70.
Ihre Eile zahlte sich immerhin aus. Als sie die Listen des Brüder-Grimm-Heimes noch einmal durchgingen, stießen sie sehr schnell auf Jakob Schmidt. Er und Malte Berger waren zur gleichen Zeit dort gewesen. Während Malte nach einem mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt, bei dem seine Brandwunden behandelt wurden, in ein anderes Heim kam, blieb Jakob bis zu seinem 16. Lebensjahr dort. Danach war er in eine Wohngruppe umgezogen.
„Und wie ging es danach mit ihm weiter?“, fragte Oliver.
„Kein Problem, das werden wir gleich wissen. Schließlich verfügen wir dank der Heimunterlagen über seine wichtigsten Daten.“ Jonas saß bereits am Computer und tippte eifrig auf der Tastatur herum. Kurz darauf stieß er einen Pfiff aus. „Na also, hier haben wir ihn schon. Er ist kein unbeschriebenes Blatt, würde ich mal behaupten.“
Marie, Oliver und Torsten bauten sich hinter Jonas auf und starrten auf den Bildschirm. Torsten fingerte nach seiner Brille und konnte sie nicht finden. „Nun lies schon vor“, sagte er ungeduldig.
„In Hessen hielt er sich noch drei Jahre auf“, sagte Jonas. „Danach lebte er für fünf Jahre wieder in Neuruppin. Dort heiratete er mit 20 Roswitha Reimer, die Ehe wurde nach drei Jahren geschieden. Es folgten häufige Wechsel des Wohnortes, aktuell ist er in Saalfeld in Thüringen gemeldet. Er hat ein ansehnliches Vorstrafenregister, mehrfach wegen Fahrens ohne Führerschein, wegen häuslicher Gewalt gegen die Ehefrau und Verletzung der Unterhaltspflicht für seinen Sohn Lucas. Zuletzt zwei Anzeigen wegen Hehlerei.“
„Lucas Schmidt ist tatsächlich sein Sohn“, sagte Marie leise. „Ich habe es geahnt.“
Torsten interessierte sich für die letzten beiden Anzeigen wegen Hehlerei. „Wo wurden die aufgenommen?“, wollte er von Jonas wissen.
„In Saalfeld, an seinem aktuellen Wohnort. Offenbar arbeitet er da in einem Computerladen, Verkauf, Reparatur, das ganze Programm. Angeblich sollen er und sein Mitinhaber gestohlene Geräte vertickt haben, aber man konnte ihnen nicht nachweisen, dass sie die Herkunft nicht kannten.“
Jonas drehte sich auf dem Stuhl zu seinen Kollegen um. „Auf einmal ergibt alles einen Sinn, nicht wahr? Jakob Schmidt, ein begabter, aber unangepasster Junge fliegt wegen eines angeblich begangenen Diebstahls von der Schule und kommt ins Heim. Er freundet sich dort mit Malte Berger an, sie bleiben in Kontakt, nachdem Malte durch die Misshandlung eines Erziehers fast zu Tode gekommen war. Als Erwachsene starten sie gemeinsam einen Rachefeldzug. Jakob Schmidt tötet den Erzieher Peter Hartwig, dadurch hat Malte Berger ein Alibi. Danach rächt er sich an der Lehrerin, die den ihm angelasteten Diebstahl tatsächlich begangen hat und an der Ärztin, die ihn mit Ritalin behandelte. Möglicherweise hat Malte Berger ihm dabei geholfen.“
„Das waren vermutlich nicht die ersten Morde, die Jakob Schmidt begangen hat“, warf Marie ein. „Ich nehme an, er war es, der Juliane Wenzel umbrachte, das Mädchen, das mit seiner Aussage den Verdacht auf ihn lenkte. Als sich sein Schicksal jetzt an seinem Sohn wiederholte, tötete er Lea Sommer, in der er eine Verräterin sah, auf die gleiche Weise wie damals Juliane. Eva Schlüter tötete er, weil er glaubte, sie wäre ihm auf die Spur gekommen.“
„Stopp mal!“ Jonas griff sich an den Kopf. „Weil sich die Ereignisse auf einmal derart überschlagen, habt ihr beide, Oliver und Du, noch gar nicht mitbekommen, was bei meinem Gespräch mit Marion Steinbeck rausgekommen ist. Eva Schlüter hatte ihr tatsächlich anvertraut, wen sie verdächtig, und zwar ihren Kollegen Reinhard Krekel. Jakob Schmidt hatte sie überhaupt nicht auf dem Schirm. Es war völlig sinnlos, sie aus dem Weg zu räumen.“
„Sie hat doch gesagt, er wäre wieder aufgetaucht?“ Marie schaute Jonas fragend an.
„Ja, genau. Damit wollte sie nur ausdrücken, Krekel wäre aus dem Krankenstand an die Schule zurückgekehrt.“
Marie musste schlucken. „Das macht den Tod von Eva Schlüter noch tragischer“, sagte sie leise. „Aber es ändert nichts daran, dass Schmidt sechs Menschen auf dem Gewissen haben dürfte.“
„Jetzt mal langsam und der Reihe nach.“ Torsten hatte seine Brille endlich gefunden und putzte sie umständlich. „Das werden wir alles akribisch beweisen müssen. Aber erst einmal müssen wir Jakob Schmidt finden.“
„Was schlägst du vor? Amtshilfeersuchen nach Thüringen?“, fragte Jonas.
„Nein, das dauert doch alles viel zu lange. Lasst es mich mal auf die ganz unkonventionelle Tour versuchen.“ Marie war zapplig vor Ungeduld, sie nestelte nervös an ihren Haaren. „Ich rufe jetzt in dem Computerladen an.“
Torsten zögerte kurz, stimmte dann aber zu. „Sag nicht, dass du von der Polizei bist, das könnte ihn warnen.“
„Hatte ich nicht vor.“ Sie wählte bereits die Nummer und tatsächlich meldete sich jemand. Marie drückte auf die Lautsprechertaste, damit alle mithören konnten.
„Guten Tag, kann ich bitte Jakob Schmidt sprechen?“
„Nein, der ist nicht da. Kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Eine noch junge, männliche Stimme.
„Leider nicht, es handelt sich um etwas Privates.“ Wenn Marie wollte, konnte sie nicht nur mädchenhaft naiv aussehen, sondern auch ihre Stimme entsprechend klingen lassen.
„Verstehe.“ Der Mann klang amüsiert.
„Seit wann ist Jakob denn schon weg und wann kommt er wieder?“
„Das weiß ich nicht genau. Sein Vater liegt im Sterben, er wird wohl bis zum Ende bei ihm bleiben. Wann das sein wird, kann natürlich niemand voraussagen.“
„Nein, natürlich nicht. Vielen Dank.“ Marie legte auf, bevor er sie nach ihrem Namen fragen konnte.
„Na, super. Sein Vater ist seit Jahren tot. Entweder hat er seinem Mitarbeiter einen Bären aufgebunden oder der spielt sein Spiel mit. Egal, wir müssen Schmidt finden. Zwei Möglichkeiten haben wir.“ Marie hob zwei Finger. „Wir befragen seine Ex-Frau oder wir erkundigen uns bei Malte Berger. Da Letzteres heikel ist, weil er als Mittäter infrage kommt, sollten wir es zuerst bei der Ex-Frau versuchen.“
„Einverstanden.“ Torsten nickte. „Du und Jonas, ihr fahrt zu der Frau. Und was Malte Berger betrifft, besorge ich inzwischen auf dem schnellsten Wege einen Durchsuchungsbeschluss für seine Wohnung.“