31.
„Fassen wir noch einmal zusammen. Sie leiten einen Club für mathematisch hochbegabte Jugendliche. Jannik Heseler, Simon Markgraf und Lucas Schmidt gehören dazu. Lea Sommer war das einzige Mädchen in dieser Runde“, sagte Jonas zu Till Neumann, der in sich zusammengesunken auf der Gartenbank saß. Jonas und Marie hatten sich vor ihm auf Gartenstühlen niedergelassen, während Oliver bei den Jugendlichen und Merle in der Gartenlaube geblieben war. Keiner der drei Jungen hatte etwas Wesentliches zur Aufklärung beitragen können, alle hatten übereinstimmend ausgesagt, Lea am Morgen in der Schule zum letzten Mal gesehen zu haben. Merle war noch immer vom Auffinden der Leiche traumatisiert, der Arzt hatte ihr eine Beruhigungsspritze verabreicht.
Der wichtigste Zeuge war somit Till Neumann, auf den Jonas und Marie jetzt ihre Aufmerksamkeit richteten.
Neumann nickte schwach. Er hatte das alles schon mehrmals erklärt, aber die Kriminalisten hakten immer wieder nach.
„Die Clubmitglieder trafen sich meistens in den Räumen der Schule, manchmal aber auch abends in Ihrer Wohnung. Darüber hinaus gab es besondere Zusammenkünfte, wie den heutigen Grillnachmittag mit Geocaching. Die Regeln des Geocaching habe ich verstanden“, setzte Jonas die Befragung fort. „Sie haben für jeden Teilnehmer ein Ziel festgelegt und die Koordinaten in einer zu lösenden Aufgabe verschlüsselt. Aber während die drei Jungen eine beliebige Karte ziehen konnten, haben Sie Merle Baumgärtner ihre Karte und damit den Zielort zugeteilt. Weshalb?“
„Weil sie Deutschlehrerin ist. Ich habe eine Literaturaufgabe für sie zusammengestellt. Die Jungen mussten knifflige Matheaufgaben lösen.“ Aus dem Mund von Till Neumann klang es wie eine Rechtfertigung.
„So weit, so verständlich.“ Jonas hielt die in einer Plastikhülle verpackte Karte in der Hand, die Merle am Tatort liegen gelassen hatte. „Ein schönes Gedicht, ich kannte es nicht. Allerdings ziemlich morbid.“
„Merle kannte es, sie hat sich ausführlich mit Rilke beschäftigt, das wusste ich. Sie hat ihre Masterarbeit über ihn geschrieben und darin dieses Gedicht ausführlich besprochen. Deshalb habe ich es ausgewählt. Das Gedicht ist nicht morbid, es gibt eine weitere Strophe, die von neuem Leben kündet. Die hat nur nicht mehr auf die Karte gepasst.“
Marie, die sich zurückhielt, beobachtete Till Neumanns Reaktionen genau. Er war nicht dumm, ihm war der makabre Zusammenhang zwischen dem Gedicht und dem Tod des Mädchens längst aufgegangen. Wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze? Allein diese Schlusszeile besagte alles. Was hatte Lea gefühlt, als eine brutale Tat ihr Leben beendete? Hatte Till Neumann gewusst, was ihr zustoßen würde, war er gar der Täter? Doch weshalb hätte er dann einen derart direkten Hinweis auf seine Tat geben sollen?
„Das Gedicht beziehungsweise die aus den Lebensdaten des Dichters errechneten Koordinaten führten Frau Baumgärtner also an einen von Ihnen ausgewählten Ort“, fuhr Jonas fort. „Wie erklären Sie sich das Auffinden der Leiche an diesem Ort?“
„Ich kann es mir nicht erklären, das ist ein Albtraum.“ Till Neumann schrie jetzt fast. „Ich hatte dort eine Plastikdose hinterlegt, in der sich ein Schokoladensmiley befand. Haben Sie die nicht gefunden?“
Marie schüttelte sacht den Kopf. Wenn es diese Dose gegeben hatte, musste sie der Täter mitgenommen haben. Dafür hatte er die Hortensie in der Hand der Toten platziert, eine Tatsache, die sie Till Neumann bisher verschwiegen hatten. Doch eines stand fest: Der Täter musste die Aufgabe für Merle Baumgärtner gekannt und vor ihr gelöst haben. Er hatte nicht nur den Ort gekannt, sondern mit der Blüte in der Hand des Mädchens einen direkten Hinweis auf das Gedicht gegeben. Wie war das möglich gewesen?
Die nächste Frage von Jonas zielte auf diesen Punkt ab. „Wann genau haben Sie die Aufgaben zusammengestellt?“, fragte er.
„Vor einer Woche habe ich damit angefangen“, erwiderte Till Neumann. „Das geht nicht so von gleich auf jetzt. Ich musste Aufgaben finden, die vom Schwierigkeitsgrad her ähnlich waren, dann musste ich daraus Koordinaten berechnen, die zu den von mir ausgewählten Orten passten. Natürlich habe ich nicht die ganze Zeit daran gearbeitet, aber immer mal zwischendurch. Mir hat das Spaß gemacht, es war eine Herausforderung. Geocaching ist mein Hobby.“ Der letzte Satz klang resigniert. Nach dem, was heute geschehen war, würde er sich nie wieder mit Freude seinem Hobby widmen können.
„Immer mal zwischendurch, sagen Sie. Dabei haben Sie sich doch bestimmt Aufzeichnungen gemacht?“
„Ja, natürlich habe ich das getan.“
„Und in welcher Form ist das passiert. Auf dem Computer?“
„Zum großen Teil auf meinem persönlichen Computer zu Hause. Zwischendurch in der Schulpause auch mal auf einem Zettel. Wenn ich gerade einen Einfall hatte.“
Jonas lehnte sich vor und setzte zur entscheidenden Frage an: „Wer außer Ihnen konnte die Aufgaben vor dem heutigen Tag kennen? Wer hatte möglicherweise Zugang dazu?“
Till Neumann runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Dann hob er mit einer resignierten Geste die Hände. „Mir fällt niemand ein“, sagte er leise.