9.
„Ich habe den Gerlach angerufen, er hat sich freigenommen und ist zu Hause. Wir können gleich hinfahren, es ist nicht weit.“ Jonas hielt die Autoschlüssel bereits in der Hand. Unterwegs erzählte er Marie, was er über den Ehemann von Antonia Gerlach herausgefunden hatte.
„Markus Gerlach ist 52 Jahre alt und arbeitet als Steuerberater. Mit Antonia Gerlach ist er seit acht Jahren verheiratet. Die beiden haben keine gemeinsamen Kinder, aber Gerlach hat einen dreißigjährigen Sohn aus einer früheren Ehe. Bevor er seine jetzige Frau ehelichte, war er bereits dreimal verheiratet. Seine Frau nur einmal.“
„Wissen wir etwas über den geschiedenen Mann von Antonia Gerlach?“ Marie überlegte, ob hier eventuell eine Spur für das mysteriöse Verschwinden der Nervenärztin zu finden sein könnte.
Jonas schüttelte den Kopf. „Er ist bereits seit drei Jahren tot. Autounfall.“
Inzwischen waren sie am Haus der Gerlachs angekommen, einem hypermodernen würfelförmigen Neubau mit viel Glas. Darin musste man sich wie in einem Aquarium fühlen, schoss es Marie durch den Kopf. Markus Gerlach empfing sie an der Eingangstür. Er war mittelgroß, sein dunkles Haar, das sich in der Stirn bereits lichtete, war eindeutig gefärbt. Die Hand von Marie hielt er bei der Begrüßung ein wenig länger als erforderlich und schaute ihr dabei in die Augen. Er war ihr sofort unsympathisch. Dieser Mann hielt sich offenbar für unwiderstehlich und konnte selbst in einer völlig unpassenden Situation das Flirten nicht lassen.
Das Zimmer, in das sie geführt wurden, wirkte so kühl und unpersönlich wie das Äußere des Hauses. Bei der Einrichtung dominierten Leder, Chrom und Glas, nichts deutete auf persönliche Vorlieben der Bewohner hin. Dies war kein Ort zum Wohlfühlen, stellte Marie im Stillen fest.
Jonas schaute sie an und gab damit zu verstehen, ihr die Befragung überlassen zu wollen. Marie räusperte sich.
„Herr Gerlach, haben Sie irgendeine Vermutung hinsichtlich des Verschwindens Ihrer Frau?“
„Nein, überhaupt keine.“ Er hielt ihr zum Zeichen seiner Ratlosigkeit die offenen Handflächen hin.
„Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen?“
„Das war am Montagmorgen, bevor ich aus dem Haus ging. Ihre Sprechstunde fing erst um 10 Uhr an, sie ist nach mir gegangen.“
„Ist Ihnen eine Veränderung an Ihrer Frau aufgefallen? Hat sie etwas gesagt oder getan, was Ihnen im Nachhinein seltsam vorkommt?“
„Nein, es war alles wie immer.“ Wieder machte Gerlach eine ratlose Geste. „Wir haben dann am Abend miteinander telefoniert. Antonia hat mich im Büro angerufen und mir gesagt, sie würde jetzt nach Hause fahren. Dort kam sie aber nicht an.“
„Hat Sie das nicht beunruhigt?“
„Natürlich hat mich das beunruhigt“, erwiderte Gerlach leicht gereizt. „Aber was sollte ich machen? Ich konnte wohl kaum eine Vermisstenanzeige aufgeben.“
„Dafür wäre es in der Tat zu früh gewesen“, stimmte Marie ihm zu. „Doch Sie hätten sich erkundigen können, ob Ihre Frau auf dem Wege eventuell einen Unfall hatte.“
Gerlach wand sich ein wenig. „Diese Möglichkeit habe ich ausgeschlossen. Antonia ist eine ausgezeichnete Fahrerin und was sollte auf dem kurzen Weg groß passieren? Ich glaubte eher, sie würde bei einer Freundin übernachten.“
„Nachdem sie angekündigt hatte, gleich nach Hause kommen zu wollen?“, fragte Marie überrascht. „Kam so etwas öfter vor?“
„Nicht oft, aber vorgekommen ist es schon. Wenn wir gestritten hatten.“
„Von einem Streit haben Sie bisher nichts erwähnt.“
„Nun ja, es gab auch keinen, eher ein Missverständnis. Antonia ist sehr eifersüchtig. Als sie anrief, war noch eine Klientin bei mir. Antonia könnte da etwas falsch aufgefasst haben. Ich hoffe inzwischen, sie will mir nur einen Denkzettel verpassen und taucht bald wieder auf.“
Die Richtung, die das Gespräch nahm, war Markus Gerlach sichtlich unangenehm. Doch Marie ließ nicht locker und fand heraus, dass Antonia Gerlach in der Vergangenheit durchaus einige Gründe zur Eifersucht gehabt hatte. Seine Beteuerungen, aktuell stehe es aber bestens um seine Ehe, nahmen Marie und Jonas ihm nicht so recht ab.
„Und, was denkst du?“, fragte Marie Jonas auf dem Rückweg. Der überlegte kurz, bevor er antwortete.
„Er könnte durchaus ein Motiv haben, seine Frau verschwinden zu lassen. Zum Beispiel, um sich die Kosten der vierten Scheidung zu ersparen. Seine angebliche eheliche Treue glaube ich dem nicht. Wie der dich angestarrt hat, dem lief der Sabber aus den Mundwinkeln. Ekelhaft.“ Jonas schüttelte sich.
„Wir werden sein Alibi gründlich überprüfen“, stimmte Marie zu. „Obwohl ich ihn nicht für den Täter halte. Die Parallelen zum Verschwinden von Rita Schneider lassen mir keine Ruhe.“
„Der Name Rita Schneider hat Gerlach nichts gesagt.“ Jonas wich einem Radfahrer aus. „Das will nichts heißen, er muss nicht alle Bekannten seiner Frau kennen. Sie könnte eine Patientin von ihr gewesen sein.“
„Das herauszufinden, dürfte schwierig werden“, seufzte Marie.