4.
Der Tag hatte definitiv nicht gut angefangen. Kriminalhauptkommissarin Marie Liebig und ihr Kollege Oliver Kral waren auf dem Rückweg von ihrem Einsatz ziemlich schweigsam.
„So etwas geht einem immer wieder an die Nieren, da kann man noch so lange dabei sein.“ Oliver, der den Dienstwagen steuerte, seufzte. Er war blass, sein Gesicht wirkte durch die zum Pferdeschwanz nach hinten gerafften blonden Haare noch schmaler, als es ohnehin war. Die schwarze Kleidung, die er wie immer trug, machte es nicht besser.
Marie nickte, es gab nicht viel zu sagen. Als sie auf dem Parkplatz der Polizeidirektion angekommen waren, ging er um den Wagen herum und hielt Marie die Tür auf. Solche Gesten waren typisch für Oliver, besonders gegenüber seiner aparten dunkelhaarigen Kollegin, für die nicht nur er eine Schwäche hatte.
„Da seid ihr ja wieder, Lust auf Kaffee?“, wurden sie im Büro von Jonas Ehrlicher begrüßt. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und richtete sich zu seiner ganzen imposanten Größe auf. Jonas hatte die Statur eines Türstehers und das sanfte Gemüt eines Bernhardiners. Die Fülle seiner wirren braunen Locken verdeckte nur unzureichend eine Narbe auf seiner Stirn, die Marie als seine Harry-Potter-Narbe bezeichnete.
Marie stimmte sofort zu, während Oliver demonstrativ nach einer seiner Teedosen griff. Er verfügte über eine ganze Sammlung erlesener Teesorten, deren Vorzüge er Marie und Jonas oft nahezubringen versuchte. Doch in der Hinsicht waren die beiden Banausen.
„Was war es?“, brachte Jonas das Gespräch auf den Einsatz, als sie gemeinsam um den Tisch am Fenster saßen.
„Eindeutig Suizid“, erwiderte Marie. „Der anwesende Arzt kannte die Frau, sie war seine Patientin. Es war nicht ihr erster Versuch, sie hatte Narben an beiden Handgelenken. Vor etwas über einem Jahr ist ihr Mann verstorben, sie ist über den Verlust nicht hinweggekommen. Der Arzt hatte ihr eine Trauergruppe empfohlen, sie war wohl ein paar Mal dort, aber es hat ihr nicht wirklich geholfen. Diesmal wurde sie zu spät gefunden, mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne. Auf dem Tisch im Wohnzimmer lagen ein Abschiedsbrief und alle wichtigen Papiere.“
„Hatte sie keine Verwandten?“, fragte Jonas.
„Doch, einen Sohn, aber er lebt weit weg und mit der Schwiegertochter verstand sie sich nicht besonders. Sie hatten kaum Kontakt.“ Sie schwiegen alle drei, Oliver nahm seine runde Brille ab und putzte sie.
„Ein tragischer Fall, aber keiner, mit dem wir uns weiter beschäftigen müssen“, sagte er abschließend. „Gab es hier inzwischen was Neues?“
„Wie man es nimmt.“ Jonas strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. „Es gibt den merkwürdigen Fall einer vermissten Frau, die hier in Neuruppin wohnhaft ist.“
„Aha, und was ist an dem Fall so merkwürdig?“ Marie stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab und schaute Jonas erwartungsvoll an.
„Bei der Frau handelt es sich um eine Lehrerin von Mitte fünfzig, die am Einstein-Gymnasium Deutsch und Englisch unterrichtet hat. Sie ist vor drei Tagen im Harz bei einem Ausflug des Lehrerkollegiums spurlos verschwunden. Sie waren alle zusammen in einer Gaststätte in Thale auf dem Hexentanzplatz, als die Frau noch einmal nach draußen ging, um Fotos zu machen. Nachdem sie nicht zurückkehrte, suchten die Kollegen nach ihr. Alles, was sie von der Frau fanden, waren ihre Schuhe. Die alarmierte Bergwacht startete sofort eine Suche, die ergebnislos verlief. Bis jetzt gibt es keinen Hinweis, was mit der Frau passiert sein könnte.“
„Die Frau ist Lehrerin, sagtest du?“ Oliver blies nachdenklich in seinen Tee. „Könnte sie eventuell freiwillig untergetaucht sein? Weil sie genug vom Schulstress hatte?“
Jonas schüttelte den Kopf. „Nichts deutet auf ein freiwilliges Verschwinden hin. Die Frau war seit fast zehn Jahren geschieden und lebte allein, galt aber als sozial gut integriert. Weder im privaten Umfeld noch an der Schule gab es irgendwelche Probleme. Sie hatte bereits feste Pläne für den Sommerurlaub, wollte mit einer Gruppe in den Alpen wandern.“
„Aber was war mit den Schuhen? Wie wurden die denn gefunden? Gab es Hinweise auf einen Kampf? Hat die Frau die Schuhe eventuell von den Füßen verloren, weil jemand sie gewaltsam verschleppte?“ Marie versuchte ein mögliches Szenario zu entwerfen, doch Jonas widersprach.
„Das ist ja das Merkwürdige. Die Schuhe standen ordentlich nebeneinander auf einer Bank an einem Aussichtspunkt. So wie man seine Schuhe abstellt, wenn man ins Bett geht.“
„An einem Aussichtspunkt?“ Oliver war hellhörig geworden. „Was für ein Aussichtspunkt war das?“
„Die La Viereshöhe. Ich habe den Namen zum ersten Mal gehört, das ist ein Felsen gegenüber der Rosstrappe. Von dort aus geht es 250 Meter steil ins Bodetal runter. Aus dem Grunde ist das Plateau mit stabilen Geländern gesichert.“
„Über ein Geländer kann man rüber steigen. Für mich klingt das nach einem Suizid. Dafür sprechen jedenfalls die sorgfältig abgestellten Schuhe.“
Niemand widersprach Oliver. Wenn Menschen ihrem Leben ein Ende setzten, begingen sie im Vorfeld oft merkwürdige Handlungen. Zurückgelassene Schuhe wurden des Öfteren gefunden, nachdem Menschen von Brücken, Türmen oder Dächern gesprungen waren, das wussten die drei Kriminalisten aus Erfahrung.
„Dann hätte ihre Leiche gefunden werden müssen“, nahm Jonas den Faden wieder auf. „Das Areal wurde jedoch gründlich abgesucht, ohne Erfolg.“
„Gab es überhaupt keine Zeugen?“, fragte Marie. „Der Hexentanzplatz ist ein beliebtes Ziel für Touristen und mit der Seilbahn leicht zugänglich. Da sind ständig viele Menschen unterwegs, irgendjemand könnte doch etwas beobachtet haben.“
„Natürlich wurde von der örtlichen Polizei nach Zeugen gesucht“, stimmte Jonas ihr zu. „Aber als die Frau verschwand, regnete es gerade heftig. Der Aussichtspunkt ist einige Hundert Meter vom Hexentanzplatz entfernt, weshalb er nicht so überlaufen ist. Schon gar nicht bei Regen. Das Handy der Vermissten soll für den Rest des Tages noch in der Nähe des Hexentanzplatzes zu lokalisieren gewesen sein, bevor es sich ausschaltete. Bisher konnte es nicht gefunden werden.“
„Wirklich merkwürdig, das könnte letztendlich doch noch ein Fall für uns werden“, meinte Marie.
Jonas zwinkerte ihr zu. „Das sehen die Kollegen aus Sachsen-Anhalt genauso. Sie haben schon mal vorsorglich das Material zu dem Fall rübergereicht, damit wir unsere Ideen einfließen lassen können.“
Wenig später hatte er einige Fotos auf dem Tisch ausgebreitet. Marie interessierte sich besonders für das Foto der Schuhe. Es sah seltsam aus, wie die Wanderschuhe mit den neongrünen Schnürsenkeln vor dem romantischen Bergpanorama verlassen auf einer Bank standen. Es mutete nicht wie ein Tatortfoto an, sondern eher wie eine Aufnahme aus einem Werbeprospekt für Bergwandern.
„Was ist das da für ein blaues Kreuz vor der Bank?“, fragte sie.
Oliver nahm ihr das Foto aus der Hand. Tatsächlich war auf dem felsigen Untergrund ein blaues Kreuz zu erkennen, es wirkte wie mit Ölfarbe hingemalt.
„Irgendeine Markierung“, sagte er achselzuckend. „Die war sicher schon vorher da.“
Marie ließ das blaue Kreuz für den Rest des Tages keine Ruhe. Sie war sich sicher, so ein Kreuz in Verbindung mit einem Kriminalfall schon einmal gesehen zu haben. Doch es wollte ihr einfach nicht einfallen, wann und wo das gewesen sein könnte.