18.
Meurer hielt Wort. Bald wussten sie, dass es sich um das Gehirn von Antonia Gerlach handelte. „Immerhin war sie schon tot, als ihr Schädel geöffnet wurde“, zitierte Marie aus dem Bericht. „Diese Öffnung wurde sehr dilettantisch vorgenommen, mit einer groben Säge, vermutlich einer Eisensäge. Darauf lassen Metallspäne schließen, die in die Hirnsubstanz eingedrungen waren. Die Vorgehensweise erinnert laut Meurer an die bei Rita Schneider.“
„Rita Schneider wurde die Hand doch aber mit einem Beil abgehackt“, warf Jonas ein.
„Das meinte Meurer nicht. Er bezog sich auf das Unprofessionelle des Vorgehens.“
Oliver zog die Augenbrauen in die Höhe. „Wer kann schon professionell eine Leiche zerlegen? Wir suchen also keinen Chirurgen und keinen Fleischer. Das engt den Kreis der Tatverdächtigen natürlich ungeheuer ein.“
„Da ist nicht nur Ungeschicklichkeit im Spiel, sondern eine Menge Aggression. Der Täter ist wütend auf das Opfer, deshalb verstümmelt er es nach dem Tod“, fuhr Marie fort. „Insgesamt zehn Nägel und acht Schrauben hat Meurer in dem Gehirn gefunden, teilweise waren sie tief hineingebohrt worden. Der Täter will damit eine Botschaft übermitteln, davon bin ich überzeugt.“
„Gut, dann lasst uns mal zusammenfassen.“ Torsten hatte die Kollegen zu einer ersten Besprechung der neuen Faktenlage gebeten. Er saß mit ihnen am Besprechungstisch, das graue Haar sorgfältig gescheitelt und mit einem leichten hellblauen T-Shirt bekleidet, das seine Bräune vorteilhaft hervorhob.
„Wir haben es vermutlich mit dem gleichen Täter zu tun. Ein Muster ist deutlich erkennbar. Er entführt seine Opfer und lässt einen persönlichen Gegenstand von ihnen am Tatort zurück. Bei Rita Schneider waren es die Schuhe, bei Antonia Gerlach die Tasche. Kurz nach der Entführung tötet er die Opfer, ihre Leichen bleiben verschwunden. Doch er trennt ein Körperteil ab, beziehungsweise er entnimmt ein Organ, das er einige Tage gekühlt aufbewahrt. Dann platziert er es an einem Ort, an dem es garantiert ganz schnell gefunden wird. Was verrät uns das über den Täter?“
„Er ist ein Täter vom organisierten Typ, sein Vorgehen ist sorgfältig geplant.“ Oliver, der unbedingt Fallanalytiker werden wollte, war in seinem Element. „Er ist hochintelligent, denn obwohl er große Risiken eingeht, ist ihm bisher kein Fehler unterlaufen.“
Torsten hob die Hand. „Augenblick, nicht so schnell, Oliver. Bleiben wir erst einmal bei den Risiken. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Sein Vorgehen ist geradezu tollkühn. Zuerst die Entführung von Rita Schneider an einem belebten Platz. Dann die Ablage ihrer Hand in einem Fahrzeug in der Nähe der Schule. Beide Male bestand das Risiko, dabei beobachtet zu werden.“
„Wurde er aber nicht. Und auch diesmal hat ihn keiner gesehen.“ Jonas zerzauste sein Haar, er wirkte resigniert. „Dabei hat er das Auto von Antonia Gerlach direkt gegenüber von einem Wohnblock abgestellt.“
„Nur waren fast alle Bewohner des Wohnblocks um diese Zeit arbeiten“, setzte Marie hinzu. „Und die freundliche Dame aus dem Erdgeschoss, die uns Kaffee serviert hat, kann nicht weiter als zwei Meter gucken.“
„Er muss die Orte, an denen er aktiv wird, vorher sorgfältig erkunden.“ Oliver schaute in seinen Tee, als würde er dort Erklärungen finden. „Immerhin konnte er das abseits abgestellte Auto Eva Schlüter zuordnen. Es war kein Zufall, er hat die Hand mit Vorbedacht dort abgelegt. Die Sache mit dem Parkplatz von diesem Hanschmann war ähnlich präzise geplant. Er muss vorher gewusst haben, wann der Mann wegfahren und wann er voraussichtlich wiederkommen wird. Er ist ein Narzisst, eitel bis zur Selbstzerstörung. Im Moment hält er sich für unverwundbar. Es macht ihm Spaß, mit uns zu spielen.“
„Das ist zweifellos richtig. Doch sein Versteckspiel mit uns ist nur ein Nebeneffekt.“ Marie wickelte einen Schokoriegel aus. Der Fall trieb ihren Zuckerbedarf spürbar in die Höhe. „In erster Linie geht es ihm um die Opfer. Er verstümmelt sie und in diesen Verstümmelungen ist eine Botschaft verborgen. Antonia Gerlach war Nervenärztin. Sie beschäftigte sich im weitesten Sinne mit den Gehirnen ihrer Patienten. Nun hat der Täter ihr Gehirn zerstört – weshalb? War er ein unzufriedener Patient? Oder der Angehörige eines Patienten?“
„Vergiss Rita Schneider nicht und wie sie in dieses Schema passt.“ Jonas goss Marie Kaffee nach, sie dankte ihm mit einem Lächeln. „Sie war Lehrerin. Wenn wir bei dem Bezug zum Beruf der Opfer bleiben wollen, müssen wir uns fragen, welche Botschaft hinter der abgehauenen Hand steckt. Die Hand, die auf etwas zeigt? Die Hand, die bestraft?“
„Könnte durchaus sein.“ Oliver nickte eifrig. „Früher schlug man Dieben die Hand ab. In Ländern, in denen die Scharia herrscht, tut man es heute noch. Aber diese Überlegungen führen uns nicht weiter. Wir sollten uns fragen, welche Verbindung zwischen den Opfern besteht.“
„Du meins über die Tatsache hinaus, dass der Täter sie beide gekannt hat?“, fragte Torsten. „Das sollten wir herausfinden. Zum Beispiel könnte Rita Schneider eine Patientin von Antonia Gerlach gewesen sein.“
„Nur kommen wir an die Patientenkartei nicht ran. Auch die Sprechstundenhilfe mauert, was verständlich ist. Sie darf keine Namen von Patienten preisgeben.“ Jonas rührte nachdenklich in seinem Kaffee. „So, wie der Täter vorgeht, würde ich ihn sogar selbst unter den Patienten der Psychiaterin vermuten. Doch solange wir keinen konkreten Verdacht haben, hilft uns das nicht weiter.“
„Ob Rita Schneider Patientin war, lässt sich eventuell doch herausfinden.“ Marie wickelte den halb gegessenen Schokoriegel wieder ein, nicht ohne einen bedauernden Blick darauf zu werfen. „Sie könnte mit jemandem darüber gesprochen haben. Ihre Nichte können wir als Zeugin vergessen, die weiß nichts über ihre Tante. Immerhin hat sie uns deren Computer überlassen, den werten unsere Experten noch aus. Viel verspreche ich mir davon leider nicht. Doch mit der Schulleiterin Alma Heimbürge soll Rita Schneider recht eng befreundet gewesen sein. Wir sollten versuchen, noch einmal mit ihr zu reden.“