60.
Marie musste nicht erst aus dem Fenster schauen, um zu wissen, wie das Wetter war. Ihr Kater Luzifer, der sich in den vergangenen Nächten draußen herumgetrieben hatte, lag eng zusammengerollt auf ihren Beinen. Auf die ungewöhnlich warmen Tage der vergangenen Wochen war ein heftiger Temperatursturz gefolgt. Marie hörte den Regen gegen die Scheiben trommeln. Auch das noch, da würde sie nicht mit dem Rad zum Dienst fahren können. Sie hatte keine Lust, klatschnass dort anzukommen. Luzifer blinzelte müde und gab ein empörtes Maunzen von sich, als sein Frauchen sich schwungvoll aus dem Bett erhob. Marie musste sich beeilen, um rechtzeitig zur Bushaltestelle zu kommen. Das Frühstück musste deshalb ausfallen, mit dem Regenschirm bewaffnet verließ sie früher als sonst das Haus. Es war eine gute Entscheidung gewesen, denn der Regen verstärkte sich noch. Jonas war schon vor ihr im Büro, von seiner braunen Lederjacke tropfte das Wasser, feuchte Haarsträhnen klebten auf seiner Stirn.
„Bist du etwa bei dem Wetter mit dem Motorrad gekommen?“, fragte Marie.
„Warum denn nicht? Ist doch nur ein bisschen Wasser.“ Jonas feixte.
Unmittelbar darauf kam auch Oliver zur Tür herein und schüttelte einen großen schwarzen Regenschirm aus. „So ein Sauwetter!“, schimpfte er. Immerhin war er trocken geblieben. Jonas schien zu einer Stichelei ansetzen zu wollen, doch Marie verhinderte das.
„Wir haben keine Zeit für Gespräche über das Wetter“, sagte sie. „Ich war gestern bei Bruno Hörstel und muss unbedingt mit euch darüber reden. Mit Torsten natürlich auch, ist er noch nicht da?“
Jonas schüttelte den Kopf. „Er hat wieder Beschwerden mit seinem Ischias, wollte noch beim Arzt vorbei und sich eine Spritze geben lassen. Wir sollten schon mal anfangen.“
„Also gut“, stimmte Marie zu. Sie setzte sich an den Tisch und die beiden Männer folgten ihrem Beispiel.
„Welchen Eindruck hattest du denn von Hörstel?“, fragte Oliver. „War von ihm überhaupt etwas Hilfreiches zu erfahren?“
„Jetzt warte mal ab, das kann ich nicht in einem Satz beantworten. Ich erzähle am besten der Reihe nach, wie es abgelaufen ist.“ Marie sprach langsam und konzentriert, versuchte sich an jedes Detail zu erinnern. Als sie über ihre Verletzung und die Reaktion von Bruno Hörstel darauf berichtete, sog Jonas scharf die Luft ein. Marie sprach einfach weiter.
„Sein letzter Satz war: Hat er gemacht. Versteht ihr, was das bedeutet? Der Anblick des Blutes hat ihn an etwas erinnert, ich glaube an den Mord an Juliane Wenzel. Daraufhin hat er mechanisch wiederholt, was ihm damals eingebläut worden war: Hab ich gemacht. Das war die Bedingung dafür, die Gürteltasche des Mädchens behalten zu dürfen. Gestern habe ich ihm eine kitschige Puderdose geschenkt. Er hatte Angst, ich könnte sie ihm wieder wegnehmen. Deshalb wiederholte er wie ein Mantra: Hab ich gemacht. Als ich ihm versicherte, er dürfe das Geschenk auf jeden Fall behalten und er hätte auch keine Schuld an meiner Verletzung, da sagte er diesen Satz: Hat er gemacht. Aber da war in der aktuellen Situation niemand, auf den sich das beziehen konnte. Bruno Hörstel hat den Mörder von Juliane gemeint, da bin ich mir ganz sicher. Verdammt, ich war so nah dran.“
Jonas legte seine Hand auf ihre. Er bemerkte das Pflaster auf ihrem Handballen und strich behutsam mit einem Finger darüber. „Ich finde deine Schlussfolgerungen absolut nachvollziehbar. Doch es reicht einfach nicht aus. Niemand würde daraufhin den Fall neu aufrollen.“
„Ich weiß.“ Marie zupfte an ihrem Pflaster, es löste sich an einer Ecke bereits. „Wenn wir nicht unterbrochen worden wären, hätte ich ihm vielleicht einen Namen entlocken können.“
„Auch das hätte vermutlich nichts genützt. Hörstel ist geistig behindert und leicht zu manipulieren. Seine Aussage hätte kaum Gewicht.“
„Da muss ich Jonas leider zustimmen“, sagte Oliver. „Sei nicht enttäuscht, wir behalten die Zweifel an Hörstels Täterschaft auf jeden Fall im Hinterkopf. Hast du schon gefrühstückt?“
Marie schüttelte den Kopf. „Dachte ich mir.“ Oliver zog eine braune Papiertüte aus einem Beutel. „Frische Brötchen. Ich habe nämlich auch noch nicht gefrühstückt und Jonas sowieso nicht. Wir sollten uns erst mal stärken.“
„Ich fürchte, das werdet ihr verschieben müssen.“ Sie hatten Torsten nicht hereinkommen gehört. Er bewegte sich vorsichtiger als sonst, doch man musste ihn gut kennen, um zu bemerken, dass er noch Schmerzen hatte. „Ihr müsst gleich zu einem Einsatz, wir haben eine Leiche.“
„Okay.“ Oliver legte die Tüte resigniert ab, nicht ohne noch einen bedauernden Blick darauf zu werfen. „Weißt du schon Näheres? Handelt es sich um einen Unfall oder um einen Suizid aufgrund der miesen Wetterlage?“
Torsten ging nicht auf den lockeren Tonfall ein. „Alles ist möglich, auch ein Tötungsdelikt würde ich nicht ausschließen. Wir sollten das sehr gründlich prüfen. Denn die Tote hat am Einstein-Gymnasium unterrichtet.“