62.
Marie lief im Büro hin und her, während sie unaufhörlich redete. Wenn sie aufgeregt war, konnte sie nicht stillsitzen.
„Jetzt komm mal hier zu uns an den Tisch, du machst uns alle ganz nervös.“ Oliver klopfte auf den Stuhl neben sich. „Es ist ein Desaster, aber es ist nicht unser Versagen. Vor allem ist es nicht deine Schuld.“
„Trotzdem mache ich mir Vorwürfe.“ Marie setzte sich zu ihren Kollegen, redete aber weiter. „Ich war die Erste, die mit Eva Schlüter gesprochen hat, gleich damals auf dem Schulhof, als sie im Krankenwagen lag. Sie hatte Angst, wollte Polizeischutz. Ich hätte das ernster nehmen sollen.“
Oliver schüttelte den Kopf. „Die Frau war völlig durch den Wind, weil sie gerade die Hand von Rita Schneider in ihrem Auto gefunden hatte. Klar hatte sie Angst, nur konnte sie die nicht konkret begründen. Der Täter hatte ihr Auto aus taktischen Gründen als Ablageort gewählt, darüber waren wir uns alle einig. Es bedeutete keine Drohung gegen Eva Schlüter und damit keine konkrete Gefahr für ihre Person.“
Marie wirkte noch immer nicht überzeugt, weshalb sich Torsten einmischte. „Wir alle müssen uns höchstens vorwerfen, die kriminelle Energie des Täters unterschätzt zu haben. Niemand konnte das mit Eva Schlüter voraussehen. Mir ist die Frau noch immer ein Rätsel. Sie hat sogar mehrmals schriftlich Polizeischutz eingefordert, aber nie einen konkreten Verdacht geäußert, wer sie bedrohen könnte. Auf alle, die über ihre Anträge zu entscheiden hatten, wirkte sie wie eine Hysterikerin, die sich wichtigmachen wollte. Sie schien nicht gefährdeter zu sein als alle Schüler und Lehrkräfte des Einstein-Gymnasiums. Wir konnten schließlich nicht jeden Einzelnen unter Polizeischutz stellen.“
„Wie geht es am Gymnasium eigentlich weiter?“, wollte Jonas wissen.
Torsten war bereits darüber informiert. „Es wird für mindestens eine Woche keinen Unterricht geben“, sagte er. „Sie nennen es Projektwoche, die Schüler sollen daheim selbständig Themen erarbeiten. Wie es danach weitergeht, weiß niemand. Der gesamte Lehrkörper steht unter Schock. Solange der Fall nicht geklärt ist, wird sich daran nichts ändern. Also an die Arbeit. Wer berichtet zuerst?“
„Ich.“ Marie räusperte sich. „Meurer hat mich vorhin angerufen.“ Oliver konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dr. Meurer müsste eigentlich Torsten, dem Leiter der Dienststelle und der SOKO Indigo, zuerst berichten. Doch er nahm jede Möglichkeit wahr, mit Marie in Kontakt zu treten. „Obwohl einige Ergebnisse noch ausstehen, konnte er schon mal das Wesentliche zusammenfassen. Eva Schlüter wurde mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen. Sie hat dabei eine Hirnblutung erlitten, die unbehandelt ebenfalls nach einigen Stunden zu ihrem Tode geführt hätte. Die Todesursache war jedoch Ersticken. Der Tathergang dürfte so gewesen sein, wie wir es bereits vermutet hatten. Der Täter versetzte ihr einen Schlag gegen den Kopf, wodurch sie das Bewusstsein verlor. Danach zog er ihr den Müllbeutel über den Kopf und schnürte ihn zu. Den Todeszeitpunkt legt Meurer zwischen ein Uhr und drei Uhr nachts fest.“
„Danke, das ging schnell.“ Torsten nickte zufrieden.
„Wenn er die Chance sieht, Marie zu beeindrucken, obduziert Meurer sogar nachts“, konnte sich Oliver nicht verkneifen zu bemerken.
„Die Spurensicherung war auch schnell, obwohl Freese garantiert niemanden beeindrucken wollte“, konterte Jonas. Darüber zu berichten, war sein Part. „Auffällig ist das Fehlen von Einbruchsspuren, Eva Schlüter muss ihren Mörder in die Wohnung gelassen haben. Demnach dürfte sie ihn gut gekannt haben, wenn sie zur nächtlichen Stunde und nur mit einem Nachthemd bekleidet die Tür geöffnet hat.“ Jonas schaute beim letzten Satz Marie an, er dachte an ihre Bemerkung bezüglich des Nachthemdes. „Sehr gut gekannt“, setzt er hinzu. „Fingerabdrücke und DNA-Spuren müssen erst ausgewertet werden, aber ich wette, die stammen ausnahmslos von dem tollpatschigen Arzt, von dem sie schon Vergleichsproben genommen haben. Der Täter hat noch nie Spuren hinterlassen.“
„Du gehst einfach davon aus, es wäre wieder der gleiche Täter gewesen.“ Oliver wirkte skeptisch. „Ich wäre da nicht so sicher. Die Vorgehensweise ist in diesem Falle eine andere. Mit seinen früheren Taten hat der Täter förmlich geprahlt. Er hat die Opfer verstümmelt und einzelne Körperteile anschließend wirksam zur Schau gestellt. Er hat Zeichen hinterlassen: das blaue Kreuz, das Rorschach-Bild und die Hortensie. Als wollte er sagen: Seht wer ich bin und was ich kann! Ganz anders diesmal, da täuschte er einen Suizid vor.“
„Er hat ihn stümperhaft vorgetäuscht, das Hämatom war nicht zu übersehen“, warf Marie ein.
„Für dich nicht, aber für den Arzt schon.“ Jonas zog eine Grimasse. „Wir wissen alle, wie oberflächlich die Leichenschau oft durchgeführt wird. Da kann einer drei Messer im Rücken stecken haben, aber der Arzt dreht ihn nicht mal um und bescheinigt einen natürlichen Tod durch Herzversagen. Es hätte auch bei Eva Schlüter ohne Weiteres klappen können.“
„Na schön, aber muss es deshalb ein anderer Täter gewesen sein?“, überlegte Marie. „Ich denke, er hat diesmal einfach aus einem anderen Motiv heraus gehandelt. Bei seinen bisherigen Taten ging es um Rache, die als solche erkennbar sein sollte. Eva Schlüter passt nicht in dieses Schema. Sie könnte eine lästige Zeugin gewesen sein, die er beseitigen musste. Was, wenn ihre Angst sehr reale Gründe hatte? Wenn sie dem Täter zu nahegekommen war? Das sollten wir herausfinden.“
„Gute Idee, Marie.“ Torsten nickte anerkennend. „Hast du schon einen Plan?“
„Ja, ich will noch einmal zu Frau Schirner fahren, der Hausbewohnerin, die Eva Schlüter gefunden hat. Gestern war sie einfach zu durcheinander. Von ihr hoffe ich etwas über die Kontakte von Eva Schlüter zu erfahren. Wenn du einverstanden bist, will ich gleich los.“
„In Ordnung, nimm Jonas mit.“
„Und was machen wir in der Zeit?“, fragte Oliver.
Torsten erhob sich. „Wir zwei gehen jetzt rüber zu den Kollegen, bringen sie auf den neusten Stand und hören uns an, was sie inzwischen herausgefunden haben.“