22.
Alles lief fantastisch, doch ausgerechnet jetzt bekam sein bester Freund kalte Füße. Sorgfältig löschte Reno die Nachricht auf seinem Handy. Was war nur mit Sephiroth los, weshalb hatte er plötzlich so viele Bedenken? Es musste mit seiner Vergangenheit zusammenhängen. Einmal hatte der Freund es gewagt, seiner Wut und Verzweiflung freien Lauf zu lassen und teuer dafür bezahlt. Doch sollte ihn das nicht eher anspornen, sich an allen zu rächen, die ihm übel mitgespielt hatten?
Sie waren sich in einer Zeit begegnet, die sie beide als die dunkelste ihres Lebens in Erinnerung hatten, und sehr schnell Freunde geworden. Beide fühlten sie sich in der Welt der Bits und Bytes mehr zu Hause als in der realen Welt. Sie liebten die gleichen Spiele, genau wie er hatte Sephiroth seinen Namen dem Computerspiel Final Fantasy entlehnt. Reno beeindruckte der Anspruch, der sich hinter diesem Namen verbarg. Sephiroth verfügte im Spiel über übermenschliche Kräfte und wollte die Welt zerstören. Sah sein Freund sich genauso? Je vertrauter sie miteinander wurden, umso mehr offenbarten sie einander von ihren Gedanken. Und so erfuhr Reno, weshalb sein Freund ausgerechnet den Namen dieses Charakters angenommen hatte. Es ging ihm dabei nicht um dessen Stärke, sondern um seine Verbindung zu einer anderen Dimension. Sephiroth trug die Zellen eines außerirdischen Organismus in sich. Und auch der Freund glaubte, aus einer anderen Welt zu stammen. Anfangs war Reno über diese Enthüllung verblüfft und enttäuscht zugleich gewesen. Glaubte der geniale Programmierer und Hacker tatsächlich an solchen Humbug? Sephiroth spürte seine Zweifel und begann einen geradezu missionarischen Eifer zu entwickeln. Er lenkte ihn auf Internetseiten und versorgte ihn mit Büchern, die er unter seiner Matratze verborgen hatte und wie einen Schatz hütete. „Als ich zum ersten Mal davon gelesen habe, wurde mir schlagartig klar, wieso ich anders bin. Du bist es ebenfalls, das habe ich sofort gespürt. Lies das hier, dann wirst du alles verstehen.“ Reno hatte gelesen und war zunehmend fasziniert gewesen. Wenn man den esoterischen Quatsch außer Acht ließ, stand da viel Wahres geschrieben. Seine intellektuelle Überlegenheit war ihm bereits früh klar geworden, ebenso die geistige Enge seiner Eltern und Lehrer. Das war der Grund, weshalb er ständig angeeckt war und sich unverstanden gefühlt hatte. Die Wut und Verzweiflung über die Beschränkungen, die man ihm auferlegen wollte, hatte er sehr wohl gespürt. Offenbar war er nicht der Einzige, bei dem sich diese Wut gewaltsam Bahn gebrochen hatte. Sephiroth verstand das, er würde ihn immer unterstützen und niemals verraten, das hatten sie einander geschworen. Nach dem, was er für den Freund getan hatte, war ihr Bund noch fester geworden. Leider war Sephiroth zu schwach, um selbst aktiv zu werden. Dass er ihn nun sogar anflehte aufzuhören, war allerdings neu. Doch Reno dachte nicht daran. Er würde tun, was zu tun war, niemand sollte jemals wieder wagen, sich ihm in den Weg zu stellen.