59.
Daheim in ihrer Wohnung ließ sich Merle das merkwürdige Gespräch mit Eva Schlüter noch einmal durch den Kopf gehen. Mit ihren düsteren Andeutungen war es der Kollegin gelungen, ihr Angst einzujagen. Gleichzeitig war sie verärgert. Wenn Eva Schlüter tatsächlich etwas wusste, warum sprach sie es dann nicht deutlich aus? Weshalb ging sie mit ihrem Wissen nicht zur Polizei? Durfte man diese Frau überhaupt ernst nehmen? Sie hatte doch ständig irgendwelche Schauergeschichten auf Lager, mit denen sie sich im Grunde nur wichtigmachen wollte. Trotz dieser vernünftigen Überlegungen konnte Merle das ungute Gefühl, das sie befallen hatte, nicht ganz verscheuchen. Sie zuckte heftig zusammen, als es plötzlich an der Tür klingelte.
Auf Strümpfen lief sie leise durch den Flur und lauschte angestrengt hinter der Tür. Sie hörte Stimmengemurmel. „Wer ist da?“, rief sie, ohne die Tür zu öffnen.
„Merle, ich bin es, Silke. Machst du bitte auf?“
Erleichtert öffnete Merle. Silke war nicht allein, hinter ihr stand Malte, ein breites Grinsen im Gesicht. „Überraschung! Ich bin auch da und habe dir was mitgebracht.“
Verblüfft trat Merle einen Schritt zurück und ließ die beiden eintreten.
Silke redete sofort drauflos. „Weißt du, ich habe mir Gedanken wegen deines Fensters gemacht, das nicht richtig schließt. Malte hatte eine Idee, wie man es sichern kann und er war gleich bereit, das zu erledigen. Du nimmst uns den Überfall hoffentlich nicht übel. Aber du wirst dich bestimmt besser fühlen, wenn das in Ordnung gebracht ist.“
Silke wirkte eifrig und zugleich ein wenig unsicher. Es fiel Merle nicht schwer, sie zu durchschauen. Die Freundin hatte in schlechtes Gewissen, weil sie sich zu Merles Schilderungen ihrer nächtlichen Erlebnisse skeptisch geäußert hatte. Nun wollte sie die dadurch entstandene Verstimmung aus der Welt schaffen und hatte Malte für ihre Zwecke eingespannt.
„Kann ich mir das Fenster mal ansehen?“, fragte er. Merle öffnete ihm die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Während er am Fenster hantierte, fragte Merle, ob sie Kaffee machen solle. Silke stimmte sofort zu, Malte meldete ebenfalls Interesse an. „Das mit dem Fenster geht schnell“, sagte er.
Tatsächlich war er schon fertig, als Merle mit dem Kaffee aus der Küche kam. Er zeigte ihr ein kleines weißes Kästchen oben am Fensterrahmen. „Das ist ein einfacher Fensteralarm“, sagte er. „Sobald das Fenster geöffnet wird, geht eine Sirene los. Die ist so laut, dass sie jeden Einbrecher in die Flucht schlägt. Ich mache es mal vor, nicht erschrecken.“ Er öffnete das Fenster und ein ohrenbetäubender Signalton schrillte durch den Raum. Merle verzog erschrocken das Gesicht und Malte lachte. Er schloss das Fenster und der Ton verstummte. „Wenn du lüften willst, kannst du den Ton hier abschalten.“ Er zeigte es ihr. „Aber nicht vergessen, hinterher wieder einzuschalten. Das Fenster selbst ist zwar eine primitive Konstruktion und nicht einbruchssicher. Von allein aufgehen kann es aber nicht, vorausgesetzt, du drückst es beim Schließen fest zu und drehst den Knebel vollständig um.“ Merle verspürte ein Kribbeln im Nacken. Sie hatte es gewusst, das Fenster konnte nicht von allein aufgegangen sein. Silke stand in der Tür, auch sie hatte den letzten Satz gehört.
„Kommt ihr?“, sagte sie. „Der Kaffee wird sonst kalt.“ Merle hatte das Gefühl, sie wollte ablenken.
Malte winkte ab, als sie ihn fragte, was sie ihm schuldig wäre. „Das regeln wir später“, sagte er.
Merle goss ihm und Silke Kaffee ein, für sich selbst holte sie ein Wasser aus der Küche.
„Nanu, trinkst du keinen Kaffee?“, wunderte sich Silke.
Merle schüttelte den Kopf. „Ich hatte heute Nachmittag schon welchen, das wird mir zu viel. Ihr erratet nicht, mit wem ich den getrunken habe.“
„Mit George Clooney?“ Malte zog fragend eine Augenbraue hoch, während er seine Tasse zum Mund führte.
„Das wäre sicher die angenehmere Gesellschaft gewesen.“ Merle seufzte. „Eva Schlüter hat mich unterwegs abgepasst und hatte offenbar das dringende Bedürfnis, sich auszusprechen. Ich konnte ihr das schlecht abschlagen.“
„Die Schlüter? Sieh mal an, der ist wohl mächtig langweilig zu Hause?“ Silke verdrehte die Augen. „Es wird Zeit, dass sie wieder in der Schule auftaucht, so unterbesetzt wie wir sind. Es scheint ihr schließlich schon wieder recht gut zu gehen, wenn sie dich sogar zum Kaffeetrinken eingeladen hat.“
„Mag sein, aber in die Schule wird sie auf keinen Fall so bald zurückkehren, das hat sie mir versichert. Sie ist sich nämlich sicher, dass dort ein Mörder sein Unwesen treibt und hat sogar angedeutet, zu wissen, wer es ist.“
„Ist das ihr Ernst?“ Malte schüttelte fassungslos den Kopf.
„Und wer ist es ihrer Meinung nach?“, fragte Silke.
Merle zuckte mit den Schultern. „Das hat sie natürlich nicht gesagt. Nur so komische Andeutungen gemacht, aus denen ich nicht richtig schlau geworden bin. Es würde mit Rita Schneider zusammenhängen. Der Täter nimmt Rache für etwas und er wäre jetzt wieder aufgetaucht.“
„Das ist doch dummes Geschwätz.“ Silke wollte entschieden klingen, doch ihre Stimme zitterte. „Lass dich von so etwas nicht irre machen. Ich muss jetzt leider los, tut mir leid.“
Sie erhob sich und Malte ebenfalls. Merle brachte die beiden zur Tür. Als sie zurück ins Zimmer kam, sah sie, dass Silke ihren Kaffee nicht ausgetrunken hatte. Sie schob die Gardine ein Stück beiseite und schaute hinaus auf die Straße. Von Malte war nichts mehr zu sehen, doch Silke stand da und schien auf jemanden zu warten. Unmittelbar darauf hielt ein blauer VW neben ihr, den Merle als den von Till Neumann erkannte. Silke stieg ein, Merle sah sie aufgeregt gestikulieren. Dann setzte sich der Wagen mit den beiden in Bewegung und verschwand aus ihrem Blickfeld. Merle kam das merkwürdig vor. Weshalb hatte Silke nicht erwähnt, dass sie mit Till verabredet war? Weil zwischen ihm und Merle noch immer Eiszeit herrschte? Obwohl es warm im Zimmer war, überlief sie ein Frösteln. Merle fürchtete sich vor der kommenden Nacht. Daran konnte auch der neue Fensteralarm nichts ändern.