46.
„Was machst du da?“ Oliver, der gerade zur Tür hereingekommen war, konnte nicht glauben, was er sah.
„Siehst du doch, ich gieße deine armen Baumkrüppel. Die sind staubtrocken.“ Jonas richtete den Strahl der Gießkanne auf die nächste Pflanzschale.
„Das sind wertvolle Bonsais, du Banause. Die dürfen nicht zu stark gegossen werden, das vertragen sie nicht.“ Oliver nahm seinem Kollegen die Gießkanne aus der Hand.
„Ach, dann habe ich das wohl mit deinem Murphy verwechselt. Der mag doch Wasser.“ Murphy war der Kater von Oliver und dessen ungewöhnliche Vorliebe für Wasser war Gegenstand so manch heiterer Episode. Oliver konnte sein Badezimmer nicht betreten, ohne von dem Kater verfolgt zu werden, der dann auf das Waschbecken sprang und lautstark das Öffnen der Wasserhähne einforderte. Er trank nicht nur daraus, er duschte regelrecht.
„Du solltest dir auch ein Haustier zulegen, damit du mitreden kannst.“ Oliver prüfte besorgt den Feuchtigkeitsgehalt der Erde in den Bonsaigefäßen.
„Nee“, konterte Jonas, „so weit bin ich noch nicht. Ich habe die Hoffnung auf eine Frau noch nicht aufgegeben.“
„Schluss jetzt.“ Marie klatschte in die Hände. Sie stand am Flipchart, das sie mit ihren Notizen gefüllt hatte. „Wir wollen jetzt weder über Haustiere noch über Eheanbahnung, sondern über mögliche Verdächtige reden.“
„Davon haben wir eine Menge, nur will keiner so richtig passen“, seufzte Jonas.
„Aus diesem Grund verschaffen wir uns jetzt einen Gesamtüberblick, eventuell bringt uns das ja zu neuen Einsichten.“ Marie deutete auf das Flipchart. „Ich habe hier oben mal die Opfer aufgeführt. Da haben wir die Lehrerin Rita Schneider, die Nervenärztin Antonia Gerlach und die Schülerin Lea Sommer. Alle Opfer wurden verstümmelt. Zwei waren an der gleichen Schule. Eigentlich sogar drei, denn vor zwanzig Jahren wurde die Schülerin Juliane Wenzel umgebracht und auf die gleiche Art wie Lea Sommer verstümmelt.“ Marie notierte den Namen oben rechts über dem der anderen Opfer. „Damals wurde schnell ein Täter gefunden, von dem ich glaube, er wurde zu Unrecht verurteilt.“
„Das halte ich ebenfalls für möglich“, stimmte Jonas ihr zu. „Doch anzunehmen, der Täter von damals ist auch für die aktuellen Fälle verantwortlich, verkompliziert die Sache unnötig. Die lange Pause zwischen seinen Taten wäre sehr ungewöhnlich. Ich vermute eher, es handelt sich heute um einen Nachahmungstäter.“
„Und woher kannte er die Einzelheiten von damals? Bestimmte Details wurden der Öffentlichkeit nie bekannt gegeben.“ Olivers Miene drückte Zweifel aus.
Jonas runzelte die Stirn. „Ist das wirklich ein Argument? Auch jetzt versuchen wir, Einzelheiten unter Verschluss zu halten, und mit welchem Erfolg? Die Spatzen pfeifen Schauergeschichten von abgehackten Händen und menschlichen Gehirnen in abgestellten Autos von den Dächern. Irgendeine undichte Stelle gibt es immer.“
„Irgendwo müssen wir anfangen, ich schlage vor, den Fall Lea Sommer zum Ausgangspunkt zu wählen“, legte Marie fest. „Hier haben wir die meisten Anhaltspunkte. Wir haben die Leiche und wir haben den genauen Todeszeitpunkt. Außerdem liegt das Motiv klar auf der Hand: Rache wegen eines vermuteten Verrats. Der Verräterin wurde die Zunge herausgeschnitten. Die blaue Blume in ihrer Hand gibt einen Hinweis auf die Indigo-Theorie. Lea hat eine besondere Spezies von Menschen herausgefordert und musste deshalb sterben.“
„Der stärkste Verdacht in diesem Falle richtet sich für mich nach wie vor gegen Till Neumann.“ Jonas hob die Hand, um den Einwand von Marie abzuwehren. „Ich weiß, du bist der Ansicht, damit hätte er seinem Anliegen, Schaden vom Club und von seinen Schützlingen abzuwehren, eher geschadet. Doch denken Psychopathen nicht immer rational, wenn sie ihren dunklen Antrieben folgen. Die Auswahl des morbiden Gedichtes, in dem sowohl die Farbe Blau als auch der Tod vorkommen, spricht doch für sich. Dann wird das Mädchen auch noch mit einer Blume in der Hand aufgefunden. Das kann kein Zufall sein.“
„Es ist zweifellos kein Zufall.“ Marie nickte Jonas zu. „Es gibt aber eine mögliche Erklärung dafür. Neumann hatte die Aufgaben schon länger vorbereitet. Jemand könnte sich Zugang zu seinem Computer verschafft und das alles in Ruhe geplant und inszeniert haben. Wie dem auch sei, wir notieren Till Neumann als möglichen Verdächtigen im Fall Lea Sommer. Für die Entführung von Rita Schneider hatte er jedenfalls ein bombensicheres Alibi. Er saß mit all seinen Kollegen in der Gaststätte, als sie verschwand.“
„Er könnte einen Komplizen haben“, warf Oliver ein. „Rita Schneider war negativ gegen seinen Club eingestellt, das wäre ein Motiv.“
„Zweifellos ist der Komplize eine Möglichkeit, die wir im Auge behalten sollten.“ Marie war von Till Neumann als Schuldigem nicht überzeugt, doch sie hielt sich an den Grundsatz von Torsten, jeden Gedanken zuzulassen und keine Hypothese zu früh zu verwerfen.
„Eine Beteiligung von Lucas und Jannik halte ich ebenfalls für möglich“, spann Oliver den Faden weiter. „Neumann könnte entweder mit ihnen im Bunde sein oder sie decken.“
„Bei aller Kreativität, findet ihr nicht, das ist jetzt weit über das Ziel hinausgeschossen? Eine Mörderbande, die sich aus Schülern und ihrem Lehrer zusammensetzt?“ Jonas schüttelte den Kopf. „Okay, ich halte den Neumann für nicht ganz sauber. Aber er wird kaum mit Schülern gemeinsame Sache machen.“
„Noch etwas spricht gegen Neumann“, setzte Marie, bestärkt durch den Einwand von Jonas hinzu. „Für den Mord an Antonia Gerlach hat er kein Motiv. Weder er noch einer seiner Schüler war jemals bei ihr in Behandlung. Wir suchen aber nach einem Täter, der für alle Morde verantwortlich ist. Und hier schließe ich den Fall von Juliane Wenzel mit ein, obwohl er zwanzig Jahre zurückliegt. Für mich ist dieser Fall der Schlüssel zu allen anderen. Auch diesem Mädchen versuchte man die Zunge herauszuschneiden. Irgendetwas ist damals an der Schule geschehen und ich will herausfinden, was es war.“
Oliver lehnte sich zurück und grinste. „Wie ich dich kenne, hast du bereits einen Plan.“
„Den habe ich tatsächlich. Ich habe mir angesehen, wer damals schon alles an der Schule unterrichtete. Krekel scheidet für die Befragung erst einmal aus, er zeigt sich nicht kooperativ. Außerdem verheimlicht er etwas, nämlich den Grund, weshalb er damals als Direktor zurücktrat. Vielversprechender erscheint mir da Eva Schlüter, die Lehrerin, die die Hand von Rita Schneider in ihrem Auto gefunden hat.“
„Ausgerechnet diese Frau?“ Oliver riss mit gespieltem Entsetzen die Augen auf. „Die überzieht uns mit Beschwerden, weil wir sie nicht schützen würden. Offenbar erwartet sie, dass wir das SEK vor ihrem Haus postieren. Sie wird sich bestimmt nicht freuen, wenn wir bei ihr aufkreuzen.“
„Wenn du bei deinem Erscheinen Begeisterungsstürme erleben willst, dann hättest du Popstar und nicht Kriminalist werden sollen.“ Jonas erhob sich. „Aber keine Sorge, ich erspare dir die Demütigung und begleite Marie.“
Bevor Oliver protestieren konnte, hatte Marie schon zugestimmt.