Bruno Latour: Ich möchte Sie fragen, wie wir uns in den planetarischen Konflikten zurechtfinden sollen. Sie sagen, es gebe viele verschiedene Vorstellungen vom Planeten, verschiedene Weisen, die planetarische Dimension der Politik zu empfinden oder sich ihrer bewusst zu werden. Deshalb möchte ich Sie zunächst nach den mit der derzeitigen konservativen Revolution verbundenen Sichtweisen fragen, und immer wenn dieser Ausdruck Erwähnung findet, spaziert ein paar Minuten später Heidegger durch die Tür herein. Wie würden Sie also diesen Typus »Erde« definieren, den man als Alte Erde oder Reaktionäre Erde bezeichnen könnte, denn dann wird es uns leichter fallen, die anderen Positionen einzubeziehen, die gegenüber dem eingenommen werden, was Sie »das Aufkommen des Planetarischen« nennen.
Dipesh Chakrabarty: Wenn ich der Einfachheit halber aus heuristischen Gründen mit der Geschichte der Arbeit und des Kapitalismus anfange und die »Erde« und den Planeten damit in Verbindung bringe, fällt auf, dass Arbeit in den meisten europäischen Sprachen etymologisch mit Mühe im Sinne von mühsamem Broterwerb zusammenhängt. Man hat es dabei wirklich mit der physischen, anstrengenden Arbeit eines physischen Körpers zu tun. Dabei kann es sich um ein Pferd handeln oder auch um ein Kind. Das deutsche Wort arbeiten* ist etymologisch mit dem indoeuropäischen Wort für das (hart arbeitende) »Waisenkind« verwandt. 346Die entscheidende Gleichsetzung in Karl Marx' Kapitalismusanalyse erfolgt zwischen Maschine und Mensch, ja sogar Tieren. Im ersten Band des Kapitals beschreibt er, wie einige Großmaschinen sich erst die Bewegungen von Pferdebeinen zu eigen machen und dann die von menschlichen Armen und anderen Körperteilen.1 Aus diesem Grund heißt es bei Marx mit einem Goethe-Zitat, dass die Maschine dem Arbeiter seinen Körper raube. Das englische Wort für Arbeit, work, hängt dagegen etymologisch mit dem griechischen Wort für Energie zusammen. Darauf beruht Newtons Definition von »Arbeit« im 17. Jahrhundert: Energieverbrauch. Meiner Meinung nach beginnt die Geschichte des Kapitalismus mit mühsamer Arbeit. Doch im Zuge der technischen Entwicklung findet man heraus, dass keine körperliche Arbeit nötig ist, um Arbeiten zu erledigen. Ein Wasserfall kann die Arbeit tun oder der Wind. Eine Maschine kann die Arbeit tun oder Künstliche Intelligenz. Im Kapitalismus erfährt der Bereich der Arbeit eine Erweiterung. In den letzten Jahrzehnten hat die Verwendung von KI deutlich gemacht, dass die Zukunft der als mühsamer Broterwerb verstandenen Arbeit ungewiss ist. Dies führt zu Debatten über ein allgemeines Grundeinkommen. Was soll mit den Menschen geschehen, die keine bezahlte Anstellung mehr haben? Nur noch wenige Menschen werden für ihre mühsame Arbeit bezahlt werden. Durch die Ausweitung des Bereichs der Arbeit erhöht sich die Reichweite des Kapitals und unsere Inanspruchnahme der Biosphäre wird größer. Dies wirkt sich direkt auf die Biosphäre aus und aufgrund der Ressourcenmobilisierung auch auf das Erdinnere.
BL: Auf die Extraktion von Dingen.
DC: Das stimmt. Der extraktive oder Rohstoff-Kapitalismus ist in immer höherem Maße auf die Biosphäre angewiesen. Je weiter der Kapitalismus in Gestalt von Arbeit ins Erdinnere vordringt, desto häufiger begegnet er dem, was ich als Planeten bezeichne.
347BL: Ist Biosphäre dafür ein guter Begriff?
DC: Die Biosphäre ist Teil der kritischen Zone. Der Kapitalismus nimmt also die kritische Zone und das Erdinnere stärker in Anspruch.
BL: Erlaubt die Arbeit uns also die Entdeckung des Planeten? Oder tut das ihre märchenhafte Ausweitung durch den Kapitalismus?
DC: Tatsächlich geht es um den Bedeutungsrückgang des mühsamen Broterwerbs (labor) und die zunehmende Bedeutung von Arbeit (work). Dadurch wird Marx an einigen Stellen obsolet, weil alle seine Vorstellungen von Wert, abstrakter Arbeit (labor), lebendiger Arbeit auf der Anwesenheit von Menschen beruhen, während menschliche Präsenz für Arbeit (work) nicht im selben Maße erforderlich ist. Ich kann einen Berg die Arbeit für mich tun lassen. Das Hebelprinzip macht im Grunde nichts anderes. An dieser Stelle führt die Ausweitung des Kapitalismus zu einer Krise. Diese Krise entspricht oftmals dem, was wir in der Soziologie das Problem der Zukunft der Arbeit nennen. Wenn die Rede davon ist, wie die Zukunft der Arbeit aussieht, ist damit eigentlich die Zukunft des mühsamen Broterwerbs, von bezahlter Arbeit gemeint. Doch der Kapitalismus erfährt eine Ausweitung, verursacht diese Krise und dadurch wird die geomorphologische Rolle der Menschen tatsächlich größer. Das heißt die Weise, in der wir die Oberfläche des Planeten transformieren. Weshalb es heißt, dass die Menschen im Anthropozän die größten Erdbeweger sind.
BL: Moment! Das geht zu schnell. Wir sind noch gar nicht beim Anthropozän, bisher haben wir nur einen Typen, der sich auf einem Feld abmüht.
DC: Und nicht mehr gebraucht wird.
BL: Es ist noch kein »Planet« in Sicht.
DC: Es beginnt also mit Heideggers »Erde« und mit der Entdeckung der Bodenchemie im 18. Jahrhundert sowie dem Begriff 348der Nachhaltigkeit. An dieser Stelle setzt jedenfalls eine Ebene des Kapitalismus an. Angestoßen wird so die Geschichte der von uns so genannten Technik.
BL: Im Wesentlichen Produktion.
DC: Doch mit Carl Schmitt gesprochen, geht es um das, was er in dem Text, auf den Sie mich hingewiesen haben, als Geschichte der »entfesselten Technik« bezeichnet hat.2 Erstaunlich, nicht wahr? Er betrachtet Schiffe als entfesselte Technik, weil das Leben auf einem Schiff vollständig von der Technik des Schiffes abhängt. Diese Technik, sagt er, sei entfesselt, weil sie gesellschaftlich nicht so eingebettet ist, wie Technik an Land es sein kann. Doch die Technik wird sogar noch weiter entfesselt, und je entfesselter sie ist, desto stärker lässt der Bereich der Arbeit sich erweitern.
BL: Bis man feststellt, dass die Biosphäre Grenzen hat.
DC: Ja, aber gleichzeitig wird so eine Begegnung mit dem Erdinneren möglich, das ein Bestandteil dessen ist, was ich als Planeten bezeichne. Auf dieser Ebene kann Arbeit zu mehr Erdbeben führen. Bedenken Sie Folgendes: Der Verbrauch von fossilen Brennstoffen hat den Ausstoß von CO₂ zur Folge. Für die Gewinnung von fossilen Brennstoffen muss man tief graben und man benötigt eine ausgefeilte Technik und Ausrüstung, um die Arbeit zu erledigen. Die Aufheizung der Planetenoberfläche trägt zu geophysikalischen Ereignissen wie Erdbeben und Tsunamis bei. Der Geologe Bill McGuire hat darüber ein Buch mit dem Titel Waking the Giant geschrieben, dessen Untertitel How a Changing Climate Triggers Earthquakes, Tsunamis, and Volcanos lautet.3
BL: Ist dies der Schritt zum Globalen?
DC: Dies ist der Punkt, an dem im Globalen das Planetarische ins Spiel kommt.
BL: Okay. Weil Sie sagten, im Globalen offenbare sich das Planetarische.
349DC: Das Globale gibt das Planetarische zu erkennen.
BL: Können Sie das in irgendeiner Form datieren?
DC: Ich würde sagen, die »Erde«, wie Heidegger sie versteht, ist älter.
BL: In Bezug auf ihre ursprüngliche Reichweite.
DC: Ja. Das Globale ab dem 15. Jahrhundert. Meines Erachtens beginnt das Planetarische mit der Stickstofffixierung nach dem Haber-Bosch-Verfahren Anfang des 20. Jahrhunderts, weil auf diese Weise tatsächlich in planetarische Prozesse eingegriffen wird. Natürlich geht die Erde aus dem Planetarischen hervor. Das Globale geht aus einem historischen Prozess hervor, zu dem die europäische Expansion und die Entwicklung einer Technik gehören, die aus der Kugel, auf der wir leben, einen Globus für uns zu machen vermag.
BL: Klar. Ohne das Globale hätten wir das Planetarische nicht entdeckt. Und dann erstreckt sich das Planetarische retrospektiv über Milliarden von Jahren.
DC: Genau. Das eröffnet die historische Perspektive.
BL: Der Planet geht dem Globalen also voraus.
DC: Richtig.
BL: Außer, dass er natürlich sehr spät kommt.
DC: Ja. Wir werden uns seiner Gegenwart erst spät bewusst.
BL: O. K.
DC: Gemeint ist damit Folgendes: Ich besitze zwei Fotos – ich habe sie jetzt nicht bei mir, aber sie sind sehr aufschlussreich –, ich habe zwei Fotos eines Kindes aus der Nachbarschaft nebeneinandergestellt: Auf dem einen geht der vierjährige Junge an einem Schaufelbagger (earthmoving machine) vorbei, ohne von ihm Notiz zu nehmen, und kurze Zeit später sitzt er auf dem anderen Foto in einer Sandkiste und schaufelt mit einem Miniaturschaufelbagger Sand hin und her. In meinen Augen zeigen diese Bilder, dass das Anthropozän bzw. die Handlungsmacht der Menschheit, Erde zu bewegen (earthmoving agency), in einem 350Maße naturalisiert worden ist, dass ein kleiner Junge, der einen solchen Spielzeugbagger benutzt, mit dem Gedanken aufwächst, dass Menschen so etwas tun. In diesem Sinne kann die planetarische Rolle der Menschen tatsächlich im Leben einer Einzelperson, in ihrer Biografie zum Vorschein kommen. Das betreffende Kind ist das Kind eines Kollegen. Als ich sie einmal zu Hause besuchte, sah ich diese Art von Spielzeug und rief im Beisein meines Kollegen aus: »Das ist ja Anthropozän-Spielzeug!« So fing der Kollege, der Vater dieses Kindes an, sich für das Problem zu interessieren und schickte mir diese Fotos.
BL: Moment einmal: Als das Kind spielte, war das doch etwas Gutes. Heute könnten wir dagegen in eine Situation mit demselben Spielzeugbagger geraten, in der umweltbewusste Eltern dem Kind eine Ohrfeige verpassen und sagen könnten: »Spiel nicht mit so schrecklichen Dingen!«
DC: Weil sie nicht als Anthropozän-Spielzeug, sondern Entwicklungsspielzeug bezeichnet wurden.
BL: Wann hat diese Bedeutungsverlagerung von der Entwicklung zum Anthropozän stattgefunden? Ab wann war die große Beschleunigung nichts Gutes mehr, sondern grauenvoll?
DC: Ich würde sagen, es – das Bewusstsein (ohne gleich wie Hegel reden zu wollen) – begann mit Sicherheit, weshalb von beginnendem Bewusstsein zu sprechen nicht die richtige Ausdrucksweise ist, zwischen Rachel Carson und Die Grenzen des Wachstums, also zwischen 1962 und 1972.4 In jenem Jahrzehnt kommt es zu einer gewissen Verschiebung oder Verlagerung. Bis nach Asien reicht die Verschiebung nicht. China ruft das Programm der »Vier Modernisierungen« sogar erst 1978 ins Leben. Indien liberalisiert sich 1991 und meint, sich zu modernisieren. Die Verschiebung findet größtenteils im Westen statt, aber ich würde sagen, damals kamen wirklich Zweifel auf. Wie in dem Kampf, den Rachel Carson gegen die Behörden führen musste, weil sie angeblich keine richtige Wissenschaftlerin war.
351BL: Das Planetarische macht sich also in Gestalt des Gefühls bemerkbar, dass zwischen dem Globalen – im Wesentlichen Modernisierung – und dem Planeten ein Konflikt besteht. Historisch ist es höchst differenziert, da es sich in jeder Nation anders verhält.
DC: Differenzierter als die Globalisierung, weil die Entwicklungsgeschichte parallel zum Imperialismus verläuft. Die Imperien behaupten, dass sie dich entwickeln. Rostows Wachstumsstadien in den 1950er Jahren, insbesondere 1958. Ich wuchs in Indien in der Meinung auf, dass wir die Entwicklung/Modernisierung organisieren. Modernisierung war unser Ziel. Wenn man in die 1950er Jahre zurückgeht, bestand eine populäre Verteidigungsstrategie von Technik wie zum Beispiel den großen Staudämmen darin, dass sie die Menschen mit Nahrung versorgte.
BL: War das die Grüne Revolution?
DC: Die war später, 1968 oder 1969, aber schon in den 1950er Jahren gab es zum Beispiel die Dämme. Die Rechtfertigung der Dämme war Nahrungsbeschaffung für die Menschen. Seit den 1930er Jahren kommen Fachleute für Bevölkerungsfragen zusammen und fragen sich, ob die Nahrung ausreicht. Ist die Erde belastbar genug? Besonders interessant finde ich, dass das Moder-nisierungsnarrativ mit einer bestimmten Art von säkularer Ethik verbunden ist – mit einer säkularen, nichtreligiösen Weise, für die Armen zu sorgen. Die Rhetorik, dass dies ja schließlich die Menschen ernähren werde, ist in rechts- und in linksgerichteten Schriften anzutreffen.
BL: Hier sehen wir also zumindest Ansätze zu einer Art von Planet, noch nicht für »das Planetarische« – das ist dem Anthropozän vorbehalten, oder?
DC: Ja.
BL: Man fühlt den Planeten bereits, doch fungiert dieser Planet als Hintergrund und Ressource.
DC: Richtig.
352BL: Und die Frage lautet: »Wie groß ist diese Ressource?«
DC: Und so kommt die Frage nach den Grenzen auf, also die Frage der Endlichkeit.
BL: Die Entwicklung ist noch nicht zu Ende. Es ist immer noch das Globale. Das Globale verfügt also über einen Planeten.
DC: Das Globale wird von seinem eigenen Planeten beschattet.
BL: Und dann wird plötzlich in den 1970er/1980er Jahren im Westen der Planet als Ressource und gleichzeitig das Planetarische als etwas Negatives oder Rätselhaftes empfunden.
DC: Es hat sich James Lovelock und seinen Kollegen in den 1960er Jahren offenbart, aber wir waren uns dessen nicht bewusst.
BL: Doch die Verbindung zu Gaia ist Ihrer Ansicht nach nicht so stark wie zur Erdsystemwissenschaft [ESS].
DC: Zu der Gaia mutiert.
BL: Und dann geraten beide in Konflikt miteinander. Ich möchte aber auf einen der anderen Wesenszüge der verschiedenen Definitionen des Planetarischen zurückkommen, und zwar auf die Frage der Handlungsmacht, weil Ihr Interesse an Klimafragen ja schließlich von ihr seinen Ausgang genommen hat. Der das Globale vorantreibende historische Handlungsträger war eindeutig die Industrie.
DC: Und für Marx die Arbeit.
BL: Und dadurch entstand natürlich die Möglichkeit des Sozialismus. Es tut mir leid – diese Frage haben Sie schon viele Male beantwortet: Was ist jetzt beim Planetarischen der neue historische Handlungsträger? Wer ist der Handlungsträger? Haben wir es mit einem Handlungsträger zu tun, den wir schon aus der Geschichte des Sozialismus kennen? Handelt es sich um einen vollkommen neuen Menschentyp?
DC: Ich verstehe die Situation folgendermaßen: Seit den 1970er Jahren ist etwas mit der Figur des »Handlungsträgers« pas353siert – mit dem autonomen Handlungsträger, den jedes menschliche Wesen darstellt und der sich im sich demokratisierenden, postimperialen Westen der 1960er Jahre so großer Beliebtheit erfreut hatte. Die komplexen westlichen Gesellschaften verfuhren mit der Frage der Handlungsmacht zunehmend so, dass sie sie auf verschiedene Lebenssphären verteilten. Wenn man in etwas verwickelt war, das sich rechtlich dadurch klären ließ, dass man dafür verantwortlich gemacht wurde oder Schuld daran war, legten die meisten Gesetze weiterhin einen Locke'schen Personenbegriff zugrunde. Man galt als eine über Autonomie verfügende Person, man konnte zur Rechenschaft gezogen werden. Bei einer Geisteskrankheit würde einem vergeben. Als dagegen die Ärzte in den späten 1970er/1980er Jahren [Mitte der 1980er Jahre] entdeckten, dass Magengeschwüre nicht durch Stress, sondern durch Bakterien hervorgerufen werden, würde der behandelnde Arzt einen nicht als Locke'sche Person behandeln, sondern eher sagen …
BL: Sie haben sich infiziert …
DC: Sie haben ein Mikrobiom, in Ihnen leben andere Lebewesen. In gewisser Weise handelt es sich dabei um die Welt, die Sie [BL] und andere beschrieben haben, also eine vernetzte Welt und das, was Sie als verteilte Formen von Handlungsmacht bezeichnen. Die Welt, von der bei Ihnen und anderen die Rede gewesen ist, wurde im Grunde genommen immer sichtbarer, aber die politischen und rechtlichen Institutionen machten so weiter wie vorher.
BL: Mit Locke'schen Subjekten.
DC: Als ob jenes Wissen keinerlei politische Relevanz hätte. Vor diesem Problem stehen wir meiner Meinung nach heute in einem noch viel höheren Maße.
BL: Es gibt also nirgendwo mehr Locke'sche Subjekte?
DC: Aber wir müssen so tun, als seien wir weiterhin Locke'sche Subjekte. Als solche gehen wir zur Wahl. Als solche reden Nationen miteinander. Bei den Vereinten Nationen ist jede Na354tion eine juristische, politische Person. Wenn wir sagen, die großen Nationen seien verantwortlich, oder wenn wir sagen, der Kapitalismus sei verantwortlich für den Treibhausgasausstoß, reden wir über den Kapitalismus, als sei er eine moralische/juristische Person.
BL: Es besteht also keine Verbindung zwischen den anerkannten Handlungsträgern der Vergangenheit und den neuen Handlungsträgern des Planetarischen?
DC: Die Verbindung ist tatsächlich abgerissen und wir sind noch nicht in der Lage, den Graben politisch zu überbrücken.
BL: Historische Handlungsträger sind also nicht die Menschen, sondern »Erdgebundene«?
DC: Sie sind erdgebunden, es sind nicht bloß Menschen, und das politische Denken hat bisher nicht versucht, Anknüpfungspunkte zwischen den Menschen und diesen weiter gefassten Komplexen zu finden, zu denen auch die Menschen gehören. Wir wissen noch nicht, wie wir diesen Handlungsträger politisch anerkennen sollen, der nicht bloß menschlich ist, aber notwendig die Menschheit einschließt.
BL: Würde Ihnen das Adjektiv terrestrisch zusagen?
DC: Ja.
BL: Kein Locke'sches, sondern ein terrestrisches Subjekt – mit einem Adjektiv, das nicht spezifiziert, ob es sich um Menschen handelt oder nicht.
DC: Genau. Sie aber als Subjekte betrachten.
BL: Sie sind nicht da.
DC: Sie sind nicht da und das Wort Subjekt muss eine neue Bedeutung annehmen.
BL: Vielleicht können wir jetzt die verschiedenen Bestandteile der die Handlungsmacht betreffenden Argumentation durchgehen. Was wäre der menschliche Handlungsträger der Erde – jener ursprünglichen Erde, die Husserl, Heidegger und in gewisser Weise Schmitt und viele andere Deutsche umgetrieben hat – gewe355sen? Was wäre die politische Konstruktion – der historische Handlungsträger – gewesen?
DC: Man erinnere sich bloß an einige Sätze von Heidegger – ich habe vergessen, in welchem Aufsatz –, in denen er zwei Arten, sich auf die Erde zu beziehen, vergleicht bzw. eine Unterscheidung zwischen ihnen entwickelt: dass man die Erde herausfordert*, wie es im Deutschen heißt, ihr etwas abverlangt, und dass man der Erde etwas überlässt. Wenn ein Bauer einen Samen aussät, meint Heidegger, überlässt er ihn der Erde, aber wenn ich künstlichen Dünger verwende, bearbeite ich den Boden heftig, als fordere ich die Erde heraus, als ob man jemandem eine Pistole an den Kopf hält, um ihn auszurauben. Heidegger gibt eindeutig der Einstellung, dass man sich der Erde überlässt, den Vorzug.
BL: Was gar nicht so weit von dem Handlungsträger entfernt ist, der nach vielen hegelianischen Drehungen und Wendungen im planetarischen Zeitalter lebt.
DC: Ja, der Handlungsträger, der feststellt, dass er/sie dem Planetarischen ohnehin ausgeliefert ist und sich ihm überlassen muss.
BL: Das ist also Ihrer Meinung nach der Punkt, wenn man Ihnen vorwirft, den revolutionären, emanzipatorischen historischen Handlungsträger preisgegeben zu haben, und Sie so viel über das neue planetarische Zeitalter sprechen, soll das heißen, dass Sie sozusagen …?
DC: Ich zerbreche mir über folgendes Problem den Kopf und muss einen Weg finden, es zu durchdenken: Wenn Sie sagen, »Wir sind nie modern gewesen«, haben Sie in Bezug auf ihre eigene Definition der Konstitution der Moderne recht. In dieser Hinsicht liegen sie richtig. Doch am Ende des Buches sagen Sie, dass Sie von der Konstitution der Moderne zwei Dinge beibehalten möchten. Zum einen die Vermehrung der hybriden Wesen, die von den Menschen hervorgebracht worden sind, und dann die Fähigkeit, hybride Wesen zu vermehren. Mit anderen Worten sa356gen sie sogar am Ende des Buches, in dem Sie, wie ich meine, zu Recht behaupten, dass wir nach ihrem Verständnis nie modern gewesen sind, nicht, dass wir über keine Kernspintomografen verfügen oder keine Chemotherapien machen sollten, das sagen Sie nicht. Zumindest deute ich Ihren Wunsch, diesen Bestandteil der Konstitution beizubehalten, so.
BL: Ihre Definition des Planetarischen weist aber eine gewisse Erdnähe auf.
DC: Ja, lassen Sie mich diesen Punkt zu Ende bringen, dann komme ich darauf zu sprechen. Die Paradoxie des menschlich-politischen Denkens besteht in Folgendem – ich werde versuchen, sie in einen Satz zu fassen: Das aus dem 17. Jahrhundert stammende politische Denken beruht auf der Annahme, dass die Rolle des Staates darin besteht, für die Sicherheit des Lebens und Eigentums zu sorgen, doch bei dem Versuch, das Leben einer immer größeren Zahl von Menschen für sehr viel längere Zeit sicherer zu machen als vorher, haben wir das Leben faktisch unsicherer gemacht. Das Streben nach Sicherheit hat mittlerweile für Menschen eine höchst unsichere Zone hervorgebracht. Gleichzeitig ist die Verpflichtung gegenüber dem individuellen Leben in die Ziele aller unserer Institutionen eingebaut. Wenn meine Frau Krebs hat oder ich Krebs habe, lassen wir uns im Krankenhaus behandeln. Wir sind alle der Verlängerung des Lebens jedes einzelnen Individuums verpflichtet und weil das moderne politische Denken, wie gesagt, von Anfang an das Individuum als Inhaber des Lebens und der Rechte sowie Wohlfahrtsempfänger in den Mittelpunkt gestellt hat, hat diese Fokussierung auf das Individuum zu Indifferenz gegenüber der Gesamtzahl der Menschen geführt. Unabhängig davon, wie viele Menschen es gibt, werden wir sagen, dass sie alle über dieselben Rechte verfügen müssen. Im Grunde genommen ist also in das politische Denken eine Indifferenz gegenüber der Biosphäre eingebaut.
BL: Bis zum Globalen bestand darin die logische Denkweise.
357DC: Bis der Globus auf den Planeten stieß.
BL: Wenn nämlich die meisten Menschen die Idee der Modernisierung für alle unterstützten, wird sie von allen aufgegeben.
DC: Darin besteht die konservative Revolution. Das Dilemma lautet also wie folgt: Nach meinem Eindruck ist es sehr schwer, eine neue Vorstellung von Politik zu entwickeln, die nicht von derselben Prämisse eines sicheren Lebens ihren Ausgang nimmt. Weil wir ihr meines Erachtens alle verpflichtet sind.
BL: Wir wollen geschützt, verteidigt und abgesichert werden.
DC: Genau. Und sogar in Heideggers Auffassung, was heimelig* bzw. »Heimat« im Sinne von Zuhause heißt, werden wir immer feststellen, dass Zuhause-Sein auch mit einem Gefühl der Sicherheit zusammenhängt. Doch gleichzeitig haben wir das Problem, dass das gegenwärtige Arrangement der Dinge, von dem wir meinten, es würde uns absichern, die Dinge tatsächlich für uns unsicher macht. Wie sich also das politische Denken mit der Art von Texten zusammenbringen lässt, die Sie, Jane Bennett und andere, die sogenannten neuen Materialisten, verfasst haben, ist eine offene Frage. Meines Erachtens wissen wir es noch nicht – und an dieser Stelle fand ich die Lektüre ihrer Einleitung zum Katalog der Ausstellung »Critical Zones« am ZKM Karlsruhe interessant, weil sie es auch offenlassen. Sie sagen, Sie könnten die kritische Zone der anderen nicht definieren, jeder müsse sie selbst herausfinden.
BL: Man muss sich eine Vorstellung davon machen, was es bedeuten könnte, kein Locke'scher Mensch mehr zu sein, sondern ein erdgebundener oder terrestrischer Mensch, der immer noch am Schutz durch eine Art von Entität interessiert ist, die wir lieber nicht als Staat bezeichnen möchten. Wir wissen es noch nicht.
DC: Wir wissen nicht, wie der Mensch in spe tatsächlich aussehen wird, und wir müssen außerdem davon ausgehen, dass es bei jeder Übereinkunft im weitesten Sinne, die Menschen treffen, so viele verschiedene Deutungen dieser Übereinkunft geben wird, 358dass sie hinfällig wird, sobald wir sie getroffen haben, was Schmitts Punkt hinsichtlich des Pluriversums war. Ich bin nicht in der Lage, eine Beschreibung abzugeben, wie die Menschen in Zukunft leben werden, aber ich habe das Gefühl, dass unser derzeitiges sozioökonomisch-technologisches Arrangement nicht unbegrenzt so weitergehen kann. Der Spätkapitalismus ist antipolitisch geworden, weil er nicht allen Schutz gewähren kann, und deshalb müssen die planetarischen Prozesse der ESS in irgendeiner Form anerkannt werden. Wir kommen jetzt auf Gaia, auf die kritische Zone und die Frage der Anerkennung dieser Variablen zurück.
BL: Eine Weise, wie die Frage sich neu stellen lässt, besteht darin, dass man sich fragt, welche jener planetarischen Sichtweisen die Möglichkeit von Politik mit sich bringt. Mit dieser Fragestellung haben Sie natürlich häufig gearbeitet, dass nämlich das Globale auf wirkmächtige Weise politische Handlungsmacht zugeschrieben und die politische Richtung in Gestalt der – entweder kapitalistischen oder kommunistischen – Entwicklung vorgegeben hat – aber wegweisend war es trotzdem. Wir wussten, was politisch zu tun war und was es hieß, sich zu empören, politische Plattformen aufzubauen und für sie zu kämpfen. Die Erde, die ursprüngliche Erde, über die wir am Anfang gesprochen haben, wurde sehr schnell reaktionär, weil sie keinen Widerstand gegen den Kapitalismus begründete, sondern so etwas wie einen Traum, ihm zu entkommen. Und jetzt offenbart sich plötzlich das Planetarische im Globalen; es gibt Dinge, die eindeutig nicht politisch sind. Die ESS – die einen Planeten untersucht, der bloß ein Planet von vielen ist, die wir mit dem übrigen Kosmos vergleichen, das heißt, politisch lässt sich nicht viel damit anfangen.
DC: Ich meine aber, das Politische folgt aus dem Planetarischen, weil es bereits ein konservatives, rechtsgerichtetes Verständnis von planetarischer Politik gibt.
BL: Ja natürlich, Entschuldigung, das hatte ich vergessen. Es ist nicht reaktionär im Sinne der Erde, der ursprünglichen Erde, 359sondern im hypermodernen Sinne, global in eine Richtung die ganze Strecke bis zum Planetarischen weiterzumachen.
DC: In gewisser Weise ist die Frage, die Sie stellen – um welche Form von Politik es sich handeln würde –, keine Frage, die sich im luftleeren Raum stellt, tatsächlich stellt sie sich in einer Welt, in der es mächtige Menschen mit Geld und mächtige Institutionen gibt. Zum Beispiel hat der Harvard-Physiker David Keith ein für Geoengineering eintretendes Buch geschrieben und von der Gates Foundation beträchtliche Mittel für die Entwicklung der Technik erhalten, mit deren Hilfe wir in der Stratosphäre Sulfat-Aerosole versprühen können. Doch eine Geologin hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Himmel, wenn man Sulfat-Aerosole versprüht, und das muss man 100 Jahre lang tun, um Raum zum Atmen zu bekommen, diese 100 Jahre lang aufgrund von Streulicht dauerhaft weiß sein würde!
BL: Nach ihrer Definition ist das also bloß das Globale.
DC: Es ist die Ausweitung von Gaia.
BL: Die sich das Planetarische gleich miteinverleibt. Und nur Menschen politische Handlungsmacht zuspricht, die Situation also politisch nicht gerade erneuert.
DC: Nein, das tut sie nicht. Doch dagegen muss man ankämpfen. Ich würde jedoch behaupten, dass in vielen Hinsichten, weil das Geld/Kapital bereits eine planetarische Politik in Form einer Ausweitung dieser Logik hervorgebracht hat …
BL: Politik in Form von Machtverteilung. Aber nicht in Form von Handlungsträgern, die dazu in der Lage sind, etwas aus ihrer eigenen Existenz zu machen …
DC: Nein. Überhaupt nicht. Überhaupt nicht. Aber meines Erachtens besteht der negative Teil der derzeitigen progressiven Politik darin, dass sie gegen all dies ankämpft. Zudem sind zwei weitere Dinge interessant, über die wir noch nicht gesprochen haben. Man denke an die Zeit, als die Nachricht vom Klimawandel nicht die Wissenschaftler:innen, sondern die Politiker:innen er360reichte, zum Beispiel als der Klimaforscher der NASA, James Hansen, 1988 vor einem Ausschuss des US-Senats zur von Menschen herbeigeführten globalen Erwärmung Rede und Antwort stand und die UN kurz darauf noch im selben Jahr den IPCC ins Leben rief. Warum wurde der IPCC eingesetzt? Er wurde eingesetzt, weil das Montreal-Protokoll erfolgreich gewesen war. Wir nahmen nämlich an – und dies ist nicht der politische Teil der Geschichte –, nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen wir an, dass die Vereinten Nationen die richtige Form seien …
BL: Richtig, alles wie gehabt.
DC: …, um sich um die gesamte globale Politik zu kümmern, und die Vereinten Nationen nahmen überdies an, dass der Zeitplan für die Bearbeitung globaler politischer Probleme unbefristet sei.
BL: Wenn Sie global sagen, meinen Sie also, dass die globale Politik das zu jener Zeit aufkommende Planetarische absorbiert hat?
DC: Ja, aber ich bin der Ansicht, die UN gehen davon aus, dass es wie zum Beispiel bei der Israel-Palästina-Frage in der Politik keinen befristeten oder begrenzten Zeitplan gibt. Doch als die Klimakrise ausbrach, prallten zwei verschiedene Zeitpläne aufeinander, weil die Wissenschaftler:innen einen begrenzten Zeitplan aufstellten, der im Wesentlichen besagte, wenn man binnen dieser Frist nicht x machen würde, dies y zur Folge hätte. Sogar die Zahl eines Temperaturanstiegs um 2 °C war bekanntlich eine Zahl, die nach einem begrenzten Zeitplan politisch ausgehandelt wurde. Das Klimaproblem war ein Problem, für das es keinerlei Steuerungsmodell gab. Die Vereinten Nationen waren keine Steuerungsinstitution, die für die Bewältigung von planetarischen Problemen gedacht war. Sie boten uns ein Steuerungsmodell für globale Probleme. Nach dem Loch in der Ozonschicht war das Klimaproblem das zweite planetarische Problem, mit dem wir uns innerhalb der Parameter von UN-Prozessen befasst haben.
361BL: Wann begann das Planetarische denn in Ihren Augen auch innerhalb des UN-Formats als unlösbare Frage in Erscheinung zu treten? Lag es bloß an der Ineffizienz?
DC: Es trat ganz allmählich in Erscheinung, und es zeigt sich unmissverständlich im Pariser Klimaabkommen von 2015, das davon ausgeht, dass wir, selbst wenn alle seine Vorgaben eingehalten werden sollten, nicht in der Lage sein werden, die Gefahren des Klimawandels abzuwenden, wenn wir keine Technik entwickeln, die Treibhausgase aus der Luft abzieht, und eine solche Technik gibt es noch nicht. Langsam wird sichtbar, dass alle Nationen versuchen zu handeln, als würden sie weiterhin demselben globalen Zeitplan folgen. Ich kann hier um [etwas] Zeit feilschen und da um etwas Zeit. Tatsächlich zeigt sich daran, dass wir in einer tiefen Steuerungskrise stecken. Die Klimakrise hat den Planeten ins Blickfeld gerückt, aber wir verfügen über keine planetarische Steuerungsform. Geoengineering und all diese Dinge treten an die Stelle einer solchen Form von Politik. Vor Ort wird bereits dafür plädiert, nicht globale, sondern lokale, heterogene und ganz unterschiedliche Widerstandsformen gegen Maßnahmen aufzubieten, die auf dem Argument vom »guten Anthropozän« beruhen.
BL: So wie Sie das Planetarische charakterisieren, müssen wir den Rhythmus der Geschichte als Faktor mit einbeziehen. Die ursprüngliche Erde ist demnach per definitionem immer dieselbe, dasselbe Dorf, dieselbe Kirchenglocke, sie haben keine Geschichte – den Rhythmus des Globalen kennen wir: Es musste sich vorwärtsbewegen, und es gab die Formulierung von der »Beschleunigung der Geschichte«, die heute merkwürdig klingt.
DC: Damit bringen Sie Fernand Braudel ins Spiel – Braudel ist außerordentlich faszinierend, weil ihm jeglicher Glaube an das Individuum als historischem Handlungsträger fehlt. In seinen Schriften zur Geschichte heißt es tatsächlich, das Individuum sei »nur allzuoft eine Abstraktion«.5 Es gebe alle diese großen 362Dinge, aber die großen Dinge seien alle sehr stabil. Das sind sie aber nicht.
BL: Die Beschleunigung der Geschichte sei also etwas für die Geologie, aber nicht für …
DC: Genau. Das scheint er gedacht zu haben. Für die Menschen habe sie keine Rolle gespielt. Vor kurzem habe ich darüber nachgedacht, ob man nicht Wittgensteins Aphorismen in Über Gewissheit als seine Denkweise über das deuten sollte, was Menschen für selbstverständlich halten. Wie Sie sich erinnern werden, lautet eine Frage, die er stellt, warum man nach dem Alter eines Gebäudes fragt, das man sieht, aber niemals danach fragt, wie alt ein Berg ist.
BL: Das ist seltsam.
DC: Und es liegt daran, dass der Berg ein Teil der gegebenen Welt ist. Wenn man nun aber heute etwas über die Gletscher und die Klimakrise in Südasien liest, wird einem klar, dass der Himalaya ein junger Gebirgszug ist. In Australien liegt die Kohle nah an der Oberfläche, weil die Berge alt und erodiert sind. Unsere »Gewissheiten« werden mittlerweile durch etwas erschüttert, das ich als Einsickern eines geologischen Bewusstseins in unser Geschichtsverständnis bezeichne. Diese Verschiebung der historischen Tektonik findet gerade statt.
BL: Doch darüber haben wir schon viel gearbeitet und die Frage, die ich zusätzlich dazu stellen möchte, lautet, was hier die anderen ablöst.
DC: Das Globale und der Planet?
BL: Wohl eindeutig das Globale, wenn wir uns Ihrem Argument anschließen, dass Geoengineering der Versuch des Globalen ist, das Planetarische zu absorbieren.
DC: Das Gleiche gilt für die Solarenergie. Dasselbe Muster. Sie versucht, das Planetarische ins Globale zu absorbieren.
BL: Und es gibt noch weitere Versionen, die ich eher als auf Gaia-Linie bezeichnen würde, womit ich meine, dass es nicht mög363lich ist – das Planetarische ist immer da gewesen und es ist einzigartig. Es ist mit Einzigartigkeit verbunden, weshalb die ESS überall gleich ist.
DC: Gaia gehört uns. Sie ist einzigartig.
BL: Gaia ist singulär. Wir tauchen immer tiefer in ihre Singularität ein.
DC: Das ist sehr interessant. Sie setzen sie der Astrobiologie und der Suche nach Exoplaneten entgegen. Die Astrobiologie geht davon aus, dass wir nicht singulär sind. Dass es eines Tages eine Serie geben wird. Und jede Gaia wird auf einzigartige Weise eigenwillig sein. Die Planeten werden sich ähneln, doch selbst wenn es Leben auf einem anderen Planeten geben sollte, wäre seine Gaia auf einzigartige Weise eigenwillig.
BL: Timothy Lenton und Sébastien Dutreuil vertreten die These, es sei eine Sache, auf anderen Planeten nach Leben zu suchen, aber nach Gaia zu suchen, sei absurd. So wird die Frage nach der Normativität auf andere Weise gestellt, denn wenn dieses Gefühl sich bei uns einzustellen beginnt und wir uns für seine Geschichtlichkeit interessieren, lernen wir eine neue Geschichtlichkeit kennen, die das Globale nicht gehabt hat. Diese Geschichtlichkeit will uns auch irgendeine Art von Normativität vermitteln. Es ist nicht mehr so wie früher, als wir uns natürlich verhalten sollten, denn als wir uns natürlich verhalten sollten …
DC: Ich stimme dieser Beschreibung zu, deshalb spreche ich in meiner Auseinandersetzung mit Gaia und der ESS auch davon, dass in der ESS eine poetische Intuition herumspukt, der Gaia-Moment. Vielleicht haben Lenton und Sie Gaia deshalb wiedererweckt. Das Entscheidende an ihrer Singularität ist eben gerade ihre Poesie.
BL: Es geht nicht um Natur.
DC: Es geht um reine Poesie, nicht um einen wissenschaftlichen Gegenstand, der sich wiederholt. In diesem Sinne handelt es sich um Singularität. Das Problem ist, wann wir Menschen da364von erfahren, und es steht außer Frage, dass man es als eine Art Wunder empfindet, wenn man davon weiß – ich meine, dass dieser Planet ein Achtel seines Lebens lang für jene plötzliche Explosion von Lebensformen gesorgt hat, das hat etwas von einem Wunder an sich. Deshalb reicht es meiner Meinung nach bis zu Ihren Kampf-um-Gaia-Vorlesungen zurück. Es ist sehr schwer, diesen Moment, in dem man ein Wunder spürt, nicht mit einem religiösen Gefühl zu verwechseln. Ich mache einen Unterschied zwischen Staunen und Ehrfurcht. Ich habe festgestellt, dass ein Geologe davon spricht, die Menschen hätten den Sinn für Ehrfurcht vor dem Planeten verloren. Die lateinische Wurzel des englischen Wortes für Ehrfurcht, reverence, deutet darauf hin, dass damit ein mit Furcht vermischter Respekt gemeint ist, so etwas wie das Gefühl, dass dies viel größer ist als ich. Zu dieser Frage habe ich Rudolf Otto gelesen.
BL: Damit kehren wir zu der sehr alten Vorstellung einer furchteinflößenden Natur zurück.
DC: Ich bin in Kalkutta aufgewachsen – dieser angeblich modernen Stadt, die von den Briten erbaut wurde, aber schon 250 Jahre alt war, als ich geboren wurde. Als ich ein Kind war, hatte ich noch Angst vor wilden Tieren in der Stadt, vor Füchsen und Schlangen. Als ich heranwuchs, verschwanden die Füchse, Schlangen und seltsamen Frösche – sie alle verschwanden und heute fürchtet sich kein Kind mehr vor wilden Tieren. Ich schlug die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno auf, und im ersten Satz steht, dass eines der wesentlichen Ziele der Aufklärung darin bestände, den Menschen die Furcht zu nehmen.6 Ich begann mich sehr für die Frage zu interessieren, wann das politische Denken sich eine solche Überwindung der Furcht zu eigen gemacht hat. Ich las Hobbes' De cive von 1642 und stellte fest, dass Hobbes wilde Tiere mit zum Naturzustand zählte. Für einen Historiker gibt es deshalb nur diese eine Aufgabe. Ich bin einverstanden, dass es in der Moderne um die Überwindung der 365Furcht gegangen ist. Wir können uns auf nostalgische Weise daran erinnern, doch als Historiker sind wir auch in der Lage, die Geschichte aufzuschreiben, wie wir die verschiedenen Arten von Furcht überwunden haben, denn dies geschah nicht überall auf der Welt zur selben Zeit. Ich wuchs an einem Ort auf, an dem Furcht noch einen sehr großen Anteil meines Lebens ausmachte. Zur Ergänzung unseres sehr aristotelischen Gefühls des Staunens über das Wunder der Biodiversität muss etwas von jener Ehrfurcht wiedererweckt werden.