Hof der Foleys.» Elizabeth stellte sich eine wesentlich jüngere Ausgabe dieser Frau hinter einem Lenkrad vor, wie sie auszog, um ihre Freundin zu retten. Es gefiel ihr zu glauben, dass ihre Mutter jemandem einmal so wichtig gewesen war.
«Und?»
Rosemary schwieg und trank einen Schluck Tee.
«Nichts. Ich habe sie nicht gesehen und ihn übrigens auch nicht. Die alte Mutter kam heraus und sagte mir, Patricia sei zu krank, um Besuch zu empfangen. Sie war recht nett und bedauerte es, dass ich die Reise umsonst gemacht hatte, aber gleichzeitig war mir klar, dass sie mich das Haus keinesfalls würde betreten lassen. Sie hatte etwas Stählernes.»
«Und was haben Sie dann getan?»
«Ich habe mich wieder ins Auto gesetzt und bin nach Buncarragh zurückgefahren. Das Nächste, was ich hörte, eine oder zwei Wochen später, war, dass sie geheiratet hatten. Ich weiß nicht mehr, wer es mir erzählt hat. Es stand eine Anzeige in der Zeitung. Natürlich ergab für mich alles erst später einen Sinn.»
«Was denn?»
«Na ja, als Sie mit Ihnen im Arm wiederauftauchte. Sie waren kein Neugeborenes. Das sah man schon von weitem.» Die alte Frau hielt inne und betrachtete Elizabeths Gesicht, als versuchte sie abzuschätzen, wie viel sie von dieser Geschichte bereits wusste oder erraten hatte. Rosemary holte Luft und fuhr fort. «Sie war offensichtlich schwanger, als sie Buncarragh verließ. Deswegen durfte ich sie nicht sehen. Deswegen war niemand auf der Hochzeit.»
«Wirklich? Sind Sie da sicher?» Elizabeth fiel es schwer, sich vorzustellen, dass ihre Mutter jemals ein sexuelles Wesen gewesen war, und dazu noch eines, das seine Begierden nicht im Griff hatte.
«Fragen wir anders, wann haben Sie Geburtstag?»
«Am einundzwanzigsten März.» Elizabeth antwortete, ohne nachzudenken.
«Als Sie ein Baby waren, gab es keine Geburtstagsfeiern. Erst als Sie zur Schule gegangen sind, sah ich Luftballons, die ans Geländer gebunden waren. Das Datum ist aus der Luft gegriffen, würde ich sagen.»
Elizabeth erinnerte sich an das Theater um ihre Geburtsurkunde, als sie einen Reisepass beantragen wollte. Wie ihre Mutter behauptet hatte, sie verloren zu haben, und eine neue beantragen musste. Damals hatte sie angenommen, es handle sich um eine Verzögerungstaktik ihrer Mutter, die nicht wollte, dass sie ins Ausland reiste, aber vielleicht stimmte die Theorie dieser Frau.
«Sie hat mir nie etwas davon erzählt, das müssen Sie wissen, aber nur so ergibt alles Sinn. Es war alles sehr …» Sie suchte nach dem richtigen Wort. «… na ja, traurig, schätze ich. Ihre Mutter war nie wieder dieselbe, als sie wieder da war. Wir hatten oft zusammen Witze gemacht, über alles geredet, aber die Frau, die nach Buncarragh zurückkam, tja, die habe ich nie mehr lachen sehen. Ihr Leben bestand nur noch darin, Sie aufzuziehen und sich um dieses Haus zu kümmern. Vermutlich hatte sie daran eine gewisse Freude. Vielleicht war nur ich es, die nie erwachsen geworden ist. Man weiß nie wirklich, was in anderen Menschen vorgeht, nicht wahr?»
«Nein. Weiß man nicht.» Elizabeth fragte sich, woran diese zerzauste Frau vor ihr wohl Freude hatte. Was ging in ihrem schlecht gefärbten Kopf vor?
«Und Edward? Was ist mit ihm passiert?»
«Ich habe aus ihr herausbekommen, dass er tot war, aber das war auch alles. Und sie hat sehr klargemacht, dass sie nicht über ihn sprechen wollte. Sie wollte über die ganze Geschichte nicht sprechen.»
Elizabeth lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und versuchte zu verarbeiten, was Rosemary ihr da erzählte. Die Frau, die sie beschrieb, war eine Fremde.
«Tut mir leid, dass ich nicht besser helfen kann.» Rosemary leerte ihre Tasse und stand auf, um sie zur Spüle zu tragen. Elizabeths Tee stand unberührt da. «Wenn mir noch etwas einfällt, lasse ich es Sie wissen.» Die Befragung, nichts anderes war es ja gewesen, war vorüber. Elizabeth erhob sich ließ sich zur Haustür zurückführen.
«Danke. Es ist eigenartig, mir vorzustellen, dass meine Mutter jemals etwas so Skandalöses getan hat.»
«Und sie war kein Mädchen. Sie war eine erwachsene Frau. Aber es war eine andere Zeit. Wir waren ein Haufen von naiven Unschuldslämmern.»
«Das war wohl so.» Elizabeth wandte sich ab, um zur Haustür zu gehen, dann fiel ihr etwas ein, und sie setzte hinzu: «Oh, und danke für den Tee.»
Rosemary hob bloß eine Augenbraue und schloss die Tür hinter ihr.
Der blaue Himmel war verschwunden, nun ballten sich über ihr bleigraue Regenwolken. Da sie nichts anderes mehr zu tun hatte, machte sich Elizabeth auf den Weg zurück nach Convent Hill. Sie war beinahe bei Nummer 62 angekommen, als ihr Cousin Paul ihr aus dem Haus entgegenkam und sie begrüßte.
«Super Timing.»
«Ja? Wie kann ich dir helfen?»
«Ich bin froh, dass ich dich rechtzeitig abfangen konnte.» Paul saugte an seinen Zähnen und strich sich das Haar aus den Augen. «Du kannst da auf keinen Fall übernachten. Das ganze Haus ist voller Ratten.»
«O Gott.» Sie erschauerte.
«Hast du den Kot nicht gesehen? Er ist auf allen Teppichen verteilt, in den Regalen, überall. Ich habe den jungen Dermot damit beauftragt, dein Gepäck runter in die Wohnung zu bringen. Mam und Dad sind entzückt, dass sie dich ein paar Nächte beherbergen dürfen.»
Wer dieses Entzücken nicht teilte, war Elizabeth. In welchen Kreis der Hölle war sie da nun wieder geraten? Sie hatte gehofft, sich unbemerkt in die Stadt und wieder hinaus stehlen zu können, und nun würde sie sich ein Bad mit Onkel Jerry teilen müssen. Das war eindeutig zu viel des Guten. Sie suchte fieberhaft nach einem Vorwand, das Undenkbare abzuwenden.
«Das ist so unglaublich nett von ihnen, aber ich …» Elizabeth wandte den Kopf auf der Suche nach Inspiration von rechts nach links. Nichts. «Die Sache ist die, ich bin genau genommen …» Und dann hatte sie plötzlich einen Einfall. Der Brief in ihrer Gesäßtasche. «Kilkenny!», rief sie aus, als sei es das gälische Wort für Hurra. «Ich muss nach Kilkenny, um den Anwalt zu treffen, und ich bleibe über Nacht.» Sie hechelte beinahe vor Erleichterung.
«Na klar, aber komm doch einfach heute Abend zurück. Kein Grund, Geld für ein Hotel auszugeben», wandte Paul ein. Er wusste, man würde ihn dafür verantwortlich machen, wenn seine Cousine dem familiären Netz entschlüpfte.
«Ich habe Angst, in der Nacht zurückzufahren. Du weißt schon, der Jetlag. Ich will nicht am Steuer einschlafen.» Sie hatte nun einen Lauf, und Pauls Gesichtsausdruck zeigte, dass er besiegt war.
Eine halbe Stunde später hatte Elizabeth ihre Reisetasche aus der Wohnung über dem Laden geholt. «Warum Patricia einen Anwalt in Kilkenny beschäftigen musste, werden wir wohl nie erfahren.» – «Sie wollte nie, dass man Einblick in ihre geschäftlichen Dinge bekommt, deine Mutter.» Elizabeth parkte in einer Parkbucht außerhalb von Buncarragh und telefonierte. Nachdem sie Ernest O’Sullivan angerufen und erklärt hatte, sie sei zufällig in Kilkenny, hatten sie einen Termin am Nachmittag vereinbart. Dann hinterließ sie eine Nachricht auf Zachs Telefon, und jetzt gerade sprach sie auf eines von Elliots Telefonen, die niemand abnahm. «Wollte nur mal hören. Zach hat mir Bescheid gesagt, dass er gut angekommen ist. Ich hoffe, ihr beiden habt Spaß zusammen. Lass uns später reden. Tschüs.» Als sie auflegte, bereute sie ihre Nachricht sofort. Sie hatte es immer schrecklich gefunden, wenn Elliot, selten genug, in seine Elternrolle schlüpfte. Sosehr sie sich auch darüber beklagte, in Wahrheit hatte sie die letzten acht Jahre als alleinerziehende Mutter besser gefunden als die endlosen Diskussionen, das Gezänk und die unbehaglichen Kompromisse, die den größten Teil von Zachs Kindheit ausgemacht hatten. Welches Mobile man über dem Bettchen aufhängen sollte. Wo man ihm seine ersten Jeans kaufen sollte. Manche Dinge waren nicht dafür gemacht, von einem Komitee entschieden zu werden. Da war sie ganz die Tochter ihrer Mutter, vermutlich.
O’Sullivan und Partner, Rechtsanwälte, waren leicht zu finden. Das Büro befand sich in einem großen Gebäude mit Steinfassade, das mal irgendeinem Geldsack gehört haben musste, und lag an der Parade direkt gegenüber der Schlossmauer. Da sie zu früh ankam, setzte sich Elizabeth in das Design Center ein Stück die Straße hinunter und bestellte sich einen Kaffee und ein kleines Stück Blechkuchen, der sogar noch gesünder schmeckte, als er aussah. Sie ließ das meiste davon stehen. Elizabeth war nervös, ohne zu wissen, weshalb. Ihre Mutter war nicht der Typ gewesen, der etwas ungeklärt ließ oder sich mit unerledigten Dingen abfand. Das Haus gehörte ihr, und ihr allein. Sie hoffte sehr, dass Jerry und Gillian oder gar Paul und Noelle nicht versucht hatten, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen.
Ernest O’Sullivans Büroräume waren weniger beeindruckend, wenn man das Gebäude einmal betreten hatte. Sie befanden sich im zweiten Stock, und was einmal ein schöner Raum gewesen sein musste, war mit billigen Trennwänden unterteilt worden. Der ornamentale Fries im Treppenhaus war von einer niedrigen Decke aus Gipsplatten verdeckt, an der ein Metallgitter die darunter befindlichen Menschen vor den Neonröhren beschützte. Ein gelangweiltes junges Mädchen, das so aussah, als wollte es nach der Arbeit direkt weiter in den Nachtclub fahren, führte Elizabeth zu der Arbeitskabine, in der Mr. O’Sullivan selbst saß. Sie hatte sich vorgenommen, Tee oder Kaffee abzulehnen, doch dann stellte sie fest, dass man ihr gar nichts anbot.
«Hallo, Miss Keane, schön, Sie kennenzulernen.» Eine weiche, manikürte Hand wurde ihr gereicht, aber Ernest O’Sullivan stand nicht auf. Elizabeth war etwas irritiert von seinen schlechten Manieren, doch als sie sich vorbeugte, um seine Hand zu schütteln, bemerkte sie einen schwarzen Plastikgriff hinter seinem Rücken. Er saß im Rollstuhl. Ernest erkundigte sich nach ihrer Reise und betonte, welche Freude es stets gewesen sei, mit ihrer Mutter Geschäfte zu tätigen, aber Elizabeth musste die ganze Zeit nur darüber nachdenken, wie dieser Mann wohl hinter seinen Schreibtisch gekommen war. Es schien nicht genügend Platz zu sein, um mit einem Rollstuhl um ihn herumzumanövrieren, und außerdem befanden sie sich im zweiten Stock. Gab es einen Aufzug? Vermutlich nicht. Konnte es sein, dass er den Rollstuhl nur zum Sitzen benutzte? Jedenfalls war dies weder das Büro noch der Anwalt, die sie erwartet hatte.
«Also, ich habe Ihnen geschrieben, weil wir, und dafür muss ich mich wirklich entschuldigen, einen Zusatz zum Testament Ihrer Mutter gefunden haben. Wir hätten ihn zusammen mit allem anderen bearbeiten müssen, aber er war aus der Akte gerutscht. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis. So etwas passiert bei alten Unterlagen.» Seine Augen blinzelten hinter den dicken Brillengläsern. Das Neonlicht zeichnete glänzende Flecken auf seine blanke Glatze.
«Natürlich. Ist da etwas, worum ich mir Gedanken machen muss? Gibt es einen Streitfall?»
«Oh, nein. Im Gegenteil, Ihnen ist zusätzliches Glück hold. Sie erben ein zweites Haus.»
«Ein zweites Haus?», wiederholte Elizabeth. Sie begriff nicht, wie das möglich war.
«Ja. Es ist alles recht klar. Ihre Mutter hat es für Sie treuhänderisch verwaltet, aber nun gehört es Ihnen, und Sie können damit verfahren, wie Sie wollen.»
«Ein Haus? Aber wo?»
«Hmmm, lassen Sie mich nachsehen.» Er durchsuchte einen dicken Papierstapel auf seinem Schreibtisch und zog einen großen braunen Umschlag heraus. «Hier ist es. Muirinish in West Cork. Castle House, Muirinish, County Cork. Ich habe keine Ahnung, in welchem Zustand sich das Gebäude befindet, aber herzlichen Glückwunsch. Es ist bestimmt einiges wert!»
Der Hof der Foleys! Warum hatte ihre Mutter nichts davon gesagt? Sie hatte doch gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Was, wenn Elizabeth die Briefe nicht gefunden hätte?
«Ist Land dabei?»
«Nein. Wenn ich sie mir so ansehe, kommt mir die Besitzurkunde recht neu vor.» Er überflog das Papier erneut. «Ja. Erst sechs Jahre alt. Ich vermute, dass das Haus von einem Bauernhof abgeteilt wurde und jemand anders das Land gekauft hat. Die Flurkarte hier zeigt nur ein Haus mit einem Hof dahinter und einem Gartenstreifen davor.» Ernest schien sich für sie zu freuen. Er hielt ihr wieder seine weiche rosa Hand hin, und Elizabeth schüttelte sie. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Ihr Vater, der nie existiert hatte, von dem nie gesprochen worden war, bekam so lange nach seinem Tod plötzlich eine große Präsenz in ihrem Leben. Sie hatte seine tiefempfundenen Gedanken gelesen, und nun gehörte ihr sein Haus. Sie hatte das Gefühl, gleich in Tränen ausbrechen zu müssen, und so trat sie mit dem Umschlag in der Hand schnell die Flucht an.
Auf der Straße zögerte sie. Was sollte sie jetzt tun? Wohin sollte sie gehen? Sie trat unter einen Baum, um einer großen Gruppe japanischer Touristen auszuweichen, die ihrem Reiseführer zurück zu dem Bus folgte, aus dem sie wie laichende Lachse in Burberry-Mänteln gequollen waren. Elizabeth griff nach ihrem Telefon. Sie musste diese Neuigkeit mit jemandem teilen. Zach? Ja, sie würde Zach anrufen. Doch als sie das Telefon aufklappte, sah sie, dass sie eine Textnachricht erhalten hatte. Sie stammte von Elliot.
«Hi, Liz. Wolltest du mich anrufen? Zach ist nicht hier. Wir hatten nicht verabredet, dass wir uns in diesen Ferien treffen.»
Ihre Knie gaben nach, und sie stützte sich an der rauen grauen Rinde des Baums ab. Einen Vater gefunden, einen Sohn verloren.