53.
Oliver fiel vor Schreck beinahe das Teesieb aus der Hand. Er drehte sich zu Marie um und riss die Augen weit auf. „Du meinst, wir sollen jetzt sämtliche Heimzöglinge der vergangenen 20 Jahre ausfindig machen und überprüfen? Jeden, der mit dem getöteten Erzieher zu tun hatte?“
„Genau das werden wir tun. Was den Zeitraum angeht, werden wir sogar noch weiter zurückgehen müssen. Der Mann war seit 25 Jahren in dem Heim tätig.“ Marie klopfte zur Unterstreichung ihrer Worte mit dem Kugelschreiber auf die Tischplatte.
„Eventuell gibt es ja eine Möglichkeit das Suchfeld einzuschränken und sich zuerst auf die aussichtsreichsten Fälle zu konzentrieren.“ Jonas, der neben Marie am Besprechungstisch saß, klappte seinen Notizblock auf. „Auf Kinder und Jugendliche, die durch besonders aggressives Verhalten aufgefallen sind oder die Konflikte mit dem Erzieher hatten. Wie hieß er übrigens?“
„Peter Hartwig“, erwiderte Marie. „Er war 58 Jahre alt, wollte demnächst vorzeitig in Rente gehen. Seine Kollegen sollen darüber nicht allzu traurig gewesen sein. Ihren Aussagen nach ist Hartwig häufig durch unbeherrschtes Verhalten den Zöglingen gegenüber aufgefallen. Demnach dürften viele von ihnen Konflikte mit ihm gehabt haben, das bringt uns leider nicht weiter. Trotzdem müssen wir irgendwo anfangen, eine Eingrenzung wäre nicht schlecht. Was meinst du Oliver?“
Sie schaute zu ihrem Kollegen hinüber, der wie gebannt auf die Sanduhr in seiner Hand starrte. „Kommst du bitte zu uns rüber, wenn du mit deiner Teezeremonie fertig bist?“
„Bin schon unterwegs, Boss.“
Jonas rümpfte die Nase, als Oliver mit der Teekanne an ihm vorbeiging. „Was hast du denn da aufgebrüht? Eselsdisteln?“
„Das ist erstklassiger Jasmintee, du Banause. Der belebt den Körper und klärt den Geist.“ Oliver rollte empört mit den Augen.
„Dann lass mal hören, wie du vorgehen würdest, du reiner Geist.“
„Also.“ Oliver setzte sich neben Marie, lehnte sich zurück und zog ein nachdenkliches Gesicht. „Wir verfolgen die Hypothese, es könnte sich um einen Anhänger der Indigo-Theorie handeln, also um jemanden, der sich selbst als ein Indigo-Kind sieht. Dann suchen wir nach einem Jungen mit überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten.“
„Stopp, Einspruch!“ Jonas hob die Hand. „Woran willst du das denn festmachen? Jemand, der sich selbst als intelligent einschätzt, muss es deshalb noch lange nicht sein. Dazu gibt es sogar wissenschaftliche Untersuchungen. Die meisten Menschen schätzen sich als wesentlich klüger und attraktiver ein, als sie in Wirklichkeit sind. Jeder Depp kann sich für einen Indigo halten.“
„Da muss ich Jonas recht geben.“ Marie zog einen Hefter zu sich heran und schlug ihn auf. „Ich habe noch eine andere Idee. Wir sollten uns auf besonders gewaltbereite Jugendliche konzentrieren.“
Oliver runzelte die Stirn. „Marie, das ist ein Heim für verhaltensauffällige Kinder. Da dürfte jeder Zweite gewaltbereit sein. Wenn das ausreicht.“
Marie ließ sich nicht beirren. „Die Kollegen in Hessen haben sehr gute Vorarbeit geleistet. Die Unterlagen des Heimes wurden vorbildlich geführt, eine vollständige Liste der dort betreuten Kinder zu erstellen, war daher kein Problem. Darüber hinaus haben sie mithilfe der Erzieher und der Akten noch Anmerkungen hinzugefügt, zum Beispiel, ob es besondere Vorkommnisse während des Heimaufenthaltes gab. Wir sollten die Listen durchgehen und nach Anhaltspunkten suchen.“
„Gute Idee“, stimmte Jonas ihr zu. „Bevor wir mit dieser Fleißarbeit beginnen, mache ich uns beiden aber schnell einen Kaffee. Sonst ist Oliver uns mit seinem Tee geistig zu weit voraus.“
Jonas stand auf und kurz darauf erfüllte das asthmatische Röcheln der altersschwachen Kaffeemaschine den Raum. Marie teilte inzwischen die Bögen aus, beginnend mit den frühesten Jahrgängen. „Jeder bearbeitet erst einmal einen Jahrgang und schaut nach Auffälligkeiten“, legte sie fest.
„Was ist eine Auffälligkeit?“ Oliver konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. „Das hier zum Beispiel: Kevin und Burghardt ließen wiederholt die Schweine eines benachbarten Bauern frei, um anschließend darauf zu reiten?“
„Eher nicht, auch nicht die Kletten in den Betten der Erzieher.“ Marie war offensichtlich nicht nach Scherzen zumute. „Aber das hier ist interessant. Ein Junge lauerte einem anderen auf und verletzte ihn erheblich, indem er ihm einen Stein an den Kopf schlug. Den notiere ich mal.“
Sie arbeiteten schweigend weiter, bis Jonas plötzlich einen lauten Pfiff ausstieß.
Oliver und Marie schauten gleichzeitig auf. „Was ist, hast du was gefunden?“
„Könnte sein, hier kommt mir ein Name bekannt vor, auch altersmäßig könnte es hinkommen.“
Er schob die Liste zu Marie hinüber. „Oder irre ich mich?“
„Warte mal.“ Marie lief zu ihrem Schreibtisch hinüber und schlug eine Akte auf. Schnell blätterte sie die Seiten durch. „Stimmt“, sagte sie, „es kann sich natürlich immer noch um eine zufällige Namensgleichheit handeln.“
Jonas hatte sich bereits an seinen Computer gesetzt. „Das werden wir ganz schnell klären, wenn er es ist, werden wir ihn umgehend aufsuchen.“