65.
Der Vater von Juliane Wenzel lebte mit seiner neuen Familie in Wittstock. Die Fahrt von der Polizeidirektion bis dorthin dauerte nur gut eine halbe Stunde. Das Haus der Wenzels lag in einer ruhigen Seitenstraße und machte einen gepflegten Eindruck. Auf ihr Klingeln öffnete ihnen ein hochaufgeschossener, pickliger Jugendlicher mit einer Brille.
„Liebig, und das ist mein Kollege Oliver Kral“, stellte Marie sich vor. „Wir sind mit Ihrem Vater verabredet.“
Der junge Mann nickte und ließ sie eintreten. Im Flur stießen sie auf einen grauhaarigen, fülligen Mann und eine exakte Kopie des Jungen, der ihnen geöffnet hatte. Robert Wenzel, der jetzt Ende fünfzig sein musste, hatte nach dem Verlust seiner einzigen Tochter und der Scheidung von deren Mutter erneut geheiratet. Und er war Vater von Zwillingen geworden.
„Hier entlang, bitte.“ Er führte Marie und Oliver in einen kleinen Raum, der ihm vermutlich als Arbeitszimmer diente. Möbliert war er lediglich mit einem Schreibtisch und einem Bücherregal, das die gesamte Länge des Zimmers einnahm. Die vier Stühle, die einen kleinen Beistelltisch umgaben, wirkten deplatziert. Sie waren für den Tisch zu hoch und harmonierten farblich nicht mit dem Rest der Einrichtung. Robert Wenzel schien sie in Erwartung der Kriminalisten dazugestellt zu haben.
Nachdem er mit ihnen dort Platz genommen hatte, knetete er nervös seine Hände.
„Sie haben angedeutet, es ginge um Juliane“, sagte er. „Ich verstehe das ehrlich gesagt nicht. Natürlich habe ich gehört, dass wieder eine Schülerin des Einstein-Gymnasiums ermordet wurde. Aber es kann doch unmöglich der gleiche Täter gewesen sein, der ist doch in sicherem Gewahrsam. So haben das auch die Zeitungen berichtet.“
Marie nickte. „Das ist richtig. Aber nicht nur eine Schülerin ist ums Leben gekommen, sondern auch eine Lehrerin, Rita Schneider. Sie unterrichtete schon damals, als ihre Tochter auf dem Gymnasium war. Wir versuchen, uns ein genaueres Bild von dieser Lehrerin zu machen. Deshalb sind wir hier. Es gab damals nämlich einen Vorfall, an dem diese Lehrerin und indirekt auch ihre Tochter beteiligt gewesen sein sollen.“
Robert Wenzel runzelte die Stirn, sein Blick drückte Unverständnis aus. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Juliane ist seit zwanzig Jahren tot. In dieser Zeit habe ich gelernt zu vergessen, nicht Juliane, aber all die Umstände, die zu ihrem Tod geführt haben. Die erste Zeit war furchtbar, ich habe nur gegrübelt, was hätte anders laufen können. Wie ich es hätte verhindern können. Es war ein langer Prozess, bis ich akzeptieren konnte, dass Juliane einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist. Und ein noch längerer, bis ich bereit war, neu anzufangen. Julianes Mutter war es leider nicht, das war sehr schmerzlich für uns beide. Wir haben uns aneinander aufgerieben und die Trennung war der einzige Ausweg. Jetzt habe ich wieder eine Familie, mit der ich glücklich bin. Ich will all das Dunkle aus meinem früheren Leben von ihr fernhalten.“
„Das kann ich gut verstehen, Herr Wenzel.“ Marie schaute ihm in die Augen und sah die Trauer darin. Sie hatte sie schon öfter bei Eltern gesehen, die ein Kind verloren hatten und sie wusste, sie hört nie auf. Robert Wenzel versuchte sein früheres Leben konsequent von seinem neuen zu trennen, sogar räumlich. Deshalb saßen sie jetzt an diesem unbequemen Tisch und stießen mit den Knien an die Tischplatte. So sehr sie seine Gefühle verstand, musste sie ihn doch dazu bringen, sich zu erinnern.
„Ich weiß, zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Trotzdem bleiben manche Dinge im Gedächtnis. Rita Schneider wurde damals beschuldigt, einen Diebstahl begangen zu haben. So etwas sorgt bei den Schülern für Aufsehen. Hat Juliane nicht darüber geredet?“
„Ach das.“ Es klang wegwerfend. Einen Moment lang schien er mit sich zu ringen, dann ließ er die Erinnerung zu. „Ja, Juliane hat mit uns, also mit mir und meiner Frau darüber geredet. Sie hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie wollte aber auch keine Petze sein. Deshalb hat sie uns gefragt, ob es richtig ist, ihre Beobachtung mitzuteilen. Wir haben ihr zugeraten, sie sollte die Wahrheit sagen. Das hat sie dann gemacht.“
„Sie hat gesehen, wie Frau Schneider das Geld genommen hat?“, fragte Marie.
Robert Wenzel schaute sie verwirrt an. „Wieso Frau Schneider? Das war doch dieser Junge. Juliane hat gesehen, wie er sich ins Lehrerzimmer geschlichen hat. Es war während der Unterrichtszeit, das Zimmer war abgeschlossen und die Flure leer. Juliane hatte sich verspätet, sie hatte sich beim Sportunterricht verletzt und war noch verarztet worden. Auf dem Weg zu ihrem Klassenzimmer sah sie, wie sich der Junge am Schloss des Lehrerzimmers zu schaffen machte und dann reinhuschte. Sie ist in ihre Klasse gegangen und hätte nichts gesagt, wenn nicht plötzlich von der offenen Tür und dem gestohlenen Geld die Rede gewesen wäre.“
Marie und Jonas sahen sich überrascht an, das war eine neue Wendung. „Aber was hatte Rita Schneider damit zu tun?“, fragte Marie.
„Eigentlich nichts.“ Robert Wenzel zuckte die Schultern. „Als der Junge sich ertappt sah, hat er wohl die Lehrerin beschuldigt. Sie wäre nach ihm ins Zimmer gekommen, worauf er sich versteckt haben will. Er hätte gesehen, wie sie das Geld an sich genommen hat. Das war natürlich eine Ausrede, niemand hat ihm geglaubt.“
„Wissen Sie auch den Namen des Jungen?“
Mit einer ratlosen Geste breitete Robert Wenzel die Hände aus. „Da bin ich nun wirklich überfragt. Er wurde danach wohl von der Schule verwiesen. Ein Wunder, dass mir die Sache überhaupt wieder eingefallen ist. Nach allem, was danach passierte, war nichts anderes mehr von Belang.“ Da war sie wieder, die Trauer in seinen Augen.