13.
Das Erste, was Marie sah, als sie auf das Gelände des Einstein-Gymnasiums einbog, war der Krankenwagen. Die Türen standen offen, Sanitäter machten sich an jemandem zu schaffen, der im Inneren auf einer Trage lag. Von der Person selbst war kaum etwas zu erkennen.
Jonas kam ihr eilig entgegen, der Wind zerzauste seine braunen Locken.
„Was ist los, ist jemand verletzt?“, fragte Marie, noch bevor sie die Autotür hinter sich geschlossen hatte.
„Eine Lehrerin hat einen Schock erlitten, deshalb ist der Krankenwagen hier. Aber der eigentliche Anlass unseres Einsatzes befindet sich ein Stück weiter dort drüben. Komm mal mit.“
Jonas lief voran, Marie konnte kaum Schritt halten. „Nun sag schon, was los ist“, verlangte sie ungeduldig.
„Im Auto der Lehrerin wurde eine Leichenhand deponiert, direkt auf dem Fahrersitz. Die Spurensicherung ist schon da, sie machen erst mal Fotos.“
Hundert Fragen schossen Marie durch den Kopf, doch sie stellte sie zurück. Zunächst musste sie die Situation in Augenschein nehmen und sich selbst ein Bild machen. Jonas führte sie zu einer Pforte am anderen Ende des Schulgeländes und hinaus in eine kleine Sackgasse. Hinter einem blauen Passat parkte dort der Wagen der Spurensicherung.
„Handelt es sich bei dem Passat um den Wagen der Lehrerin? Wieso hat sie ihn hier geparkt und nicht auf dem Schulparkplatz?“
Jonas antwortete mit einem schiefen Grinsen. „Ihren Kollegen zufolge parkt sie ihn immer außerhalb und an wechselnden Orten. Weil sie Schülerstreiche fürchtet.“
Sie waren bei dem Wagen angekommen, die beiden Kollegen von der Spurensicherung nickten Marie zu und traten beiseite. Die Tür auf der Fahrerseite stand offen, vom dunkelblauen Bezug des Sitzes hob sich weiß eine Hand ab. An der Stelle, wo sie vom Arm abgetrennt worden war, ragten bleiche Knochensplitter hervor. Die Finger waren zu einer Kralle gebogen, die Fingernägel blau verfärbt. Es sah aus, als wollten sie sich in den Sitzbezug graben. Auf dem Ringfinger steckte ein breiter silberner Reif mit einem großen schwarzen Onyx. Im Mittelalter hatte dieser Stein als Unglücksbringer gegolten. In diesem Falle hatte er seiner Trägerin tatsächlich kein Glück gebracht, denn es handelte sich nach Maries erster Vermutung um die rechte Hand einer Frau.
„War die Autotür offen?“, fragte sie. Jörg Freese, der Leiter der Spurensicherung, nickte und zog ein grimmiges Gesicht.
„Wir waren mal wieder nicht die Ersten am Tatort“, sagte er und strich sich über seine Glatze. „Zuerst hat die Besitzerin des Wagens die Tür geöffnet und ist dann wohl gleich schreiend zu ihren Kollegen gelaufen. Einer ist nachschauen gegangen und hielt die Hand zunächst für einen Halloween-Scherzartikel. Also fasste er sie an und überzeugte sich dadurch vom Gegenteil.“ Freese verdrehte die Augen. „Wenigstens hat er sie liegen lassen. Aber die lieben Kollegen wollten, nachdem er ihnen davon erzählt hatte, sich selbst von dem Anblick überzeugen. Jetzt hocken sie bleichgesichtig im Lehrerzimmer beieinander oder hängen mit dem Kopf über der Toilettenschüssel. Wenigstens haben sie nicht gleich auf die Hand gekotzt, dafür muss man ihnen dankbar sein.“
„Gut, dann lassen wir dich jetzt in Ruhe deine Arbeit machen. Der Wagen muss trotz der ungünstigen Bedingungen gründlich auf Spuren untersucht werden. Die Hand sollte so schnell wie möglich zu Dr. Meurer in die Rechtsmedizin gebracht werden. Wir sprechen jetzt mit den Kollegen, die sie gefunden haben.“
Als sie auf das Schulgelände zurückkamen, stand der Krankenwagen noch immer da. Marie sprach einen der Sanitäter an, einen korpulenten jungen Mann mit freundlich blickenden braunen Augen. „Die Patientin möchte nicht ins Krankenhaus“, erklärte er. „Sobald sie sich stabilisiert hat, können wir sie nach Hause schicken.“
„Könnte ich kurz mit ihr reden?“, fragte Marie.
„Ich frage sie mal.“ Er verschwand kurz im Wagen und nickte Marie dann zu. „Kommen Sie rein. Sie können sich hier hinsetzen.“ Er wies auf einen Klappsitz neben der Liege, auf der eine spitznasige bleiche Frau lag. Marie setzte sich und sprach sie behutsam an.
„Mein Name ist Marie Liebig, ich bin von der Kriminalpolizei. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“
Eva Schlüter nickte und nannte bereitwillig ihren Namen. „Sie müssen mich schützen“, stieß sie dann schluchzend hervor. „Der Mörder, der Rita Schneider umgebracht hat, hat es auch auf mich abgesehen. Das in meinem Auto, das war ein Zeichen. Ich werde die Nächste sein.“
„Wie kommen Sie darauf, dass Rita Schneider umgebracht wurde?“ Mit dieser Aussage hatte Marie nicht gerechnet.
„Weil es ihre Hand ist“, kreischte Eva Schlüter hysterisch. „Der Ring, ich habe sie an ihrem Ring erkannt. Sie hat ihn immer getragen.“
„Bleiben Sie bitte ganz ruhig, wir werden das alles klären. Jetzt möchte ich erst einmal wissen, ob Ihr Auto verschlossen war.“
„Natürlich, ich würde es nie offenlassen, auch nicht versehentlich. Das ist völlig ausgeschlossen.“ Ihre Stimme gewann bei dieser Aussage an Festigkeit.
„Gut, und als Sie dann diesen Fund machten“, Marie vermied es, ihn näher zu bezeichnen, „war es da offen?“
„Nein, ich habe es aufgeschlossen. Da ich das gemacht habe, bevor ich unmittelbar davorstand, konnte ich nicht gleich auf den Fahrersitz schauen. Erst als ich die Tür geöffnet habe, sah ich ...“ Sie brach ab, ein Schauer lief über ihren Körper.
Mehr war von Eva Schlüter nicht zu erfahren. Marie wollte sich verabschieden, wurde aber von ihr zurückgehalten. „Was wird denn nun, bekomme ich Polizeischutz?“, fragte sie.
„Das kann ich leider nicht allein entscheiden, aber wir bleiben mit Ihnen in Verbindung“, konnte Marie sich aus der Affäre ziehen. Die Frau würde sich nicht so schnell zufriedengeben, sie murmelte noch etwas von reichlich Steuern, die sie schließlich zahlen würde.
Im Lehrerzimmer hatte Jonas bereits die anderen Kollegen aufgespürt, von denen eine Aussage zu erwarten war. Till Neumann, Lehrer für Mathematik und Informatik, war ein gut aussehender Mann. Vom Typ her entsprach er so ziemlich Maries Ideal, er war groß, dunkelhaarig und sein Gesicht nicht ganz regelmäßig, was ihm eine individuelle Note verlieh. Er wurde von zwei jungen Frauen flankiert, einer attraktiven blonden und einer verschüchterten mit braunem Kraushaar. Neumann übernahm es, zuerst auszusagen.
„Wir waren hier zu dritt im Raum. Da ich gerade ein Fenster geöffnet hatte, hörten wir die Kollegin Schlüter schreien und sahen sie kurz darauf zusammenbrechen. Wir sind alle drei sofort zu ihr gelaufen. Sie konnte kaum sprechen, stammelte immer nur etwas wie Auto. Meine Kollegin Silke Netzer hat sofort einen Krankenwagen gerufen. Ich bekam dann von Eva Schlüter heraus, da wäre was in ihrem Auto. Also ging ich nachschauen.“
Der Rest von Till Neumanns Aussage deckte sich mit dem, was Marie schon von Freese gehört hatte. Er glaubte zunächst an einen Scherzartikel, überzeugte sich dann aber, dass dem nicht so war. Den Onyxring konnte er Rita Schneider nicht zuordnen, während beide Frauen übereinstimmend aussagten, ihn regelmäßig an Rita Schneider gesehen zu haben. Die Fragen der Kriminalisten nach Gemeinsamkeiten zwischen Rita Schneider und Eva Schlüter beantworteten alle drei sehr zurückhaltend, doch am Ende ergab sich ein stimmiges Bild.