6.
Antonia Gerlach verstaute die letzten Akten im dafür vorgesehenen abschließbaren Schrank. Schluss für heute, es war schon nach 21 Uhr. Ihre Sprechstundenhilfe hatte sie bereits vor zwei Stunden nach Hause geschickt, noch bevor sie den letzten Patienten empfangen hatte. Leider hatte sich der Termin mit ihm wieder sehr in die Länge gezogen. Eigentlich hatte sie noch etwas Zeit für das Schreiben von Berichten und Gutachten nutzen wollen, daraus war nicht mehr viel geworden. Antonia seufzte. Die Bürokratie uferte immer mehr aus, was weniger Zeit für die Arbeit mit den Patienten bedeutete. Wenn das nur endlich mal jemand von den Verantwortlichen einsehen würde.
Ob Mark heute früher Feierabend machen würde? Ihr Ehemann arbeitete als Steuerberater und in den vergangenen Tagen war es bei ihm immer sehr spät geworden. Sie wählte seine Nummer und hatte ihn sofort am Apparat. „Mark? Ich bin für heute hier fertig. Kommst du auch bald?“
„Ja, ich bin beim Zusammenpacken. Einen Moment brauche ich noch.“ Antonia glaubte im Hintergrund ein unterdrücktes Kichern zu hören.
„Sag mal, ist da jemand bei dir?“, fragte sie. Es raschelte, dann vernahm sie hastiges Flüstern. Mark räusperte sich, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Schon klar, versuch mir erst gar nichts zu erklären“, sagte sie eisig und drückte das Gespräch weg. Wie gelähmt blieb sie am Schreibtisch sitzen und stützte das Gesicht in die Hände. Sie hatte es geahnt, wie er seine angeblichen Überstunden verbrachte, wieder einmal. Die laufenden Demütigungen zermürbten sie, doch sie war zu schwach, endlich die Konsequenzen daraus zu ziehen. Aber sie würde mit ihm reden, heute noch. Nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatte, erhob sie sich mit einem Ruck und griff nach ihrer Tasche. Im Vorraum der Praxis warf ist einen kurzen Blick in den Spiegel und probierte ein Lächeln. Nur keine Blöße geben, sie würde sich nichts anmerken lassen.
Die Praxis von Antonia Gerlach lag im dritten Stock des Ärztehauses, der Fahrstuhl befand sich direkt gegenüber. Sie trat vor die Tür, der Boden des Flurs glänzte feucht. Die Reinigungskraft, die alle nur Conny nannten, war eifrig am Wischen.
„Guten Abend“, sagte Antonia freundlich. „Sie sind ja schon so fleißig, hoffentlich mache ich keine Fußabdrücke auf dem nassen Boden.“
„Ach Frau Doktor, das macht doch nichts. Da wische ich rasch noch mal drüber.“ Conny lachte gutmütig.
„Ich bin gleich weg. Einen schönen Abend noch.“ Antonia tänzelte auf Zehenspitzen zum Fahrstuhl hinüber.
„Ihnen auch einen schönen Abend, Frau Doktor. Auf Wiedersehen“, rief Conny ihr nach. Die Fahrstuhltüren schlossen sich langsam hinter Antonia. Sie drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss und die Kabine setzte sich in Bewegung. Erst jetzt merkte Antonia, wie erschöpft sie war. Sie schloss für einen Moment die Augen und öffnete sie erst wieder, als der Fahrstuhl mit einem Ruck zum Stehen kam. Die Türen glitten auseinander und gaben den Blick auf die gegenüberliegende unverputzte Ziegelwand frei. Antonia, die gerade aussteigen wollte, stutzte. Das war nicht das Erdgeschoss, sie war bis in den Keller gefahren. Sollte sie den falschen Knopf gedrückt haben? Sie drückte auf den Knopf mit dem E, doch der Fahrstuhl rührte sich nicht. Plötzlich erlosch das Licht, es wurde stockdunkel. Was war das jetzt, ein Kurzschluss? Antonia tastete erneut nach der Schalttafel und drückte wahllos darauf herum. Nichts geschah. Es gab einen Alarmknopf, das wusste sie, nachdem sie den Fahrstuhl ungezählte Male benutzt hatte. Aber wo befand der sich, ganz unten oder ganz oben auf der Schalttafel? Egal, bei Stromausfall funktionierte er vermutlich ebenfalls nicht. Sie hatte nur zwei Möglichkeiten: Sie konnte entweder ausharren, bis der Strom wiederkam, oder sie musste nach einem Ausgang suchen. Ersteres konnte Stunden dauern, unter Umständen säße sie die ganze Nacht hier fest. Die Suche nach einem Ausgang würde im Dunkeln nicht einfach werden, sie kannte sich im Keller nicht aus, war noch nie zuvor hier unten gewesen. Aber versuchen musste sie es wenigstens. Sie musste sich nur an der Wand entlang tasten, bis sie eine Tür fand. Und wenn das Licht wieder anginge, könnte sie zum Fahrstuhl zurückkehren. Bereits nach den ersten Schritten sank ihr Mut. Ihre Finger, die tastend über die rauen Ziegel glitten, verfingen sich plötzlich in einem klebrigen Gespinst und etwas Dünnbeiniges krabbelte über ihre Hand. Antonia stieß einen leisen Schrei aus und schüttelte sich vor Ekel. Wie gut, dass keiner ihrer Patienten sie jetzt sehen konnte, sie, die taffe Psychiaterin, die sich so wunderbar mit der Therapie von Phobien auskannte. Gegen ihre eigene Abneigung gegen Spinnen hatte ihr das bisher nicht geholfen. Ihr war die Lust, weiter nach einem Ausgang zu suchen, schlagartig vergangen. Sie musste Hilfe holen, wieso war sie nicht gleich auf die Idee gekommen, jemanden anzurufen? Antonia tastete in ihrer Handtasche nach ihrem Handy, konnte es in der Aufregung aber nicht finden. Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Was war das gewesen, ein Tier? Ratten vielleicht? Das wurde ja immer unheimlicher. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Dann glaubte sie, jemanden atmen zu hören.
„Hallo, ist da jemand?“ Ihre Stimme klang brüchig. Gleich darauf wurde ein Tuch fest auf ihren Mund und ihre Nase gepresst. Sie wehrte sich erfolglos, ihre Schreie erstickten und vor ihren Augen drehten sich feurige Kreise. Dann wurde es endgültig dunkel.